Jens-Fietje Dwars – »Herzkammer. Verwaist.«

Person

Jens-Fietje Dwars

Ort

Jena

Thema

Dichters Wort an Dichters Ort

Autor

Jens-Fietje Dwars

Reihe »Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.

Es gab einen Ort der Zuflucht. Wenn das Fließ­band der Auto­mo­bile an einem die­ser Som­mer­tage das Wech­seln von einer Seite der Schil­ler­straße auf die andere zum Wag­nis machte, wenn sich der Lärm und die Abgase zur Dunst­glo­cke meng­ten, die den Atem sto­cken ließ, dann gab es diese Mög­lich­keit, inmit­ten der Stadt ihr selbst zu ent­kom­men. Durch einen unschein­ba­ren Tor­bo­gen, bewehrt von schmie­dei­ser­nem Git­ter, das nur sonn­tags ver­schlos­sen war, gelangte und gelangt man noch immer in einen Hof hin­ein. In den Kol­le­gi­en­hof, benannt nach dem Col­le­gium Jenense, der Keim­zelle der Jenaer Universität.

Ein wind­schie­fes Hexen­haus mit Glo­cken­turm taucht auf, sobald man ein Kreuz­ge­wölbe wie einen Tun­nel durch­schrit­ten hat. Letzte Erin­ne­rung an das Domi­ni­ka­ner­klos­ter »St. Maria und St. Paul«, das hier im Wein­bau­ern­städt­chen Jene 1286 gegrün­det wurde, und bis 1858 Haupt­ge­bäude der Lehr­an­stalt. Als Johann Fried­rich I. im Schmal­kal­di­schen Krieg 1547 die Kur­würde und Wit­ten­berg ver­lor, wählte er Wei­mar zur neuen Resi­denz, wäh­rend das Klos­ter seit 1548 seine »Hohe Schule« barg. 171 Stu­den­ten schrie­ben sich im ers­ten Jahr ein, 1.500 folg­ten im nächs­ten Jahr­zehnt, hun­dert Jahre spä­ter lebte bereits ein Sechs­tel der Bür­ger von den Stu­diosi und um 1700 war das Nest mit jähr­lich 1.000 Stu­den­ten bei nur 4.000 Ein­woh­nern die meist­be­suchte Uni­ver­si­täts­stadt Deutsch­lands. Eins zu vier, heute gilt die Rela­tion wie­der, nur auf das Fünf­und­zwan­zig­fa­che ange­wach­sen. Eine Stadt der Jugend und der Tech­nik, was die Miet­preise in die Höhe treibt.

Pots­dam, den Speck­gür­tel von Ber­lin, haben wir schon über­holt, ver­kün­den die Stadt­füh­rer, wenn sie Tou­ris­ten durch das Tor schleu­sen und auf den Hof mit sei­nem katz­buck­li­gen Pflas­ter wei­sen. Über diese Steine sind sie alle gestol­pert, sagen sie, die gro­ßen Geis­ter, und die Besu­cher lau­schen, lächelnd, den ehr­furcht­hei­schen­den Namen: Luthers Inti­mus Phil­ipp Melan­chthon, Kas­par Stie­ler, Dich­ter der »Gehar­nisch­ten Venus« und Uni­ver­si­täts­se­kre­ta­rius von 1678 bis 1680, der Geschichts­pro­fes­sor Schil­ler, Höl­der­lin, zag­haft in sei­nem Gefolge, Fichte, 1799 als Athe­ist ver­jagt, die Brü­der Schle­gel, die im Hin­ter­haus der Leu­tra­straße 5, einen Stein­wurf ent­fernt, im glei­chen Jahr die Kom­mune eins der deut­schen Intel­lek­tu­el­len betrie­ben, und Goe­the natür­lich, die graue Emi­nenz der Salana.

