Gerhard R. Kaiser (Hg.) – »Deutsche Berichte aus Paris 1789–1933. Zeiterfahrung in der Stadt der Städte«

Personen

Gerhard R. Kaiser

Jan Volker Röhnert

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Jan Volker Röhnert

Erstdruck in »Palmbaum - literarisches Journal aus Thüringen«, Heft 2/2017 / Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Gele­sen von Jan Vol­ker Röhnert

 

Erst jetzt begreif ich die Franzosen!

Die große Antho­lo­gie deut­scher Paris-Erfahrung

 

Glo­ba­li­sie­rung hat einen lan­gen Vor­lauf. Jener »all­sei­tige Ver­kehr«, den Marx beschwor, meint nicht nur Aus­wei­tung von Han­del und Kolo­ni­sie­rung bis in ent­fern­teste Win­kel, genauso kann sich der Glo­bus wie in einem Brenn­spie­gel an einem Ort ver­dich­ten. Für die als das lange 19. Jahr­hun­dert ange­se­hene Moderne war Paris jener Spie­gel, in dem sich Poli­tik, Han­del, Kul­tur, Natur­wis­sen­schaf­ten, Tech­nik kon­zen­trier­ten; Wal­ter Ben­ja­mins For­mel der »Haupt­stadt des XIX. Jahr­hun­derts« resü­miert zugleich eine spe­zi­fisch deut­sche Sicht, die eben in Paris fand und pries, was Deutsch­land fehlte: die zen­trale Metro­pole, die libe­rale und liber­täre Welt­stadt, wo »Glanz und Elend« (Balzac) zwei Ansich­ten des­sel­ben Lebens­laufs waren, ein euro­päi­sches Foyer unbe­grenz­ter Mög­lich­kei­ten, das mit aller Welt und in aller Welt Hof hält, Moloch, Sirene, Stadt der Städte – kaum einer ver­mag sich der Super­la­tive zu erweh­ren. Noch der Abscheu Cle­mens Bren­ta­nos tra­diert sie: »Wie kann hier der Mensch…bei die­ser Ueber­macht der Aeu­ßer­lich­keit zu sich selbst kommen«.

Den Anstoß sieht der Her­aus­ge­ber der her­vor­ra­gend edier­ten Antho­lo­gie, der Kom­pa­ra­tist Ger­hard R. Kai­ser, im Revo­lu­ti­ons­jahr 1789 und dem Ein­tritt in die unmit­tel­bare Zeitgeschichte. Das Neue reizte Scha­ren schau- und schreiblus­ti­ger Deut­scher dabei­zu­sein, um es den Daheim­ge­blie­be­nen zu zei­gen. Goe­the, der es 1792 bei Valmy pro­phe­zeit haben will, gehört zu jenen, die es nie bis Paris schaff­ten, jedoch am flei­ßigs­ten Nach­rich­ten bezie­hen: Viele Kor­re­spon­den­ten der Revo­lu­ti­ons­jahre rekru­tie­ren sich aus sei­nem Bekann­ten­kreis, etwa Georg Fors­ter und Johann Fried­rich Rei­chardt; die gro­ßen deut­schen Paris-Zeug­nisse des Goe­the-Ver­äch­ters Börne und des Goe­the-Ver­eh­rers Heine sind Epis­tel von dem Außen­pos­ten der deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur, an wel­chem sich jenes »Velo­zi­fe­ri­sche«, das der Wei­ma­rer 1825 als Signa­tur der Zeit aus­ge­ge­ben hatte, tat­säch­lich erle­ben ließ.

Was deut­sche Augen in und an Paris sehen und suchen, ist Indiz deut­scher Selbst- und Frem­derfah­rung. An der schil­lern­den Vari­anz des Begriffs »Öffent­lich­keit« wird das klar. Wo Fried­rich Schulz 1791 »Die öffent­li­chen Mäd­chen von Paris« cha­rak­te­ri­siert, greift Georg Fors­ter fast zeit­gleich 1793 »Die öffent­li­che Mei­nung: Werk­zeug und Seele der Revo­lu­tion« auf – hier sind mit den Stich­wor­ten Poli­tik und Pro­sti­tu­tion zwei wie­der­keh­rende Aspekte von Paris-Wahr­neh­mung ein­ge­führt, die erst in ihrer Ver­schrän­kung jene Fas­zi­na­tion erge­ben, aus der sich Hei­nes Poe­sie ebenso speist wie spä­ter die Bau­de­lai­res, mit deren Augen die hier zu Wort kom­mende letzte Genera­tion deut­scher Paris­re­por­ter vor Hit­ler die Seine sieht.

