Homi K. Bhabha ist einer der führenden Theoretiker des postkolonialen Diskurses. Er lehrt an der Harvard University in Cambridge, wo er das interdisziplinäre Forschungszentrum ›Mahindra Humanities Center‹ leitet. Am 22. April 2018 ist er auf Einladung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Weimar und hält zur Frühjahrstagung der Gesellschaft, die 2018 unter dem Thema »Flucht – Exil – Migration« steht, den Festvortrag zum Thema »On Dignity and Death: The Literature of Survival«.
Aus diesem Anlass möchten wir mit nachstehendem Aufsatz, der sich vor allem mit seinem 1994 erschienenen Buch »The location of culture« befasst, zur Auseinandersetzung mit dem postkolonialen Diskurs, der kulturellen Diversität und dem von Homi Bhabha geprägten Begriff des »dritten Ortes« anregen, mit denen er sich seit vielen Jahren auseinandersetzt.
Für alle, die sich für die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche in Europa und weltweit interessieren, bietet der Vortrag von Homi Bhabha eine einmalige Gelegenheit, das eigene Denken zu erweitern und einen der faszinierendsten Denker der Gegenwart kennenzulernen.
»Jourbon tesstrise.« Das ist nicht der Anfang eines Gedichtes von Tristan Tzara, sondern verlan, die Sprache der Jugendlichen in den Banlieus von Paris und bedeutet »Bonjour tristesse.« Was hat verlan mit dem postkolonialen Diskurs zu tun? Zum einen ist es die Sprache von Jugendlichen, die aus Afrika, aus dem Maghreb aber auch aus verarmten französichen Arbeiterfamilien stammen, zum andern ist verlan eine Sprache, die beispielhaft für die Fragilität von Identität ist, die deutlich macht, was es mit der »Arbitrarietät des Zeichens« bei Homi Bhabha auf sich hat. Denn verlan ist keine Vorortsprache, die – wie man in Paris vorschnell meinte – Integration und Domestizierung bedeutet; verlan ist ein Anagram auf das Wort envers und beruht auf der Verdrehung der Buchstabenanordnung aber auch auf der Erfindung von Wortformen. SNCF, die Initialen der französischen Eisenbahn, lassen sich auf verlan als »savoir niquer comme Fatima« lesen. Verlan ist eine Mischung aus französischem Argot, arabischen, italienischen und schwarz-afrikanischen Begriffen und kann bei Bedarf schnell geändert werden, etwa wenn die Reichen-Leute-Kinder aus den wohlhabenden Vierteln auch anfangen verlan zu sprechen, weil es »chic« ist.
Postkoloniale Studien setzen da an, wo durch ideologische Diskurse der Modernität das Bild einer hegemonischen »Normalität« vermittelt wird. Das postkoloniale Projekt versucht derartige soziale »Krankheitsbilder« zu erforschen, die sich nicht auf Klassengegensätze reduzieren lassen, sondern in einer breiten Streuung geschichtlicher Möglichkeiten bestehen. Um kulturelle Unterschiede aufzuzeigen, reicht es nicht aus, traditionelle Muster mit anderen Inhalten und Symbolen zu versehen, sondern es bedarf vor allem eines anderen gedanklichen Zeitkonzeptes, in dem die entstehenden Geschichten geschrieben werden können. Die Unbestimmtheit der Möglichkeiten zeugt von konfliktiver Produktivität, die ihren Ausdruck in der Arbitrarietät des kulturellen Signifikats findet. Dabei geht es jedoch nicht um die Wechselbeziehung hier Kanon, da Marginalität, sondern um die Idee, dass Kultur immer die unebene, unvollständige Produktion von Bedeutung und Wert ist, die aus dem Akt des sozialen Überlebens resultiert. Kultur als Überlebensstrategie ist transnational und translational. Das heisst nichts anderes, als dass der vereinende, verbindende Begriff der Nation neu gedacht werden muss. Das Aufeinandertreffen und das Verhandeln unterschiedlicher Meinungen und und Werte innerhalb einer »kolonialen Textualität« erhält eine paradigmatische Bedeutung für die westlichen Kulturen der Zukunft. Auf die Bedeutung des Zeichens zurückgreifend, stellt Homi Bhabha in seinem Buch »The location of culture« von 1994 die Frage, wie dessen Dekonstruktion, – die Betonung von Unbestimmtheit in kulturellen und politischen Werturteilen –, unsere Auffassung vom Subjekt der Kultur verändern kann. Nach seiner Ansicht kann dies durch die Infragestellung der »grand narratives« der Literatur des westlichen Kanons geschehen.
