Joachim Ringelnatz – »Blindschl«

Personen

Joachim Ringelnatz

Wolfgang Haak

Ort

Tautenhain

Thema

Jede Woche ein Gedicht

Autor

Joachim Ringelnatz

Joachim Ringelnatz: Allerdings. Gedichte, Rowohlt Verlag, Berlin 1928.

 

Die Audio­fas­sung liest Wolf­gang Haak.

 

Ich hatte ein­mal eine Lieb­schaft mit
Einer Blind­schlei­che angefangen;
Wir sind ein Stück Leben zusam­men gegangen
Im unglei­chen Schritt und Tritt.

Die Sache war ziem­lich sentimental.
In einem feu­da­len Thü­rin­ger Tal
Fand ich – nein glaubte zu fin­den – einmal
Den leder­nen Hand­griff einer
Damen­hand­ta­sche. Es war aber keiner.

Ich nannte sie »Blind­schi«. Sie nannte mich
Nach weni­gen Tagen schon »Eiche­rich«
Und dann, denn sie war sehr gelehrig,
Ver­ständ­li­cher abge­kürzt »Erich«.

All­mit­tags haben gemein­sam wir
Am glei­chen Tische gegessen,
Sie Regen­wür­mer mit zwei Trop­fen Bier,
Ich totere Delikatessen.

Sie opferte mir ihren zier­li­chen Schwanz.
Ich lehrte sie überwinden
Und Kno­ten schla­gen und Spitzentanz,
Schluck­de­gen und Selbst­bin­der binden.

Sie war so appe­tit­lich und nett.
Sie schlief Nacht über in mei­nem Bett
Als wie ein küh­len­der Schmuck­reif am Hals,
Metal­lisch und doch so schön weichlich.
Und wenn ihr wirk­lich was schlimmstenfalls
Pas­sierte, so war es nie reichlich.

Kein Sexu­el­les und keine Dressur.
Ich war ihr ein Freund und ein Lehrer,
Was kei­ner von mei­nen Bekann­ten erfuhr;
Wer mich besuchte, der sah sie nur
Auf mei­nem Schreib­tisch steif neben der Uhr
Als bron­ze­nen Briefbeschwerer.

Und Jahre ver­gin­gen. Dann schlief ich einmal
Mit Blind­schi und träumte im Betti
(Jetzt werde ich wie­der sentimental)
Gerade, ich äße Spaghetti.

Da kam es, daß irgend­was aus mir pfiff.
Mag sein, daß es fürch­ter­lich krachte.
Fest steht, daß Blind­schi erwachte
Und – sie, die sonst nie­mals nachts muckte –
Wild zün­gelte, daß ich nach ihr griff
Und sie, noch träu­mend, verschluckte.

Es gleich zu sagen: Sie ging nicht tot.
Sie ist mir wie­der entwichen,
Ist in die Wäl­der geschlichen
Und sucht dort ein­sam ihr täg­li­ches Brot.

Vor­bei! Es wäre – ich bin doch nicht blind –
Ver­ge­bens, ihr nachzuschleichen.
Weil ihre Wege zu dun­kel sind.
Weil wir ein­an­der nicht gleichen.

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