Weimar und die »Weimarer Republik« – ein literarischer Streifzug
10 : Heinrich Wiegand – »Vivat Academiai. Ein Reisebericht«

Person

Johann Wolfgang von Goethe

Orte

Weimar

Goethe-Nationalmuseum und Goethe-Wohnhaus

Rudolstadt

Bad Blankenburg

Schwarzburg

Thema

Thüringen im literarischen Spiegel

Autor

Heinrich Wiegand

Heinrich Wiegand. Am schmalen Rande eines wüsten Abgrunds. Gesammelte Publizistik 1924-1933, Hg. Klaus Pezold, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2012, S. 130-134.

Am Mitt­woch nach Pfings­ten fuh­ren wir nach Thü­rin­gen. Wir wa­ren vier, zwei Män­ner und zwei Frauen in mitt­le­ren Jah­ren. Wan­dern woll­ten wir, in stil­len Orten schla­fen, wo es noch Nacht­ruhe und Nacht­dun­kel­heit gibt. Denn in der Groß­stadt, und dies ist viel­leicht ihr ver­derb­lichs­ter Teil, sind Tag und Nacht nicht mehr rein­lich geschieden.

Wir began­nen in Wei­mar, sahen eine wun­der­volle Eva von Rodin, saßen vor einem klei­nen Café sehr nett auf der Straße, freu­ten uns an schö­nen Gemäl­den und stan­den in Goe­thes geräu­mi­gem Haus. Notier­ten auch einen zah­len­mä­ßig her­vor­tre­ten­den Typ der Wei­ma­rer Bevöl­ke­rung, schwarz­ge­klei­dete Damen mit hohen Dutts und erns­ten gekränk­ten Schu­hen, wun­der­volle Vogel­scheu­chen­we­sen, und hof­rät­li­che klapp­rige Her­ren mit Hin­den­burg­bär­ten. Und dazwi­schen fie­len uns viel ältere Män­ner auf, die Glatze bedeckt mit Schü­ler­mütz­chen, den statt­li­chen Bauch über­spannt mit einem Cou­leur­band. Neben die­sen auf Bubi arran­gier­ten Grei­sen schrit­ten schü­ler­hafte Figu­ren mit grei­sen­haf­ten Allü­ren, ebenso bunt ver­ziert und mit Gesich­tern, die als Hacke­klötze ge­dient zu haben schie­nen, mit Gesich­tern, von denen meine herz­hafte Freun­din Thea gesagt hätte, daß sie sich, trüge sie das in der Hose, schä­men würde, damit auf die Toi­lette zu gehen. Kurz, es ent­stand der Ver­dacht, daß sich hier am Ort etwas Aka­de­misch-Kor­po­ra­ti­ves tun würde. Es beun­ru­higte uns nicht wei­ter, denn wir woll­ten ohne­hin nicht in Wei­mar bleiben.

Abends, in der ach­ten Stunde, ent­stie­gen wir in Rudol­stadt dem Post­auto. Fah­nen, Fah­nen über­all. Lan­des­far­ben, Fah­nen in vie­len ande­ren Far­ben, noch mehr schwarz­weiß­rote Fah­nen – nir­gends die Far­ben des Deut­schen Reichs. Leichte Übel­keit stieg in uns hoch. War es mög­lich, hier zu über­nach­ten? Was war hier los? Die Ant­wort kam gröh­lend die Straße her­auf­ge­tor­kelt. Je zwei Bunt­be­mützte führ­ten einen in der Mitte, der allein nicht mehr gehen konnte. Ein Wagen rat­terte vor­bei, eine Art Gemü­se­kar­ren, ein Stu­dent fuhr und andere lagen in einem schrei­en­den Knäuel im »Fond«. Vivat academia!

Unser Ent­schluß war ohne Worte ein­mü­tig gefaßt. Einer Pro­vokation durch die Betrun­ke­nen war kaum aus­zu­wei­chen, unsre Über­reizt­heit durch den gars­ti­gen Anblick kaum zu ver­ber­gen – also woll­ten wir ver­su­chen, wei­ter­zu­kom­men. Doch bis zur Ab­fahrt des Zuges nach einem klei­nen, von Stu­den­ten ver­schon­ten Nest blieb eine reich­li­che Stunde Zeit. In der Ecke eines Garten­etablissements zog als eine Revue an uns vor­über, was die Ver­bin­dun­gen die Erzie­hung zur Kor­rekt­heit in allen Lebens­la­gen nen­nen. Ab und zu sackte ein Besof­fe­ner zusam­men und wurde weg­ge­bracht. Soviel ver­kotzte Gesich­ter auf einem Hau­fen habe ich sel­ten gese­hen. Man­cher alte Herr zog sich ängst­lich zurück, wenn sich ein all­zu­voll Gela­de­ner zu einer Gruppe stellte. Einen sah ich, dem war sicht­lich mords­übel, den­noch aß er, in der lin­ken Hand Gla­cés und Gabel gekrampft, unter Auf­sto­ßen und stieren­den Pau­sen. Dann trat er an einen Tisch, um von neuem zu trin­ken. Kleine Pro­le­ta­rier­jun­gen offe­rier­ten den lei­den­den Jüng­lin­gen einen Hand­kar­ren. Stu­den­ten leg­ten sich dar­auf, gaben den Jun­gen einen Gro­schen, schwenk­ten die Mütze und lie­ßen sich herumfah­ren. O wel­che Lust, Stu­dent zu sein!

