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Hubert Schirneck
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
»Bitte Gott, einen Berg zu versetzen,
und du wachst neben einer Schaufel auf.«
Erinnerung
Wenn ich nach Begriffen suche, die ich mit »Wald« verbinde, steht das Wort »Erinnerung« ganz oben auf der Liste. Fast so, als wäre es nicht nur eine Assoziation, sondern ein Synonym. Als wäre der Wald nichts Anfassbares mehr, sondern nur noch eine Art Nebel. Natürlich ist das Naturerleben in der Kindheit ein ganz anderes, ein intensiveres. Es gibt wohl kaum ein Kind, dem es Freude macht, mit den Erwachsenen auf vorgegebenen Wegen durch den Wald zu spazieren und die Namen der Bäume und der Farne und der Vögel genannt zu bekommen. Das ist doch zu sehr wie Schule. Das Kind sucht nach Abenteuern, und davon hat ein Wald reichlich zu bieten. Nicht nur verfallene Hütten, Tierkadaver und kleine Erdhöhlen. Auch an Schnitzeljagden erinnere ich mich und an ausgedehnte Rätselwege, die mir jemand in Morsezeichen präpariert hatte. Die Gerüche des Waldes werden später nie wieder so intensiv sein.
Darüber hinaus war mir der Wald auch eine Zuflucht. Die Möglichkeit, allein zu sein und allem zu entkommen, was die Welt unangenehm machte: die Enge der Wohnung, in der sich immer viel zu viele Leute aufhielten. Die Schule. Das Fehlen einer menschengerechten Sprache. Ich hatte Glück, für mich war der Wald ganz nah, ein großer, laubbewaldeter Hügel, an den sich auch noch ein idyllischer Fußballplatz schmiegte: ein Doppelparadies. Die Idylle wurde allerdings empfindlich beeinträchtigt durch den Gessenbach, der als rot-braune Brühe durch diese Landschaft floss und radioaktiv strahlte, da die »Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut« ihre Abwässer aus dem Uran-Abbau selbstverständlich ungeklärt hineinleitete. Für uns Kinder war es eine Mutprobe, über den Bach zu springen. Wer abrutschte und hineinfiel, hatte eben Pech.
Wasser
Wasser und Wald sind eine Einheit, wie auch Wasser und Mensch eine Einheit sind.
Romantisierung
Von den Romantikern wurde der Wald ja ausgiebig besungen. Auch noch für Heinrich Heine, den romantischen Satiriker, wurde das Deutsche vor allem durch »Eichen und Linden« repräsentiert, neben der deutschen Sprache natürlich. Was würden die Autoren der Romantik über den Monsun-Sumpfwald schreiben oder über den Tropischen Trockenwald in Madagaskar? Es wäre sehr interessant, diese Gedichte zu lesen und zu vergleichen. Was den mitteleuropäischen Wald betrifft, bin ich nach wie vor der Ansicht, dass es praktisch unmöglich ist, ihn nicht zu romantisieren. Trotz aller Probleme, die man als moderner Mensch zumindest teilweise kennt.
Kühle
Am glücklichsten bin ich im Wald an sehr heißen Tagen, denn der Wald bietet immer das perfekte Klima und die perfekte Temperatur.
Atmen
Der Wald ist Atmen.
Endlosigkeit
Um sich »Wald« nennen zu dürfen, muss ein solcher mindestens 0,5 Hektar groß sein. Kleiner als ein Fußballplatz. Für eine ausgedehnte Wanderung eher nicht geeignet. Während des Dreißigjährigen Krieges sollen entlassene Soldaten nicht nach Hause gefunden haben, weil sie sich in den endlosen Wäldern verliefen.
Für mich ist ein endloser Wald eine phantastische Vorstellung. Man könnte sich vollkommen in ihm verlieren und hätte definitiv keine Chance mehr, in die Menschenwelt zurückzukehren. Das ist natürlich zugleich mit Ängsten verbunden. Das Verlorensein ist für viele Menschen nichts Positives, und es ist kein Wunder, dass dieses Motiv in vielen Märchen vorkommt. Das bekannteste Beispiel ist »Hänsel und Gretel«. Die kinderfressende Hexe mag ein Symbol für alles Mögliche sein, sie ist aber auf jeden Fall auch die personifizierte Endlosigkeit und Undurchdringlichkeit. Dem Geschwisterpärchen gelingt es trickreich, am Ende aber auch mit einer märchenhaften Portion Dusel, den Wald zu verlassen und für den erlittenen Stress auch noch materiell entschädigt zu werden.
