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Hansjörg Rothe
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Wiedergelesen von Hansjörg Rothe
Zur Gesamtdeutschen Schillerfeier 1959 im Berliner Sportpalast hielt der Sozialdemokrat Carlo Schmid, Sohn eines Schwaben und einer Französin, die Festrede. »Vielleicht wäre Schiller im Paris der Revolutionsjahre zu einem der großen Volkstribunen geworden«, spekulierte er, » …vielleicht war es die Enge und Ausweglosigkeit der deutschen Verhältnisse, die diesen Mann anstatt auf das Forum auf die Bühne trieb.«
Eine bemerkenswerte und, wie zu zeigen sein wird, völlig verfehlte Spekulation. Schiller interessierte sich 1789 bei seinen historischen Studien weniger für die berühmten Volkstribunen Tiberius und Gaius Gracchus oder das römische Amt des tribunus plebis im allgemeinen, als vielmehr für die antiken Gesetzgeber Solon und Lykurg. Die seit der Antike ständig weiterentwickelte Kunst der Gesetzgebung war es, die ihm für seine gegenwärtigen Verhältnisse relevant erschien, und nur solche Gegenstände sollten überhaupt aus der Fülle der Geschichtsschreibung herausgegriffen und behandelt werden, denn: »Aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt der Universalgelehrte diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben.«
Schmids Spekulation speiste sich nicht aus Schillers Schriften selbst, sondern reflektierte die hohe Wertschätzung der Revolutionäre um 1848 für Friedrich Schiller als den Dichter der Freiheit. Dass dieser bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der meistgespielte Bühnenautor im deutschsprachigen Raum blieb, hatte auch damit zu tun, dass die 1848 begonnenen gesellschaftlichen Bestrebungen unvollendet abgebrochen waren. Noch Anfang Oktober 1916 hatten »die 1848er« den Mitteleuropäern die lebhafteste Erinnerung an echte Volkstribunen geliefert, bei deren Erwähnung man mangels späterer Protagonisten weiterhin an bärtige Männer mit »Heckerhut« und offenem »Schillerkragen« dachte. Namentlich in Österreich-Ungarn war es 1916 durch die Person Kaiser Franz Josephs I. gefühlt immer noch 1848 – dessen Inthronisation im Dezember jenes Jahres hatte damals den Neubeginn signalisieren sollen.
Als Franz Kafka Ende Oktober 1916 nach langer Pause wieder den Drang zum Schreiben verspürte, war der Kaiser sechsundachtzig und saß weiterhin täglich an seinem Schreibtisch. Bis zum 20. des Monats waren die Erlasse, die er dort schrieb, direkt zu seinem k.k. Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh gewandert, zur treuen Umsetzung. Am nächsten Tag aber wurde Stürgkh am hellichten Tag mitten in Wien erschossen, und es ist erstaunlich wenig präsent im kollektiven Gedächtnis, dass die Welle der europäischen Revolutionsjahre eben nicht mit Russland 1917 oder dem preußisch-deutschen Kaiserreich 1918 begann, sondern 1916, in Österreich-Ungarn: noch vor Ende des Jahres war der Kaiser tot. Im ganzen Vielvölkerstaat schien eine jahrzehntelange Erstarrung sich zu lösen. Kafka, der auf Verschiebungen seines inneren Gleichgewichts immer wieder mit langen Schreibpausen reagierte, erlebt einen Schaffensrausch. Vergessen der Tiefpunkt des ersten Kriegswinters, als er am 20. Januar 1915 im Tagebuch »Ende des Schreibens« notiert hatte – »in diesen Monaten zwischen November 1916 und April 1917«, schreibt Rüdiger Safranski, »entstehen Texte, die Kafka für gelungen genug hält, um sie in die Sammlung ´Ein Landarzt´aufzunehmen«. Schauplatz der »mit Schreiben durchrasten Nächte« ist das von seiner Schwester Ottla angemietete, mittelalterliche Häuschen auf dem Hradschin, »… ganz wunderbar sei das Nachhausewandern gegen Mitternacht über die alte Schloßstiege zur Stadt hinunter. (Safranski)«
Friedrich Adler, der Todesschütze, war sofort gefasst worden und hatte es wohl auch gar nicht auf eine Vermeidung seiner Verhaftung angelegt. Bei Kafka wird er zum »Jäger Gracchus« – ein Untoter, der aber nicht in der Todeszelle auf seinen Prozess und die wahrscheinliche Hinrichtung wartet, sondern im Todeskahn »durch alle Länder der Erde« reist. »Vor vielen Jahren«, erzählt er selbst,«stürzte ich im Schwarzwald – das ist in Deutschland – von einem Felsen, als ich eine Gemse verfolgte. Seitdem bin ich tot.« Rüdiger Safranski verweist auf die Skizze »Auf dem Dachboden«: da taucht Gracchus zuerst auf – »ein starker Schnurrbart im Gesicht, Pelzmütze auf dem Kopf, im weiten braunen Mantel.« Tatsächlich prägt der starke Schnurrbart die aus jener Zeit überkommenen Photographien Friedrich Adlers. »Bin badischer Jäger« sagt er, wie weiland Friedrich Hecker ist er »am Neckar« geboren. Schuldbewusstsein hat er nicht, eigentlich ging alles »…der Ordnung nach. Ich verfolgte, stürzte ab, verblutete in einer Schlucht, war tot und diese Barke sollte mich ins Jenseits tragen«. Doch dann »das Unglück«: »Mein Todeskahn verfehlte die Fahrt, eine falsche Drehung des Steuers, ein Augenblick der Unaufmerksamkeit des Führers, eine Ablenkung durch meine wunderschöne Heimat, ich weiß nicht, was es war, nur das weiß ich, daß ich auf der Erde blieb und daß mein Kahn seither die irdischen Gewässer befährt.« Der kosmischen Gerechtigkeit wurde nicht Genüge getan, soviel ist klar. »Und Sie tragen gar keine Schuld daran?«, wird der untote Jäger gefragt. »Keine«, antwortet dieser, »ich war Jäger, ist das etwa eine Schuld? Aufgestellt war ich als Jäger im Schwarzwald, wo es damals noch Wölfe gab. Ich lauerte auf, schoß, traf, zog das Fell ab, ist das eine Schuld? Meine Arbeit wurde gesegnet. ›Der große Jäger vom Schwarzwald‹ hieß ich. Ist das eine Schuld?« Vom Autoren Kafka wird er nicht verurteilt. »Ich bin nicht berufen, das zu entscheiden«, sagt der Gesprächspartner des Gracchus, »doch scheint auch mir keine Schuld darin zu liegen.«
Kafka kannte als Absolvent des humanistischen Gymnasiums natürlich die Grundzüge der römischen Geschichte und wusste wohl auch, dass der Familienname Gracchus »Gnadenreich« bedeutet – da er auch Italienisch-Studien betrieben hat, mag Kafka aber auch mit dem ähnlich klingenden »gracchio« gespielt haben, denn das bedeutet, wie »kavka« im Tschechischen, »Dohle«, schreibt Safranski, und zitiert aus einem Brief an Max Brod: »Mein Leben lang bin ich gestorben … ich bin Lehm geblieben, den Funken habe ich nicht zum Feuer gemacht, sondern nur zur Illuminierung meines Leichnams benützt«.