Mit­ten­drin saßen ein­hei­mi­sche Klein­bür­ger, geschwol­len, halb geschmei­chelt und halb gön­ner­haft. Hät­ten sich betrun­kene Ar­beiter auf dem Kar­ren gesielt, die dicken Hand­werks­meis­ter hät­ten sie ver­ach­tet und geschmäht. Vor den grü­nen Bur­schen, die ih­nen mit Hacken­zu­sam­men­schla­gen und Ellen­bo­gen­win­keln beim Zutrin­ken impo­nier­ten, duck­ten sie ser­vil. Und ihre Töch­ter stan­den für die bil­lige Lie­bes­schwär­me­rei der Bier­se­li­gen bereit. Wenn ihnen beim Kom­mers und Ball ein Cou­leur­band über den Busen gezo­gen wird, sieht nicht nur ihr Auge den Him­mel offen, son­dern ihre ganze ver­mot­tete Gemüts­welt. Das ist auch ein Erzjam­mer des deut­schen Klein­stadt­spie­ßers: seine Anbe­tung des Cou­leur­stu­den­ten, seine hün­di­sche Krie­che­rei vor einem auf­ge­bla­se­nen Dün­kel. Daher die Sehn­sucht sei­ner Söhne und Töch­ter nach der Teil­nahme an die­ser hoh­len After­ro­man­tik des ewi­gen Bru­ders Studio.

Woher käme es sonst, daß soviel arme Schlu­cker an den Verbin­dungen kle­ben, die sich das Geld zu Hause am Munde abspa­ren, das sie auf der Kneipe in den Wirts­schlund ste­cken? Wir sahen es vie­len Depu­tier­ten deut­lich genug an, wie wenig sie im Wohl­stand leben. Die Pike­schen fle­ckig und unpas­send, aus bil­li­gem Stoff – hin­ein­ge­borgt lie­fen sie ohne Schneid darin umher, klägli­che Gestal­ten. Ich hatte von unserm Tisch, von dem etli­che aufbra­chen, als wir uns setz­ten, drei Glä­ser mit Bier­res­ten auf den lee­ren Nach­bar­tisch gesetzt. Nach einer Weile ließ sich einer da nie­der und trank vom Glase, das am meis­ten gefüllt war.

Wie nannte sich das Kin­der­fest, das hier die Kas­ta­ni­en­blü­ten und den som­mer­li­chen Abend und jeden fri­schen Atem­zug und Trunk mit sei­ner Kater­at­mo­sphäre ver­darb? Einer von den all­zu­vie­len S.C.s tagte, man hätte wis­sen sol­len, daß Pfings­ten die De­putationen aller mög­li­chen stu­den­ti­schen Bünde und Vereinigun­gen Thü­rin­gen ver­schan­deln. Aus Zei­tungs­be­rich­ten, die in ihrer ver­lo­ge­nen Phra­sen­blüte so lächer­lich wie trau­rig waren, erfuh­ren wir dann u.a. von Fackel­zü­gen für die Gefal­le­nen, die man anschei­nend mit Sauf­fahr­ten zu ehren meint, und von Fest­bier­re­den eines Ehren­grei­ses, des Inhalts, daß wir den Fein­den ein Den­noch entge­genrufen, daß der deut­sche Gedanke nicht ster­ben könne, der Tag der Tage kom­men und der XYZ-Kon­vent die Kul­tur und die Sache schon schmei­ßen werde. Hin­ter­her haben sie gesun­gen: »Deutsch­land über alles«, und damit war der Kul­tur­bei­trag getä­tigt. Ein­falt und Hohl­kopf hal­ten uns zusam­men. Lieb Vater­land, magst ruhig sein, fest hebt und treu der Farb­stu­dent sein Bein.

Wir flo­hen, der Mond stand voll und zau­ber­haft wie in einer Land­schaft von Corot, die Saale schim­merte vom gol­de­nen Re­flex sei­ner Strah­len, hohe Erlen besänf­tig­ten unser Gemüt. Als ich nachts im Dorf­gast­hof erwachte, hörte ich nur wackere Hunde bel­len und echte Hähne krä­hen und nicht jene, die in mensch­li­cher Gestalt in Rudol­stadt lärmten.

