Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz und Joachim Seng – »Monsieur Göthé. Goethes unbekannter Großvater«

Person

Jens-Fietje Dwars

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Jens-F. Dwars

Erstdruck: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 2/2017, S. 172 f. / Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Gele­sen von Jens‑F. Dwars

Der ver­leug­nete Großvater

 

Auf die­ses Buch haben die Sach­ken­ner schon lange gewar­tet. Wer sich mit Goe­thes Leben beschäf­tigt hat, weiß um seine Abstam­mung von Johann Wolf­gang Textor, dem Schult­heiß der freien Reichs­stadt Frank­furt, des­sen Toch­ter sein Vater nur dank des Reich­tums zu hei­ra­ten ver­mochte, den Groß­va­ter Goe­the als Schnei­der und Gast­wirt ange­häuft hatte. Und man wusste, dass der Dich­ter von die­sem Groß­va­ter nie gespro­chen, dass er ihn in sei­ner Auto­bio­gra­fie nur am Rande erwähnt und dabei nicht ein­mal beim Namen genannt hat.

Nun end­lich ist die Bio­gra­fie die­ses Man­nes erschie­nen: Fried­rich Georg Göthé – 1657 als Sohn eines Huf­schmieds im thü­rin­gi­schen Kan­na­wurf gebo­ren, des­sen Vor­fah­ren aus der Nähe von Son­ders­hau­sen stamm­ten. Die Doku­mente, die das Autoren­trio Boehncke, Sar­ko­wicz und Seng mit gera­dezu kri­mi­na­lis­ti­scher Akri­bie in jah­re­lan­ger Spu­ren­su­che ermit­telt hat, sind spär­lich: wenige Kirch­buch­ein­träge, kei­ner­lei Belege in Frank­reich, ein paar Rech­nun­gen, Steuer- und Innungs­ak­ten, Lei­chen­pre­dig­ten und das Tes­ta­ment des eins­ti­gen Schneiders.

Aus die­sen Quel­len rekon­stru­ie­ren die Autoren sei­nen Lebens­lauf: dem­nach unter­nahm Fried­rich Georg Göthe als Schnei­der­ge­selle eine 12-jäh­rige Wan­der­schaft, die ihn nach Lyon führte, wo er 1686 als pro­tes­tan­ti­scher Glau­bens­flücht­ling nach Frank­furt floh. In der Main­me­tro­pole stieg er zum Damen­schnei­der à la mode auf, des­sen fran­zö­sier­ter Name Göthé Ele­ganz nach der neu­es­ten Pari­ser Mode ver­sprach. Einen »Karl Lager­feld« sei­ner Zeit nen­nen ihn die Autoren – so spek­ta­ku­lär wie spe­ku­la­tiv. Fakt ist: der Schnei­der­meis­ter steigt in kür­zes­ter Zeit in die höchste Steu­er­klasse auf. Fakt ist aber auch: allein mit Schnei­de­rei und vor allem allein, mit der eige­nen Hände Arbeit, wäre das nicht zu schaf­fen gewe­sen. Hier wird es inter­es­sant. Die Autoren ver­mu­ten zwei Quel­len für den außer­or­dent­li­chen Gewinn: Zum einen sind Kla­gen sei­ner Frank­fur­ter Kon­kur­ren­ten über­lie­fert. Göthé hat dem­nach nicht nur zwei Gesel­len beschäf­tigt, wie es die Schnei­der­zunft erlaubte, son­dern sechs. Vor­mals sei es üblich gewe­sen, dass die aus­ge­buch­ten Meis­ter über­schüs­sige Auf­träge an ihre Kol­le­gen wei­ter­ga­ben. Im Klar­text: statt an der tra­di­tio­nel­len Soli­da­ri­tät der ein­hei­mi­schen Hand­wer­ker unter­ein­an­der fest­zu­hal­ten, erwei­tert der Zuge­zo­gene sei­nen Betrieb und lässt Gehil­fen für sich zum eige­nen Pro­fit arbei­ten. Die Autoren nen­nen ihn dafür einen »Frei­geist«, der »sei­ner Zeit vor­aus« war (S. 267), man könnte aber auch von Aus­beu­tung und schnö­dem Kapi­ta­lis­mus spre­chen. Aber selbst das würde den explo­die­ren­den Reich­tum des gewief­ten Schnei­ders nur halb erklä­ren. Die Autoren glau­ben, die andere Hälfte stamme viel­leicht aus Pro­vi­sio­nen, die er für die Ver­mitt­lung von Geschäf­ten mit Lyon, Paris und Straß­burg erhal­ten haben könnte. Von sol­chen Ver­mu­tun­gen lebt das ganze Buch und nahezu alle Rezen­sen­ten nah­men sie bis­lang als Offenbarungen.

