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Dietmar Jacobsen
Erstdruck in: Palmbaum 2/2020. Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Dietmar Jacobsen
Lesen war Widerstand
Lesen in der DDR war Widerstand. Widerstand gegen die systemkonforme Literatur, indem man sie ignorierte. Widerstand gegen die allgegenwärtige Bevormundung, indem man vor allem das las, was von den staatlich bestellten Literaturwächtern beanstandet wurde. Widerstand gegen die Informationspolitik der Medien, indem man seine Informationen über die Welt, in der man lebte, aus den Büchern von Christa Wolf, Christoph Hein oder Volker Braun bezog. Gewaltfreier Widerstand in der Regel, denn Lesen geschieht ja immer im Stillen. Widerstand aber auch, der hinter Gittern enden konnte.
Norbert Paulini, zentrale Figur in Ingo Schulzes Roman Die rechtschaffenen Mörder, ist so ein Widerständler. Aus dem von seiner Mutter übernommenen Antiquariat im Dresdener Stadtteil Blasewitz macht er einen Ort der Dissidenz. Hierher kommt man aus der ganzen Republik, denn es hat sich schnell herumgesprochen, dass in der alten Villa Bücherschätze zu heben sind, wie sie Lesehungrige sonst nirgends
finden. Und hat man die Sandstein- stufen des prächtigen Baues in der Brucknerstraße erst einmal hinter sich gebracht, ist kein Halten mehr: »Auf Leitern erklommen sie die Höhen der obersten Regalreihen, lasen auf den Sprossen ganze Kapitel, bevor sie wieder hinabstiegen, um auf Knien […] die Buchrücken im untersten Fach zu inspizieren.«
Paulini lebt in, mit und für die Literatur. Auf seinen Spaziergängen elbaufwärts zitiert er lauthals Benn-Gedichte. Geht es am Abend zurück Richtung Sonnenuntergang, fällt ihm Heinz Czechowskis Vers »sanft gehen wie Tiere die Berge neben dem Fluss« ein. Und in den Räumen seines Antiquariats präsentiert er wie seltene Trophäen die Werke von Proust und Joyce, Döblin und Benn, Malaparte und Robert Walser – alles »Bückware« im Volksbuchhandel der DDR.
Das geht so, bis der Herbst des Jahres 1989 nicht nur landauf, landab gewaltige Veränderungen bringt, sondern auch die aus Büchern gebaute Realität Paulinis kräftig durcheinanderschüttelt. Denn plötzlich scheint sich niemand mehr für literarische Abenteuer zu interessieren, des Antiquars bessere Hälfte entpuppt sich als inoffizielle Stasi-Mitarbeiterin und die ehemaligen Besitzer der »Villa Kate«, in der das Antiquariat untergebracht ist, pochen auf die Rückgabe der Immobilie. Mit anderen Worten:
So wie es in den DDR-Jahren mit Schulzes Held stetig bergauf gegangen ist, schlägt sein Lebensweg nach der Wende plötzlich die umgekehrte Richtung ein.
Wie alles endet mit diesem Norbert Paulini, erfährt der Leser schließlich in den kürzeren und jeweils aus einer anderen Ich-Perspektive erzählten Teilen zwei und drei des Romans – der gut zwei Drittel des Buches umfassende erste Teil besitzt hingegen einen textexter- nen, auktorialen Erzähler. Teilt sich zunächst eine Figur mit, hinter der man den Autor der Lebensgeschichte Paulinis vermuten darf, wie der erste Buchteil sie präsentierte, wird schließlich aus der Perspektive der westdeutschen Lektorin jenes Mannes namens Schultze (!) erzählt, der möglicherweise auch der Mörder des am Ende seines Lebens nach rechts abdriftenden Ex-Antiquars ist.
Die rechtschaffenen Mörder beginnt in einem harmlosen, aber wunderbar zu lesenden Legendenton und endet mit einer Reihe von Fragen, die Schulze und seine Figuren an unsere Zeit stellen. Wie konnte es passieren, dass ein aufrechter literarischer Widerständler, nachdem ihm die Wendezeit kom- plett den Boden unter den Füßen weggerissen hatte, zum rechte Parolen verbreitenden Reaktionär wurde? Sind die so genannten »Büchermenschen« nicht von vornherein zu verschroben und in ihre eigenen Welten versponnen, um sich nebenbei noch um den Lauf ihrer Gegenwart zu kümmern? Und war die DDR für etliche ihrer Bürger tatsächlich jene idyllische Nische, als die sie offensichtlich jene empfanden, die der Antiquar Norbert Paulini in seiner Bücherhöhle um sich versammelte?
Es dürfte etliche Leser geben, die die Brüche in Ingo Schulzes fünftem Roman mehr verwirrend als erhellend finden. Die Erklärungen dazu vermissen, warum der alte Paulini plötzlich als Feind alles Fremden auftritt und am Ende gar zerschmettert am Fuße der Goldsteinaussicht im Elbsandsteingebirge liegt, hinabgestoßen oder verunfallt. Die sich an der Architektonik dieses aus drei disparaten Teilen zusammengefügten Ganzen stoßen. Teilen dürften aber auch sie den Gedanken, den der Autor seinem Buch mitgegeben hat hinaus in die Welt: »Vor allem aber wollte ich auch eine Liebeserklärung an das Papierbuch schreiben. Gerade durch Literatur können wir besser erkennen, in welchher Zeit wir leben.«
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