Mit der Konstituierung von unterschiedlichen transgressiven Diskursen (Frauen, Schwarze, Homosexuelle) zeigt sich, dass die »Zeichen«, die solche Geschichten und Identitäten konstruieren, nicht nur unterschiedliche Inhalte haben, sondern oft untereinander nicht kompatible Systeme bilden wie bestimmte linguistische Codes. Homi Bhabha verweist auf Stuart Hall, der das linguistische Zeichen metaphorisch als ideologisches Zeichen verwendet. Das ideologische Zeichen ist immer multiakzentuell und kann diskursivisch reartikuliert werden, wobei neue Bedeutungen entstehen, das heisst, das Ideologie immer durch arbiträre, nicht natürliche Schlüsse gekennzeichnet ist. Nach Auffassung Bhabhas wird das Konstrukt der pluralistischen Existenz kultureller Diversität abgelöst durch die Frage nach kultureller Unterschiedlichkeit in Verbindung mit dem Gedanken der Inkomensurabilität – wir können den Anderen nicht vollständig versehen, ein solches Unterfangen würde einer Vereinnahmung gleichkommen.
Kulturelle Unterschiede entstehen in der sozialen Krise, und die Frage nach der Identität stellt sich entweder aus der Position der Marginalität oder sie äußert sich im Versuch, das Zentrum zu erreichen – beide Male »ex-zentrisch«. Für Bhabha wird das Subjekt der Kultur von einem Ansatz der Kultur als Erkenntnistheorie zum Anatz der Kultur als Ausdruck, als Erklärung verlagert, der permanent versucht, die politische Forderung nach kultureller Priorität zu relokalisieren und neu zu schreiben. In dieser Verlagerung sieht Homi Bhabha die Möglichkeit für andere Zeiten (neue Zeiten) kultureller Bedeutung (rückwirkend, vorausdeutend) und andere narrative Räume (trügerische, metaphorische). Anschaulich wird diese Verlagerung an einem seiner Beispiele aus der Musik: Dub, Rap und Scratching sind Ausdruck des offenen Gefühls schwarzer Kollektivität: Es stellt sich die Frage, ob das mit der Offenheit so stimmt, wenn man an z. B. an sprachliche Kodes der Abgrenzung denkt wie das verlan. Gleichzeitig räumt Bhabha jedoch ein, dass das Konzept der »neuen Zeiten« nicht verständlich werden kann, wenn nicht erklärt wird, dass und weshalb die Sprache als Metapher, im Sinne Stuart Halls, einem Paradox unterliegt.
Indem die Sprachmetapher einen Raum eröffnet, wo theoretische Offenlegung dazu benutzt wird, über die Theorie hinauszugehen, argumentiert Bhabha, gibt sich diese »überschreitende Theorie« selbst als plötzliche Bewusstwerdung von Bedeutung (liminal form of signification) zu erkennen, die ihrerseits einen Raum für mögliche, nicht vorherbestimmte Artikulation sozialer Erfahrung schafft, die besonders wichtig für entstehende kulturelle Identitäten ist. Diese Art der Artikulation ist nicht an einen Autor gebunden, sondern vielmehr spiegelt sie soziale Erfahrung als die Möglichkeit von Geschichte wider, wobei der Aspekt des Möglichen Korrekturen zulässt. Bhabha stellt die Überschreitung der Theorie in den Kontext der Überlegungen von Roland Barthes, der sich in »Le plaisir du text« mit dem kulturellen Raum »außerhalb des Satzes« auseinandersetzte. Demnach findet man in der Überschreitung der Teorie nicht nur eine binäre Oposition wie »Theorie – Praxis«, sondern auch ein »außerhalb«, dass die Artikulation dieser zwei Pole in eine produktive Beziehung stellt.