Für Schneewittchen hingegen war der Wald eine Zuflucht vor einer ganz konkreten Bedrohung, und sie fand dort Helfer. Der Wald ist ein Ort des Schreckens und der kalten Herzen, aber auch der Verwandlung und somit der Verheißung eines neuen Lebens.
Kettensägen
Im Gegensatz zu den Bäumen kann ich vor ihnen davonlaufen.
Waldbaden
Früher nannte man es einfach »Spaziergang«, heute nennt man es »Waldbaden«, und es gibt auch Menschen, die andere durch den Wald führen, sozusagen Waldbademeister. Neue Begriffe werden ja oft kreiert, um eine Marke zu schaffen. Als gelernter Kaufmann habe ich dagegen natürlich nichts einzuwenden. Die Waldbader brauchen jedenfalls nicht mit Bikinis, Flossen, Badekappen und Schnorcheln anzureisen. Das ihnen von der Natur mitgegebene Equipment ist vollkommen ausreichend: Augen, Nasen, Ohren, Finger, Fußsohlen und eine (bestenfalls gut funktionierende) Lunge. Eigentlich kommt das Waldbaden aus Japan und heißt dort Shinrin-Yoku. Am besten macht man das allein, aber manche haben das vielleicht verlernt oder fühlen sich in einer Gruppe wohler und brauchen einen Führer, der ihnen Achtsamkeitsübungen erklärt.
Die Heilwirkung des Waldes steht außer Frage. Waldluft ist für mich die beste Medizin überhaupt, und der Wald ist der perfekte Blutdrucksenker. Im bereits erwähnten Japan wird das seit längerem wissenschaftlich untersucht, und Waldspaziergänge werden dort vom Arzt verschrieben.
Sobald man im Wald ist, senkt sich der Puls, wir atmen tiefer und der Parasympathikus wird aktiviert. Interessanterweise tritt ein ähnlicher Effekt auch ein, wenn wir einen Baum nur durch ein geschlossenes Fenster betrachten. Patienten, die nach einer Operation ein Zimmer mit Blick ins Grüne haben, werden nachweislich schneller gesund und haben weniger Schmerzen. Um es noch weiter zu treiben: Experimente haben gezeigt, dass sich durch die Farbe Grün (und da muss nicht einmal unbedingt Chlorophyll im Spiel sein) das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit signifikant erhöhen.
Der Selbstmörderwald
Der Wald kann uns heilen oder töten, das sind seine Extreme. Es gibt aber auch Menschen, die nachhelfen, was den zweiten Fall betrifft. Noch einmal Japan: Dort gibt es den Selbstmörderwald, der unter anderem in dem Spielfilm »The Sea Of Trees« eine Hauptrolle spielt: Der von Matthew McConaughey gespielte Protagonist fliegt extra von den USA nach Japan, um sich dort das Leben zu nehmen. Allerdings wird er dabei von einem Gleichgesinnten gestört, der es sich anders überlegt hat und nicht mehr in die Zivilisation zurückfindet.
Der Ursprung ist jedoch in einem Roman von Matsumoto Seichō aus dem Jahre 1957 zu finden: Eine junge Frau tötet sich aus Liebeskummer in jenem Wald. Wie bei Goethes Werther gab es auch hier viele Nachahmer.
Der Wald heißt Aokigahara und ist Teil eines Nationalparkes. Auf der Liste der sogenannten »Suicide Spots« rangiert Aokigahara weltweit auf Rang drei. Hier kann man mit Blick auf den Fuji sterben. Aber der Wald der Selbstmörder zieht auch Plünderer an.
Das Beringen von Vögeln
Als Kind war ich hin und wieder dabei, wenn junge Greifvögel beringt wurden. Das ist keine ganz ungefährliche Tätigkeit. Man muss sehr weit nach oben klettern, und man zieht sich den Unmut der Vogeleltern zu.
Ich habe das immer mit gemischten Gefühlen betrachtet. Woher kommt der Drang der Menschen, immer alles zu kontrollieren und zu protokollieren? Soll das wirklich dem Naturschutz dienen?
