Jens Kirsten / Christoph Schmitz-Scholemann (Hg.): »Der Weg entsteht im Gehen – Literarische Texte aus 100 Jahren Thüringen«

Personen

Jens Kirsten

Christoph Schmitz-Scholemann

Ulrich Kaufmann

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Ulrich Kaufmann

Die Rechte liegen beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors

Ulrich Kauf­mann

Zwi­schen Gebor­gen­heit und Mief

 

In dem Titel sei­nes Bei­tra­ges zu dem hier vor­ge­stell­ten Thü­rin­gen-Lese­buch bringt der in Sach­sen gebür­tige Sati­ri­ker Mathias Bis­ku­pek – der im Okto­ber sei­nen 70. Geburts­tag begeht – sein ambi­va­len­tes Ver­hält­nis zu Thü­rin­gen auf den Punkt: Gebor­gen­heit nimmt er war und Mief. Das neue Buch steht wie ein Zwil­lings­bru­der neben der »Thü­rin­ger Antho­lo­gie« von 2018. Der erste Band ist jedoch viel sau­be­rer, fes­ter, gebunden…

100 Jahre Thü­rin­ger Ver­fas­sung boten den Her­aus­ge­bern Anlass, knapp acht­zig Stim­men zu ver­schie­de­nen Etap­pen der jün­ge­ren thü­rin­gi­schen Geschichte zu ver­sam­meln. Am Beginn steht ein tage­buch­ar­ti­ger Text der »Muse« Anna Mah­ler-Wer­fel. Sie berich­tet vom Kapp-Putsch in Wei­mar. Bei Wal­ter Gro­pius woh­nend, ist sie in Gedan­ken meist in Wien, bei Franz Wer­fel, ihrem nächs­ten Ehe­mann. Der Band endet mit einem Bekennt­nis des »zuge­reis­ten« Juris­ten und Schrift­stel­lers Chris­toph Schmitz-Schole­mann: »Ich bleibe in Wei­mar«. Es ver­wun­dert nicht, dass die Kul­tur­städte Erfurt, Gotha, Jena und selbst­re­dend Wei­mar hier mit etli­chen Bei­trä­gen bedacht wer­den. Armin Mül­ler und Jan Vol­ker Röh­nert bege­ben sich hin­ge­gen in die Pro­vinz, beschrei­ben ihre Hei­mat­dör­fer. Letz­te­rer kri­ti­siert in sei­ner Betrach­tung »Mein Schwarz­storch­dorf« scharf Pläne der Grü­nen, auch Wäl­der mit gewal­ti­gen Wind­kraft­an­la­gen zu ver­spar­geln. Ein Glanz­stück kur­zer Prosa lie­fert der lite­ra­ri­sche Wan­de­rer Wulf Kirs­ten, der die Dör­fer um Voll­rad­is­roda erkun­det. Mehr­fach zog sich der Nes­tor der Thü­rin­ger Dich­ter in Voll­rad­is­roda zur Schreib­klau­sur zurück. Auch das idyl­li­sche Tau­ten­burg, das in der Ein­lei­tung mit Tau­ten­hain ver­wech­selt wird, kommt in den Erin­ne­ru­gen von James Krüss zu Ehren.

Die Her­aus­ge­ber Jens Kirs­ten und Chris­toph Schmitz-Schole­mann beschränk­ten sich bei ihrer Aus­wahl nicht allein auf »schön­geis­tige«, lite­ra­ri­sche Texte.

Auch ein Brief an Hein­rich Himm­ler – das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger betref­fend – sowie das von Ewald Hebe­streit erstellte Doku­ment »Sechs Jahre Toten­chro­nik von Sowje­top­fern in Wei­mar« sind zur Kennt­nis zu neh­men. Ins­ge­samt domi­nie­ren den Band erzäh­lende und essay­is­ti­sche Texte. Nur Jür­gen Fuchs kommt mit dem Gedicht »Frei­stunde« zu Wort, in dem er seine Erleb­nisse im Stas­ik­nast festhält.

Auch wenn man auf »Klas­si­ker« wie Wal­ter Ben­ja­mins Beschrei­bung von Goe­thes Arbeits­zim­mer (1928), Tho­mas Manns »Meine Goe­the­reise«, Tuchol­skys »Hit­ler und Goe­the. Ein Schul­auf­satz« und einen Aus­zug aus dem berühm­ten Roman von Bruno Apitz nur ver­weist, ist der Reich­tum des Lese­bu­ches nur unge­nü­gend angedeutet.

Wer auf knap­pem Raum eine umfang­rei­che Samm­lung bespricht, hat all jene gegen sich, die er nicht erwähnt. Lesens­wert sind buch­stäb­lich alle Bei­träge. Ein­ge­prägt hat sich unter ande­rem Die­ter Bor­kow­skis »Besuch bei Tho­mas Mann«. Der Nobel­preis­trä­ger wohnte 1955, anläss­lich sei­ner Schil­ler-Rede und sei­ner 22. Ehren­pro­mo­tion, im Hotel am Wei­ma­rer Bahn­hof. Kul­tur­mi­nis­ter Becher und die Prä­si­den­tin des Schrift­stel­ler­ver­ban­des Anns Seg­hers logier­ten hin­ge­gen im Hotel »Ele­fant«, in jenem Hause, das Tho­mas Mann in dem Roman »Lotte in Wei­mar« welt­be­rühmt gemacht hatte.

In dem Essay »Wolfs­er­war­tungs­land« schil­dert die in Jena gebo­rene Antje Baben­der­erde die Ent­ste­hung ihres Romans »Ise­grim«. Die­sen schrieb sie, als Thü­rin­gen zwar einen Wolfs­be­auf­trag­ten, aber noch kei­nen Wolf hatte. Holm Kirs­ten steu­erte die Schil­de­rung einer »Deutsch-Deut­sche Begeg­nung« bei. Diese, 2011 erst­mals gedruckte Erin­ne­rung hält sehr genau und unter­halt­sam fest, wie sich Jugend­li­che vor 1989 im – intern so genann­ten –Wei­ma­rer Café »KoKa« annäherten.

Ein Schman­kerl ist der Text »Leere Fülle«. In ihm schil­dert Inge­borg Stein, wie sie Pro­fes­sor Kurt Hager durch die neue, von ihr kura­tierte Hein­rich-Schütz-Aus­stel­lung in Bad Kös­tritz geführt hat. Das Pro­blem war, dass der Chef­ideo­loge zu früh kam und die Muse­ums­lei­te­rin den Gast durch ein akri­bisch vor­be­rei­te­tes, aber noch lee­res Haus füh­ren musste. Lei­der erfährt der Leser nicht, wie das Polit­bü­ro­mit­glied auf diese Beson­der­heit reagiert hat…

 

  • Der Weg ent­steht im Gehen – Lite­ra­ri­sche Texte aus 100 Jah­ren Thü­rin­gen. Hg. von Jens Kirs­ten und Chris­toph Schmitz-Schole­mann, Wei­ma­rer Ver­lags­ge­sell­schaft in der Ver­lags­haus Römer­weg GmbH, Wies­ba­den 2020, 391 Seiten.
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