Der Ansatz von Roland Barthes zielt darauf ab, dass die Hierarchie und Subordinierung des Satzes – im Sinne der prädikativen Syntax – durch die Diskontinuität des Textes ersetzt wird. Hier stellt sich die Frage nach der Satztheorie, die Barthes zugrunde legt. In einigen linguistischen Ansätzen geht man nicht vom Satz im Sinne etwa der Dudengrammatik aus, sondern legt diskursive Einheiten zugrunde. Was aus dem entsteht, ist etwas, das Barthes als »writing aloud«, als lautes Schreiben bezeichnet, wozu z. B. Worte, die einem durch den Kopf gehen, Teile von Formeln, Gläserklingen, Stühlerücken, ein sich Räuspern, Sprachen, die sich vermischen, usw. zählen. In bezug auf das »außerhalb« des Satzes sagt Homi Bhabha, dass es sich dabei um ein hybrides Moment handelt, welches halb Erfahrung halb Konzept, teils Traum, teils Analyse, weder Signifikat noch Signifikant ist, das man nicht begreifen kann, wenn man nur das Lehrhafte oder Auslegende daran sucht. Dieser Zwischenraum zwischen Theorie und Praxis bricht mit der disziplinären semiologischen Forderung, um alle Sprachen in Hörweite aufzuzählen. Barthes‹ »Tagtraum« ist ergänzend, nicht alternativ zu verstehen. Das heisst für Bhabha, die performative Struktur des Textes offenbart eine Temporalität des Diskurses, durch die eine narrative Strategie eröffnet wird, die das Auftauchen und die Verhandlung neuer Handlungsträger ermöglicht (Marginalisierte, Minderheiten, Subalterne, Vertriebene), die uns anregen, über die Theorie hinauszudenken.
Um die Idee eines »außerhalb des Satzes« zu veranschaulichen, findet Bhabha die Stadt Tanger, deren sich wiederholende Zeitlichkeit jenseits der westlichen Sprachräume steht und disjunktive sowie inkomensurable Beziehungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit innerhalb des Zeichens versinnbildlicht. Tanger wird zum Zeichen des »Nicht-Satzes«, das auf das »writing aloud« von Barthes verweist. Die Frage nach dem Subjekt des Diskurses, die sich damit verbindet, ist die, ob es ein soziales Subjekt des »Nicht-Satzes« geben kann. Ebenso stellt sich die Frage nach der Möglichkeit eines historischen Handlungsträgers. Der Handlungsträger dieses Diskurses lässt sich in einer Struktur der Bedeutungsverhandlung ausmachen, die nicht als frei treibender Mangel an Zeit sondern als Verzögerung der Zeit, als time-lag, als ein Moment der Möglichkeit – in der Bedeutung eines Schlusses zu verstehen ist. Das heisst nicht, dass es eine strenge Kausalität zwischen Tanger als dem Beginn der Aussage und dem »writing aloud« als einem Ende oder einem Schluss gibt, sondern, dass es kein frei treibendes Bezeichnetes (signifié) oder eine Unbegrenztheit textueller Produktion gibt. Vielmehr existiert die komplexere Möglichkeit, Bedeutung und Handlung durch die Zeitverzögerung innerhalb des Zeichens (Tanger) und der Initiierung eines Diskurses zu verhandeln.
Die Zeitverzögerung eröffnet den Verhandlungsraum zwischen der Fragestellung an das Subjekt und der Wiederholung des Subjekts um das »weder-noch« des dritten Ortes herum. Dadurch konstituiert sich das handelnden Subjekt in seiner Wiederkehr als ein fragender Handlungsträger in einer katachresischen Position, in der er Sprachbilder, Metaphern vermischt. Dieser disjunktive Raum der Temporalität ist der Ort der symbolischen Identifizierung, der den intersubjektiven Bereich strukturiert – den Bereich der Andersartigkeit – wo wir uns mit dem Anderen identifizieren können, und zwar an dem Punkt wo sich der andere als unnachahmlich, als unverwechselbar zeigt. Dieses Moment der Identifikation produziert eine subversive Strategie subalternen Handelns, das zwar eines Fundamentes bedarf, nicht jedoch einer Totalisierung dieser Gründe. Die Individualisierung des Handelnden geschieht im Moment der Verlagerung. Das Moment der Individualisierung des Subjekts entsteht als ein Effekt des Intersubjektiven – in der Rückkehr des Subjekts als Handelnder. Das bedeutet, dass die Teile des sozialen Bewusstseins, die zum Handeln aufrufen, nunmehr außerhalb der Erkenntnis gedacht werden, die ein Subjekt immer als dem Sozialen übergeordnet betrachtet.