Sta­pel­stadt des Wis­sens und der Wis­sen­schaf­ten habe der Geheim­rat das när­ri­sche Nest genannt, sagen sie und wer­fen ihre Ket­ten müh­sam gelern­ter Namen und Zah­len wie Seile über die Lau­schen­den, die kei­nes der Worte behal­ten. Einer steht abseits, sieht den Brun­nen, benetzt seine Fin­ger mit dem küh­len­den Nass und hebt den Blick auf eine efeu­über­wu­cherte Wand. Das, hört er den Sing­sang des Stadt­füh­rers wie­der ein­set­zen, war der Trep­pen­turm der Kol­le­gi­en­kir­che, die am 19. März 1945 den Bom­ben zum Opfer fiel. Sehen wir, was wir wis­sen? Die Augen wan­dern empor, ein Relief erscheint, ein Mann, ein Weib, unbe­klei­det, nur Scham und Haupt von Blät­ter­ran­ken umhüllt, das Paar im Natur­zu­stand, Adam und Eva, mit Keu­len bewaff­net. Dazwi­schen das Staats­wap­pen der Ernes­ti­ner, deren Beam­ten die Hohe Schule aus­bil­den sollte: Juris­ten, Leh­rer, Geist­li­che. Anno Domini MDLVII, das Aushänge­schild einer Kader­schmiede der Renais­sance, befes­tigt im Jahr ihrer kai­ser­li­chen Erhe­bung in den Rang einer Uni­ver­si­tät. Deren Sie­gel zeigt Johann Fried­rich I. im Gewand eines Kur­fürs­ten, der er doch längst nicht mehr war, mit auf­ge­rich­te­tem Schwert, als wolle er sie zurück erobern, die ver­lo­rene Würde. Einst Anfüh­rer der pro­tes­tan­ti­schen Par­tei, fünf Jahre lang der Gefan­gene des Kai­sers. 1554, zwei Som­mer nach sei­ner Ent­las­sung, starb er, mit nur 51 Jah­ren. Die Grün­dung der Schule war eine Kampf­an­sage, ihre Aner­ken­nung als Uni­ver­si­tät ein Sieg der Diplo­ma­tie. Denn nichts Gerin­ge­res sollte sie sein, als die Grals­stätte des wah­ren, des Luthe­ri­schen Glau­bens. Ihre eigent­li­che Grün­dungs­ur­kunde: eine acht­bän­dige Aus­gabe der Werke Mar­tin Luthers. Wis­sen ist Macht. Oder doch nur der Aus­druck rea­ler Ohn­macht? Wis­sen wir, was wir sehen?

Ach Stadt­füh­rer, zu wel­chen Fra­gen ver­führst Du uns? Weißt Du nichts Bes­se­res zu erzäh­len, nichts Sehens­wür­di­ges zu zei­gen? Etwas, das uns auf­baut, uns erhei­tert? Bring sie in den Kar­zer. Man nickt, man raunt in Vor­freude auf ein dunk­les Ver­ließ. Hotel zur aka­de­mi­schen Frei­heit nann­ten die Stu­den­ten das Gefäng­nis neben dem Senats­raum in dem wind­schie­fen Haus mit dem Glo­cken­turm, wo die Wäch­ter ihnen gegen ein klei­nes Ent­geld Bier und Tabak brach­ten. Auf sorg­sam arran­gier­ten Bil­dern, auch das ein will­kom­me­ner Neben­ver­dienst für aus­er­wählte Pho­to­gra­phen, prä­sen­tier­ten sie sich seit 1859 im vol­len Wichs der Burschen­schaften, trinkse­lig kar­ten­spie­lend, stolz dar­auf, über die Strenge zu schla­gen, und doch bie­der, brav, den Ver­hält­nis­sen ange­passt: Deutsch­lands kom­mende Elite. Ihre Bot­schaf­ten – Fecht‑, Kneip- und Lie­besze­nen – schmü­cken noch immer die Wände, kün­den von den Riten der Räu­cher­höh­len­be­woh­ner. Doch lei­der: um die Graf­fi­tis künf­ti­gen Genera­tio­nen zu erhal­ten, blei­ben sie den heu­ti­gen ver­sperrt, zumin­dest tou­ris­ti­schen Wanderhorden.

