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Hubert Schirneck
Reihe »Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Einer meiner bevorzugten Orte in Weimar ist das Café Rose am Herderplatz. Oft gehe ich dorthin, um mich mit jemandem zu treffen, mit Freunden, Kollegen, Buchillustratorinnen und Verlegern, die in Weimar zu Besuch sind. Manchmal schreibe ich dort auch. Man sitzt sehr gut, hat die Tür im Blick und somit den ständigen Strom der Brot- und Kuchenkäufer.
Das Café Rose ist eine Lokalität für Menschen, die nicht gerne warten. Man bestellt an der Kuchentheke, bezahlt auch gleich und sucht sich einen Tisch aus. Ein gut durchtrainierter Mensch bringt einem die Köstlichkeiten. Wenn man bei der Tischauswahl zu sehr trödelt, kann es passieren, dass Kaffee und Kuchen sogar schneller am Tisch sind als der Gast. Man setzt sich, isst, trinkt, glotzt ein bißchen in die Stadtlandschaft oder auf die anderen Gäste oder auf sein Handy, und wenn man gehen will, geht man einfach. Kein Vergleich zu Lokalen, in denen man mehrmals warten muss: auf den Kellner, der einem eine Karte bringt, auf den Kellner, der die Bestellung aufnimmt, auf den Kellner, der die bestellten Sachen bringt, und auf den Kellner, bei dem man bezahlen darf.
Heute ist es wieder soweit. Ich gedenke, mit Schreibzeug in der Tasche zu »Rose» zu gehen. Das Café ist nicht weit von meiner Wohnung entfernt (aber was ist in Weimar schon weit entfernt…) Wenn nichts passiert, bin ich in drei oder vier Minuten dort.
Wenn.
Es geschieht recht selten, dass man in Weimar länger als eine Minute unterwegs ist, ohne drei oder vier Bekannte zu treffen.
Mancher winkt nur aus relativer Ferne, ohne stehenzubleiben: »Na, wo soll›s hingehen?«
»Ich gehe dichten.«
»Aha, super. Ich gehe Windeln kaufen.«
So reibungslos läuft es nicht immer. Berüchtigt sind die stadtbekannten Dauerredner, und da taucht der erste schon auf. Ich mache mich so klein wie möglich, aber ich komme nie an ihm vorbei. Wir reden über Weimar, sein Lieblingsthema.
»Ohne die Touristen wär Weimar doch total öde«, sagt er. »Das wär genauso tot wie Apolda oder Rudolstadt.«
»Das hast du gesagt«, sage ich, mache eine entschuldigende Geste, murmle etwas, was ich selbst nicht verstehe, und eile weiter.
Ah, meine Lieblingsbuchhandlung. Ich will schauen, ob eins meiner Bücher im Schaufenster steht. Ich weiß, dass das sinnlos ist, weil dort noch nie ein Buch von mir stand. Ich gehe in den Laden und finde meine Bücher, wie üblich, im allerhintersten Regal. Sie stehen zwischen verstaubten Koch- und Backbüchern.
Ich spreche den Buchhändler Klaus (Name geändert) auf diese eigenwillige Methode der defensiven Bücherpräsentation an.
»Warum«, so frage ich ihn, »stehen meine Bücher immer da hinten unten, wo man eigentlich eine Taschenlampe bräuchte?«
»Weil ich deine Bücher so schätze«, sagt Klaus.
Er muss wohl die drei oder vier Fragezeichen sehen, die meinen Gesichtsausdruck bilden, denn er beantwortet sie umgehend und gekonnt: »Wenn ich deine Bücher nicht schätzen würde, hätte ich sie gar nicht im Laden.«
Ein Argument, dem ich nichts entgegenzusetzen habe. Ich bestelle ein nicht vorrätiges Buch mit dem Titel Geliebte Torten: Landfrauen begeistern mit ihren Torten- und Kuchenrezepten.
»Geht klar. Kannst du morgen abholen«, sagt Klaus (Name immer noch geändert), und ich gehe.
Vor dem Laden stolpere ich über einen Touristen. Er spricht mich an und deutet dabei vage in Richtung Süden: »Wenn ich in diese Richtung günge, wo käme ich denn da hin?«
»Ich liebe die Umlaute nicht minder«, erwidere ich hilfreich. »Und Sie täten zu sehr interessanten Orten kommen, zu Denkmälern, Friedhöfen, Straßenkreuzungen und anderen reizvollen Zwischenräumen.«
Er dankt mit rheinischem Dialekt und einem Wort mit Ö.
Ich sehe unseren Oberbürgermeister Erich Hündchen (Name geändert), der sich darin übt, andere Vertreter seiner Spezies anzulächeln und ihnen einen »Guten Tag!« zu wünschen. Ich lobe ihn insgeheim dafür, denn das Beherrschen solch außergewöhnlicher Fähigkeiten wie Lächeln und Guten-Tag-Sagen ist für einen Bürgermeister relativ wichtig.
Jetzt aber ins Café.
An der nächsten Ecke treffe ich leider Gudrun. Sie erzählt mir, dass sie aufgrund gewisser Stimmungsschwankungen wieder mal in stationärer Behandlung war und berichtet mir sehr anschaulich, wie ihr durch die Antidepressiva die Zähne ausfallen.