Gewiss ist nur, dass Göthé hei­ra­tete, min­des­tens in zwei Fäl­len den Darm­städ­ter Hof belie­ferte und seit 1705, fünf Jahre nach dem Tod sei­ner ers­ten Frau und durch Hei­rat der Witwe Cor­ne­lia Schell­horn, die den Wei­den­hof von ihrem ver­stor­be­nen Mann geerbt hatte, zum Betrei­ber eines der bes­ten Gast­häu­ser der Stadt wurde. Auch die­ses Geschäft betrieb der vor­ma­lige Schnei­der mit Umsicht und Raf­fi­nesse: so soll er die Wein­vor­räte ande­rer Wirte bil­lig auf­ge­kauft haben, als die in Not gerie­ten. Als Göthé 1730 starb, ver­erbte er sei­nem Sohn ein Ver­mö­gen, das die Autoren nach heu­ti­gen Maßen auf 4,5 Mil­lio­nen Euro schätzen.

Cas­par konnte davon den Titel eines Kai­ser­li­chen Rats kau­fen, trans­for­mierte den Fami­li­en­na­men mit Goe­the ins Gelehr­ten­la­tein, baute das Vater­haus radi­kal um und tilgte die Spu­ren sei­ner Handwerkerabstammung.

Wie sich die­ser rasante, par­venüh­afte Auf­stieg im Werk des Enkels nie­der­schlägt – von die­ser tie­fe­ren Wir­kungs­ge­schichte des Groß­va­ters erfährt man in dem Buch nichts. Ihr nach­zu­spü­ren, steht nun den Lesern frei.

Zuletzt sei noch ein Wort zur Gestal­tung gesagt: Wie alle Bände der »Ande­ren Biblio­thek« zeich­net sich auch der vor­lie­gende durch ein ganz eige­nes Lay­out aus. Dies­mal ist alles auf die Farbe Rot, genauer auf Korall­rot abge­stimmt – vom Ein­band, der das Inte­ri­eur einer Schnei­der­werk­statt in Blau und Rot auf­schei­nen lässt (umhüllt von einer blauen Buch­schlaufe, in die wie mit einem Schnei­der­fa­den das Kon­ter­fei Goe­thes gestanzt wurde) über Vor- und Nach­satz-Pier bis zu den Zwi­schen­sei­ten im glei­chen Rot, auf die in Sepia­tö­nen zeit­ge­nös­si­sche Abbil­dun­gen gedruckt sind. Zur Spie­le­rei wird das Ganze, wenn nicht nur die Dach­zei­len über dem Fließ­text, son­dern auch die Anmer­kun­gen – in Petit­schrift – korall­rot gesetzt sind. Was die Les­bar­keit enorm ein­schränkt. Ein Tri­but an den Zeit­geist, der das Auf­fal­lende rühmt und nicht mehr das Funktionale.

 

  • Hei­ner Boehncke, Hans Sar­ko­wicz und Joa­chim Seng: Mon­sieur Göthé. Goe­thes unbe­kann­ter Groß­va­ter. Die Andere Biblio­thek, Bd. 391, 480 Sei­ten, Ber­lin 2017, 42 EU.
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