Als Sohn von Viktor Adler, dem langjährigen Anführer der österreichischen Sozialdemokratie, war Friedrich Adler – 37 Jahre alt, verheiratet und Vater von drei Kindern – schon vor dem Attentat eine Person von öffentlichem Interesse gewesen. An eben jenem 20. Oktober 1916, dem Vortag des Attentats, hatte er öffentlich eine bittere Abrechnung mit seiner Partei, der Sozialdemokratie vorgetragen – zu deren herausragenden Führern sein eigener Vater gehörte – weil diese es nicht vermocht hatte, den nun schon seit über zwei Jahren tobenden mörderischen Krieg zu verhindern oder wenigstens zeitlich zu begrenzen. Viele Menschen in ganz Europa dachten wie er. In Anbetracht der internationalen Vernetzung der Arbeiterparteien hatte eigentlich niemand es für möglich gehalten, dass es noch einmal zu einem solchen Krieg in Europa kommen konnte.
Drei Jahre später – Friedrich Adler war seit einem Jahr vom neuen, damals noch nicht selig gesprochenen Kaiser Karl begnadigt und wieder ein freier Mann – verfasste der inzwischen 36jährige, unverheiratete und kinderlose Franz Kafka das mit »Brief an den Vater« nur unzureichend bezeichnete, etwa einhundert handgeschriebene Seiten umfassende Konvolut, das er weder öffentlich vortrug, noch dem Vater, wie ursprünglich geplant, zuschickte. Letztlich hat zu seinen Lebzeiten nur seine Schwester Ottla diese große Anklage oder auch Abrechnung zu Gesicht bekommen.
Der »Jäger Gracchus« blieb Fragment. Während Kafka an dem Text arbeitete, schrieb Friedrich Adler in der Haft die unter anderem von seinem Studienkollegen Albert Einstein inspirierte physikalische Abhandlung »Ortszeit, Systemzeit, Zonenzeit und das ausgezeichnete Bezugssystem der Elektrodynamik. Eine Untersuchung über die Lorentzsche und die Einsteinsche Kinematik.« Somit reiste er zwar nicht im Todeskahn durch alle Länder der Erde, wohl aber im Geiste durch alle Zeitzonen. An Volkstribunen mangelte es in den kommenden Jahren nicht mehr, keiner von diesen bezog sich aber auf die Gracchen oder legte sich gar den Namen »Gracchus« zu wie Babeuf in Paris 1789.
Dass Schiller alles andere als ein deutscher »Gracchus Babeuf« gewesen war oder zu werden hoffte, hatte Carlo Schmid im Berliner Sportpalast 1959 unerwähnt gelassen – wie falsch er übrigens mit seiner Spekulation über Friedrich Schillers Parteinahme »im Paris der Revolutionsjahre« lag, wissen wir recht genau aus dessen Briefwechsel mit Körner: 1791 hatte Schiller allen Ernstes geschrieben, er erwäge nach Paris zu reisen, allerdings nicht um Volkstribun zu werden, sondern um den in den Tuilerien inhaftierten König Louis XVI. zusammen mit der Schweizergarde gegen den Pariser Mob zu verteidigen (Körner riet ab).
Doch wie steht es heute um die Wiederherstellung der kosmischen Gerechtigkeit? Carl Höglund, der 1918 den Aufsatz »Zwei Helden des Weltkrieges« verfasst hatte – gemeint waren Karl Liebknecht, weil er 1914 als Reichstagsabgeordneter die Zustimmung zu den Kriegskrediten verweigert hatte, und Friedrich Adler – war von 1940–1950 Bürgermeister von Stockholm. Dort wurde 1986 Olof Palme, Schwedens sozialdemokratischer Ministerpräsident, auf offener Straße erschossen. Während der »Ersten Corona-Welle« 2020 wurde ein angeblicher Täter präsentiert, der sich 20 Jahre zuvor suizidiert hatte, und die Ermittlungen wurden nach 34 Jahren eingestellt. Laut einer Umfrage halten 19% der Befragten in Schweden dieses offizielle Narrativ für plausibel.
Franz Kafkas »Jäger Gracchus« hat, so scheint es, sein Ziel bis heute nicht erreicht.
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