»Hab leider einen Termin«, presse ich hervor. »Wir sehen uns, Gudrun.« (Name aus naheliegenden Gründen geändert)
»El Condor Pasa« weht an mein Ohr. Jemand spielt es sehr unbeholfen auf der Blockflöte. Aha, wieder mal ein neunjähriges Kind, das sich selbst die ersten Flötentöne beibringt. Die Fußgängerzone ist ja auch ein herrlicher Übungsraum. Nein, doch kein Kind. Es ist ein Mann, den ich auf Mitte sechzig schätze. Ich kenne ihn schon. Gestern saß er auf derselben Bank und sang die DDR-Nationalhymne. Den Hut davor (na, wenigstens keine NVA-Mütze). Die olle Osthymne dürfte ihm aber auch nicht sonderlich viel Geld eingebracht haben.
Man merkt, dass die Urlaubszeit vorüber ist. Ich treffe Heike (Name geändert), die in Tunesien war und dort auf keinen Fall jemals wieder hin will. Am Markt läuft mir Konstantin (dito) über den Weg. Er ist sehr braungebrannt, weil er am Nordpol war. Schließlich Kerstin (die wirklich so heißt). Sie hatte sich vorgenommen, an jedem ihrer vierzehn Urlaubstage etwas sehr Ungewöhnliches zu tun. Jeder Tag eine Herausforderung, jeder eine Überwindung, eine Mutprobe nach der anderen: der erste Tandem-Sprung, das erste Mal Bungee-Jumping, zum ersten Mal an einer Kletterwand, das erste Mal eine Vogelspinne auf die Hand nehmen, der erste Besuch in einem asiatischen Restaurant und so weiter.
Mir schwinden Zeit und Kräfte und mir tun die Ohren weh, doch endlich kann ich mich unter einem fadenscheinigen Vorwand (»Meine Ex-Schwiegermutter liegt im Sterben, das will ich mir nicht entgehen lassen«) davonstehlen.
Ich gerate in eine Demonstration gegen das neue Bauhausmuseum, danach in eine Demonstration für das neue Bauhausmuseum und schließlich in eine Demonstration von Leuten, die der Meinung sind, dass man Demonstrationen für oder gegen das neue Bauhausmuseum verbieten sollte.
Aus der letzten Demonstration springt mich Werner an (Name geändert), ein Lehrer und Hobbydichter, der mir immer seine neuesten Gedichte zeigen will. Ich kann ihm jedoch geschickt ausweichen, indem ich gedankenschnell durch eine Haustür schlüpfe, durch zwei oder drei Hinterhöfe husche, um anderswo wieder zum Vorschein zu kommen.
Gesenkten Blickes erreiche ich mein Café nun ohne weitere Störung.
»Du siehst etwas erschöpft aus«, sagt meine Lieblingskuchenfachkraft Angelika (Name selbstverständlich geändert). »Vielleicht solltest du heimgehen und dich ein bißchen hinlegen.«
»Nein, ich bleibe lieber hier. Bis ich zu Hause ankomme, bin ich vermutlich tot. Also gönn mir wenigstens noch ein letztes Stück Kuchen.«
Ja, aber welches? Ich beginne die Kuchentheke abzuschreiten, Meter für Meter, nein, Zentimeter für Zentimeter, denn die Köstlichkeiten stehen wirklich so dicht gedrängt, dass einem die Augen übergehen. Man müsste sich unterwegs eigentlich ein paar Notizen machen, weil man sonst am Ende der Theke nicht mehr weiß, was man am Anfang gesehen hat: Mohnkuchen in mehreren Variationen. Soft-Rührkuchen. Zierliche Törtchen. Gemischte und ungemischte Obstkuchen, die man sich nicht nur nach dem persönlichen Geschmack, sondern auch noch nach der bevorzugten geometrischen Form aussuchen kann. Kanadische Stachelbeere zum Beispiel. Gebäck in einer Fülle, dass einem das Gehirn abzusaufen droht. Besonders empfehlenswert der Köstliche Zitronenkuchen, der so heißt, weil er wirklich köstlich ist.
Man rechnet auch mit Alkoholikern, Märchenliebhabern und natürlich Klassikerfans: Schnapskuchen, Schneewittchenkuchen, Schillerlocke.
Endlich habe ich mich entschieden: »Heute nur einen Kaffee, bitte. Ich muss abnehmen.«
»Aber du doch nicht«, lacht Angelika.
»Du auch nicht«, antworte ich, weil ich denke, dass das vielleicht von mir erwartet wird.
Ich gehe nach draußen und komme fast zeitgleich mit dem Kaffee an dem von mir gewählten Tisch an.
Schlückchen für Schlückchen, Blick auf den nackten Herderplatz, auf kleine und große, dünne und dicke Leute, die auf den Wasserstein springen. Wundere mich, dass der Mechanismus noch nicht kaputtgegangen ist.
Mit dem Dichten wird es heute nichts mehr. Ich setze die Sonnenbrille auf, gehe auf direktestem Wege nach Hause und schreibe diesen Text, um den man mich gebeten hat.
Mit zuckerhaltigen Grüßen,
Hubert Schirneck [Name von der Redaktion geändert]
Abb. 1, 2: Fotos: Jens Kirsten.
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