Baumplantagen
Dem Wald in Deutschland scheint es gutzugehen, zumindest auf den ersten Blick. Nach dem Waldsterben in den 80er Jahren ist er wieder ins Leben zurückgekehrt. Wobei Peter Wohlleben, der bekannteste Förster Deutschlands, der Meinung ist, wir hätten kaum noch Wälder. Es handle sich größtenteils um Baumplantagen. Selbst Kurzumtriebsplantagen werden in der Forstwirtschaft mit Waldsynonymen beschrieben (Niederwald, Energiewald), obwohl sie im Sinne des Bundeswaldgesetzes keine Wälder sind. Mit Wildschweinen oder Füchsen ist dort kaum zu rechnen.
Pando
In einem Wald sind alle Pflanzen in irgendeiner Form miteinander verbunden, und es findet ein stetiger Informationsaustausch statt. Man könnte ihn auch als einen einzigen großen Organismus betrachten. Das augenfälligste Beispiel dafür ist der Pando-Wald in Utah, der aus 47.000 Zitterpappeln besteht, die jedoch im Grunde ein einziger Baum sind, weil sie über die Wurzeln miteinander verwachsen sind. Die Bäume sind sozusagen genetisch identisch, und so gilt der Jahrtausende alte Pando als das größte Lebewesen der Welt. Das ist nun aber gefährdet durch einen Überbestand an Maultierhirschen.
Langsames Wachsen
Je langsamer ein Baum wächst, desto stärker wird er. Und er hat eine höhere Lebenserwartung. Das lässt sich auf menschliche Bereiche übertragen. Was sich langsam entwickeln darf, ist oft besser und haltbarer. Leider ist unsere Gesellschaft auf Tempo, Effizienz und Kurzlebigkeit ausgerichtet.
Vielfalt
Ungefähr 97 Prozent des deutschen Waldes werden mehr oder weniger intensiv bewirtschaftet. Das ist viel zu viel, denn nur in einem naturbelassenen Wald ist eine wirkliche Artenvielfalt möglich. Deshalb beschloss die deutsche Bundesregierung bereits im Jahre 2007, dass bis 2020 mindestens 5% der Waldflächen der forstwirtschaftlichen Nutzung entzogen werden sollten. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Vermutlich war die Bundesregierung mit wichtigeren Dingen beschäftigt, zum Beispiel mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das niemandem nutzt – außer der Regierung natürlich. Allein die Erfindung des Namens dieses Gesetzes muss Jahre gedauert und enorme Ressourcen verschlungen haben.
In seinem Buch »Die Vereindeutigung der Welt« schreibt der Semitistiker Thomas Bauer, der Vogelbestand in Deutschland sei seit dem Jahre 1800 bis heute um satte 80% zurückgegangen. Allein in den vergangenen zwanzig Jahren sei die Anzahl der bedrohten Arten in der Tier- und Pflanzenwelt um 50% gestiegen. Wenn diese Zahl stimmt, ist sie Ausdruck einer Katastrophe, die mit dem Verstand im Grunde kaum zu fassen ist. Und wenn jemand dazu sagt, es sei fünf vor zwölf, dann ist vermutlich seine Uhr stehengeblieben.
Und was tun wir dagegen? Wir bauen uns ein Metaverse, in dem wir dann virtuell leben können, ohne uns von all dieser schmutzigen Materie um uns herum noch behelligen zu lassen. Wir werden dann auch virtuelle Lebensmittel essen und virtuelle Luft atmen.
Dieser rasch fortschreitende Verlust an Vielfalt betrifft natürlich auch sehr viele gesellschaftliche Bereiche. […]
Bigotte Menschenführer geben vor, sich für den Schutz der Umwelt zu interessieren, wobei es sich wohl um eine Spielart der Natur handeln müsste. Die Natur des Menschen spielt bei der ganzen Sache jedenfalls keine Rolle.
Rettungslos
Wir behaupten, »den Planeten retten« zu können, und das mit derselben Hybris, mit der wir ihn seit Jahrhunderten zerstören. Ich schätze, der Planet wird diese Rettungsaktion dankend ablehnen und sich etwas anderes überlegen.
Offene Fragen
Auch im Wald gilt: Die einzige sinnvolle Antwort auf alle noch offenen Fragen lautet 42.
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