Es sind vor allem die wenig bekann­ten oder im Kon­text Paris uner­war­te­ten Namen mit ihren gro­ßen und klei­nen Beob­ach­tun­gen, die um die kano­ni­schen Texte herum den Band zur Ent­de­ckung machen: Wo Meyer 1802 »Pan­ora­men und andere Ver­gnü­gun­gen«, Campe 1803 die »Sel­ten­heit der Her­ren­wa­gen» her­vor­he­ben und Seume »Paris unter dem ers­ten Kon­sul Bona­parte« beschreibt, fügt »Der Tele­graph« Mur­hards von 1805 der Zeit ihre tech­ni­sche Domi­nante hinzu. Die Kon­stel­la­tion wie­der­holt sich peri­odisch, wenn etwa Pück­ler-Mus­kau 1830 »Dames blan­ches und Omni­bus« skiz­ziert, Gau­ger 1836 wohl zum ers­ten Mal »Die Pas­sa­gen« ins Licht rückt oder Koloff 1839 »Wer­be­stra­te­gien und Deko­ra­ti­ons­lu­xus« beschreibt. Wenn Din­gel­stedt 1843 sei­nen »metho­di­schen Unter­richt im Fla­nie­ren« vor­führt, ist das ein Pro­gramm, das – kaum ein­ge­schränkt durch den poli­ti­schen Kon­fron­ta­ti­ons­kurs zwi­schen 1870 und 1918 –  letzt­lich bis ans »Ende des Fla­nie­rens« (Handke) vor­hält, bis zu Schil­de­run­gen Aubur­tins, Schi­cke­les oder Hes­sels aus den ers­ten Jahr­zehn­ten des 20. Jahrhunderts.

Eine den düs­te­ren Visio­nen der Sur­rea­lis­ten in nichts nach­ste­hende Stu­die Sieg­fried Kra­cau­ers über die Ban­lieue »La ville de Mala­koff« von 1929 zeigt schließ­lich, wie anstelle des Fla­neurs die Mons­tro­si­tät fil­mi­scher Schwarz-weiß-Mon­ta­gen die Wahr­neh­mung bestimmt. Hein­rich Manns Paris-Por­trät »Wir begeg­nen in Paris uns selbst« von 1932 scheint schon der Zeit nach der anbre­chen­den Düs­ter­nis gewid­met: »Uns bin­det zuerst unsere Gemein­schaft als größte Völ­ker des Kon­ti­nents…«. Es ist fol­ge­rich­tig, wenn dar­auf­hin eine weib­li­che Stimme den Band beschließt. Die doku­men­tier­ten Frauen-Bli­cke von Johanna Scho­pen­hauer und Hel­mina von Chézy über Fanny Lewald und Ida von Hahn-Hahn bis Käthe Schirma­cher und Annette Kolb ver­ge­gen­wär­ti­gen Paris auch als Zen­trum weib­li­cher Iden­ti­tät. Nicht nur natio­nale Ste­reo­ty­pen wer­den in der Stadt der Städte ver­han­delt, son­dern auch Geschlech­ter­rol­len. Heine hatte sie mit dem Namen Lute­tia als Frau apo­stro­phiert, Arnold Ruges Nekro­log auf Flora Tris­tan wirkt wie eine Alle­go­rie auf den unver­sieg­ten Magne­tis­mus der Stadt: »Welch ein Weib! sie wird die Fahne neh­men und vor­an­ziehn! erst jetzt begreif‹ ich die Franzosen!«

 

  • Ger­hard R. Kai­ser (Hg.): Deut­sche Berichte aus Paris 1789–1933. Zeit­er­fah­rung in der Stadt der Städte. Göt­tin­gen: Wall­stein 2017.
Diesen Artikel teilen:

Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio

Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2024 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]

URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/gerhard-r-kaiser-hg-deutsche-berichte-aus-paris-17891933-zeiterfahrung-in-der-stadt-der-staedte/]