Und so zie­hen sie davon, die Gruppe und ihr Stadt­füh­rer, der sie an den nächs­ten Ort gelei­tet, zum Ana­to­mie­t­urm an der Stadt­mauer, wo Goe­the mit Loder ins Innere des Men­schen drang, in Schil­lers Gar­ten oder ins Roman­tik­er­haus. Auch mich hält die­ser Hof nicht län­ger, der doch ein­mal meine Zuflucht war. Erst im Hin­aus­ge­hen, bei einer letz­ten Wen­dung, wie um Abschied zu neh­men, sehe ich, was mir fehlt: eine Linde, die so alt schien, wie die Hohe Schule selbst. Zwei Mann waren nötig, den kräf­ti­gen Stamm zu umfas­sen, den die Last der Zei­ten mehr und mehr zur Seite bog, ein äch­zen­der Greis, der sich doch in jedem Früh­jahr ver­jüngte und von Mal zu Mal ein immer grö­ße­res Dach zau­berte, eine grün schim­mernde Gold­krone, unter der Platz zu neh­men und für einen Augen­blick zu ruhen eine Bank rings um dem Baum ein­lud. Wenn im Som­mer die Glut­hitze der Hunds­tage ins Saa­le­tal zog, wo seit drei­ßig Jah­ren wie­der Wein an den Kalk­hän­gen reift, und die Sonne sich an den wei­ßen Wän­den der Zeiss-Werke brach, dann war dies der ein­zige Ort in der hek­tisch flo­rie­ren­den Stadt, der Rast bot.

Hier konn­test Du auf­at­men. Im Schat­ten der Linde, in deren Blät­ter­spiel sich das Licht flir­rend brach und die Welt da drau­ßen, kaum noch ver­nehm­bar, in einer merk­wür­di­gen Stille ver­sank. Zumal, wenn es Juli war und der Baum in der Pracht sei­ner Blü­ten stand. Ein betö­ren­der Duft umfing Dich, honig­süß und zugleich gewürzt mit der Bit­ter­nis des Hol­zes, und die­ser Duft ver­schmolz mit dem Sur­ren Aber­tau­sen­der Insek­ten, die Du erst jetzt im genaue­ren Hin­schauen wie win­zige Fische im Meer der Blät­ter auf- und abtau­chen sahst. Und Dir selbst war es, als wür­dest Du schwim­men, schwe­re­los schwe­ben in einem Fluss, den wir Zeit nen­nen und der für die­sen Augen­blick still­zu­ste­hen scheint, bis er zum Raum wird, der uns umgreift, uns das Gefühl gibt, mit allem ver­wo­ben zu sein. Wir haben nur eine kurze und zudem allzu oft benutzte For­mel für diese sel­te­nen Augen­bli­cke der Über­ein­stim­mung mit allen Din­gen, die zu ver­wand­ten Wesen wer­den. Es heißt Glück und ist der Zwil­ling eines nicht min­der oft miss­brauch­ten Wor­tes: der Frei­heit, die im Ver­trauen auf jene ver­bor­gene Ein­heit alles Leben­di­gen wurzelt.

Die alte Linde war gleich­sam das Herz der Stadt. Als ich spä­ter erfuhr, das sie erst 1839 für Hein­rich Karl Eich­städt gepflanzt wurde, den Pro­fes­sor der Poe­sie und Bered­sam­keit, der 1803 in Goe­thes Auf­trag die Jenai­sche All­ge­meine Lite­ra­tur­zei­tung schuf, schwand ihre Größe nicht. Wer immer den Schöss­ling der Erde anver­traut hatte, ob ein unbe­kann­ter Stu­dent oder Luther höchst­per­sön­lich, das war nicht ent­schei­dend. Per­sona heißt Maske und der Rei­gen his­to­ri­scher Per­sön­lich­kei­ten, deren Namen als Schall und Rauch durch die Kam­mern der Geschichte wehen, gibt sich über alle Zei­ten hin­weg als ein Zug von Mas­ken zu erken­nen, in denen das Leben mit sich sel­ber spielt.

Viel­leicht war er die­ser Spiele müde, der Baum, der sich immer mehr zu nei­gen begann, bis er vor sechs oder sie­ben Jah­ren in einer Gewit­ter­nacht zer­barst. Nun steht ein klei­nes dür­res Bäum­chen an sei­ner Stelle, das sich so allein, von einer allzu wuch­ti­gen Bank umge­ben, zu ängs­ti­gen scheint. Aber in 150 Jah­ren wird auch diese Linde wie­der den Hof mit ihrer Krone in ein Refu­gium des Leben­di­gen ver­wan­deln. Dann wer­den sich erneut aus den Mün­dern der Stadt­füh­rer Kas­ka­den von Namen auf eilige Besu­cher ergie­ßen. Und viel­leicht wer­den andere hier für einen Augen­blick Zuflucht fin­den. Wie mögen sie unse­rer gedenken?

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