Am Mor­gen erquick­ten uns Anmut des Tales und Üppig­keit der Apfel­blü­ten, bis wir Blan­ken­burg betra­ten. Hilf Him­mel, wie­der ein Wald von Fah­nen, schwarz­weiß­rote voran. Wie­der spa­zier­ten men­schen­ähn­li­che Gockel durch die Stra­ßen, um handschuhwe­delnde Besu­che bei den Töch­tern des Lan­des abzu­stat­ten. Wie­der eine Inva­sion von alten und jun­gen Aka­de­mi­kern und das ganze Dorf ver­hunzt durch den prot­zi­gen Begrü­ßungs-Auf­putz. An einer Villa hing rie­sen­groß die deut­sche Kriegs­flagge. Mehr brauch­ten wir nicht zu wis­sen, mehr woll­ten wir nicht wis­sen. Auch für die armen Irren zu beten, wäre unnütz gewe­sen, denn gegen Dumm­heit kämp­fen bekannt­lich Göt­ter selbst vergebens.

Im Tal ent­lang, beschat­tet von Fich­ten, über die Höhen im Son­nenbrand, von Gewit­tern über­fal­len, bei man­cher guten Rast, von fet­ten Feu­er­sa­la­man­dern präch­tig unter­hal­ten, ver­gin­gen positi­ve Stun­den. Am zei­ti­gen Nach­mit­tag stieg aus den Wäl­dern das Schwarz­bur­ger Schloß, und wir freu­ten uns auf Quar­tier, Essen, Trin­ken und viel schöne freie geruh­same Zeit.

Aber wir tra­fen auf Fah­nen, Fah­nen über­all. Lan­des­far­ben und Schwarz­weiß­rot und unbe­kannte – doch nir­gends eine Fahne der Repu­blik. Die Häu­ser ver­klebt mit Putz, jedes Fens­ter und Ge­sicht ein süß­li­cher oder geschäfts­tüch­ti­ger Stu­den­ten­will­komm. Ja, hier sei ein gro­ßes Tref­fen vie­ler Ver­bin­dun­gen, aller zwei Jahre finde das in Schwarz­burg statt. Eben sam­mel­ten sie sich, um hin­auf zum Schloß zu zie­hen, etwas vor dem Fürs­ten zu machen. Sie seien schön die ganze Woche da. So sagte uns eine Ver­mie­te­rin. Und schön zog das tote Heer auf, mit Clownk­äp­pis, mit Raupen­hauben, mit Topf­stür­mern und Tel­ler­müt­zen. Die Ver­eins­fah­nen mutig ent­rollt, ein gefes­sel­tes Bock­bier­fest. Ein Affen­thea­ter, das in keine Zeit schlech­ter paßt als in die unsre, das ver­bies­terte Be­kenntnis zum star­ren »Rück­wärts, rück­wärts!«, das kit­schige Ka­leidoskop der Geis­tes­ver­fas­sung sol­cher, die unsre Leh­rer, Ärzte, Pas­to­ren und Rich­ter sind und werden.

Ein nüch­ter­ner Dörf­ler gab uns einen Rat, wohin wir fah­ren soll­ten, um Frie­den zu haben. Er schmähte die Stu­den­ten, die Mäd­chen und Frauen Flöhe ins Ohr setz­ten und ruhige Gäste fern­hiel­ten. Dazu nas­sau­erte ein Teil der Bunt­ja­cken und ein ande­rer blieb jah­re­lang schul­dig. Wir wan­der­ten zum Bahn­hof auf der Höhe, denn wir waren nicht auf Streit gestimmt, der schließ­lich unver­meid­lich gewor­den wäre, wenn wir auf die blö­den Bli­cke ge­achtet, mit denen uns man­che fette Mama, drei Bän­der über der Mons­ter­brust, begaffte, wenn wir den Witz über die sich wich­tig gebär­den­den Jün­gel­chen nicht gezü­gelt hat­ten. Den herr­li­chen Blick auf Schloß und Tal gaben wir auf, den ursprüng­li­chen Rei­seplan stie­ßen wir völ­lig um, denn wie­der muß­ten wir flie­hen vor der infan­ti­len Kul­mi­na­tion humor­lo­sen Ungeis­tes bei denen, die den Geist diplo­miert erhalten.

4. Juni 1929

 Weimar und die »Weimarer Republik« – ein literarischer Streifzug:

  1. Paul Klee: Brief an Lily Klee
  2. Harry Wilde: Der falsche Prophet Louis Haeusser
  3. Joseph Roth – »Sporengeklirr im ›Russischen Hof‹«
  4. Erich Knauf – Die gute Stube des deutschen Kleinbürgers
  5. Victor Auburtin: An Weimar vorbei
  6. Walter Benjamin: Weimar 1928
  7. Walter Petry: Weimar
  8. Lothar Brieger: Johannes Schlaf zum 70. Geburtstag
  9. Mathilde und Maria von Freytag-Loringhoven: Höherer Blödsinn
  10. Heinrich Wiegand – »Vivat Academiai. Ein Reisebericht«
Diesen Artikel teilen:

Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio

Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2024 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]

URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/ich-steck-dich-ins-bauhaus-weimar-und-die-weimarer-republik/16617-2/]