Zur Rolle sprachlicher Kommunikation sagt Bhabha unter Verweis auf Michail Bachtin, dass die räumlichen Grenzen des Objekts der Aussage sich der Rede des Anderen annähern, aber die Anspielung auf die Ausage eines Anderen schafft eine dialogische Folge – ein Moment der Unbestimmtheit der Adressiertheit, das innerhalb der Rede Platz schafft, für nicht vermittelte responsive Reaktionen und dialogischen Nachhall. Bestimmte linguistische Ansätze gehen davon aus, dass es so etwas wie einen Monolog nicht gibt, sondern jede Äußerung, auch der »innere Monolog« immer dialogischen Charakter aufweist, also ein Dialog mit sich selbst ist. Für Bachtin bedeutet das, dass sich die Aussage als höchst komplexes und vielschichtiges Phänomen zeigt, wenn man es nicht isoliert und in bezug auf ihren Autor betrachtet, sondern als ein Glied in der Kette der Kommunikation. Homi Bhabha sieht in diesem Kontinuum der Kommunikation eine Landschaft von Echos und ambivalenten Grenzen, durch die der Handelnde, der »nicht mehr im Zustand von Adam ist«, in der sozialen Sphäre des Diskurses auftaucht. Zur Unterstützung seiner Überlegungen zieht Bhabha Hannah Arendt zu Rate.
Nach deren Meinung führt die Unzuverlässigkeit der Zeichen das Element der Perplexität in den sozialen Text ein. Für Arendt ist der unsichtbare Autor eine Erfindung, die aus der mentalen Perplexität entsteht, die zu keiner realen Erfahrung korrespondiert. Durch die Perplexität können wir den Handelnden isolieren, der eine Handlung in Gang setzt und der oft zugleich der Protagonist dieser Handlung ist aber wir können ihn nicht zugleich sicher als den Autor seines Erscheinens, seiner In-Szene-Setzung, erkennen. Diese Struktur intersubjektiven Raumes zwischen Handelnden bezeichnet Arendt als das menschliche Interesse, als Dazwischensein. In diesem sich Entfernen des Bezeichneten (signifié), in diesem Simulacrum, das an die Stelle des Autors rückt, sieht sie einen deutlichen Verweis auf die politische Natur der Geschichte. Wenn Arendt weiter argumentiert, dass die Reifizierung (ein Begriff der weitgehend als Entfremdung bestimmt werden kann) des Handelnden nur durch eine Art Wiederholung geschehen kann, durch die Imitation der Nachahmung, so geht Bhabha nicht mit ihr konform, da ihr Konzept sozialer Mimesis soziale Marginalisierung als Produkt des liberalen Staates nicht beachtet.
Wie schon an anderer Stelle deutlich geworden ist, argumentiert Bhabha, dass ein menschliches Zusammengehörigkeisgefühl, das nicht ohne kulturelle Unterschiede und Diskriminierung gedacht werden kann, sowohl die Kräfte hegemonischer Autorität, als auch Solidarität und subalternes oder minoritäeres Handeln einschließt. Einen Ansatzpunkt für Verhandlungen sieht er in der Handlung, die auf Revision und Neuschreibung der Geschichte zielt: in dem Versuch den »dritten Ort«, den intersubjektiven Bereich, neu zu verhandeln. Der Prozess der Neuschreibung und Neuverhandlung vollzieht sich im zeitlichen Bruch zwischen dem Zeichen, der Subjektivität entäußert, im Bereich des Intersubjektiven. Aus dieser Zeitverzögerung erwächst der Prozess der Handlung als historische Entwicklung und als die narrative Handlung des historischen Diskurses. Moderne und Postmoderne konstituieren sich aus der marginalen Perspektive kultureller Differenz. Homi Bhabha sagt über diesen Prozess:
»They encounter themselves contingently at the point at which the internal difference of their own society is reiterated in terms of the difference of the other, the alterity of the postcolonial site.«
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