Franz Kafka – »Der Jäger Gracchus«

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Franz Kafka

Hansjörg Rothe

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Autor

Hansjörg Rothe

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Wie­der­ge­le­sen von Hans­jörg Rothe

 

Zur Gesamt­deut­schen Schil­ler­feier 1959 im Ber­li­ner Sport­pa­last hielt der Sozi­al­de­mo­krat Carlo Schmid, Sohn eines Schwa­ben und einer Fran­zö­sin, die Fest­rede. »Viel­leicht wäre Schil­ler im Paris der Revo­lu­ti­ons­jahre zu einem der gro­ßen Volks­tri­bu­nen gewor­den«, spe­ku­lierte er, » …viel­leicht war es die Enge und Aus­weg­lo­sig­keit der deut­schen Ver­hält­nisse, die die­sen Mann anstatt auf das Forum auf die Bühne trieb.«

Eine bemer­kens­werte und, wie zu zei­gen sein wird, völ­lig ver­fehlte Spe­ku­la­tion. Schil­ler inter­es­sierte sich 1789 bei sei­nen his­to­ri­schen Stu­dien weni­ger für die berühm­ten Volks­tri­bu­nen Tibe­rius und Gaius Grac­chus oder das römi­sche Amt des tri­bu­nus ple­bis im all­ge­mei­nen, als viel­mehr für die anti­ken Gesetz­ge­ber Solon und Lykurg. Die seit der Antike stän­dig wei­ter­ent­wi­ckelte Kunst der Gesetz­ge­bung war es, die ihm für seine gegen­wär­ti­gen Ver­hält­nisse rele­vant erschien, und nur sol­che Gegen­stände soll­ten über­haupt aus der Fülle der Geschichts­schrei­bung her­aus­ge­grif­fen und behan­delt wer­den, denn: »Aus der gan­zen Summe die­ser Bege­ben­hei­ten hebt der Uni­ver­sal­ge­lehrte die­je­ni­gen her­aus, wel­che auf die heu­tige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt leben­den Genera­tion einen wesent­li­chen, unwi­der­sprech­li­chen und leicht zu ver­fol­gen­den Ein­fluß gehabt haben.«

Schmids Spe­ku­la­tion speiste sich nicht aus Schil­lers Schrif­ten selbst, son­dern reflek­tierte die hohe Wert­schät­zung der Revo­lu­tio­näre um 1848 für Fried­rich Schil­ler als den Dich­ter der Frei­heit. Dass die­ser bis zum Ende des 19. Jahr­hun­derts der meist­ge­spielte Büh­nen­au­tor im deutsch­spra­chi­gen Raum blieb, hatte auch damit zu tun, dass die 1848 begon­ne­nen gesell­schaft­li­chen Bestre­bun­gen unvoll­endet abge­bro­chen waren. Noch Anfang Okto­ber 1916 hat­ten »die 1848er« den Mit­tel­eu­ro­pä­ern die leb­haf­teste Erin­ne­rung an echte Volks­tri­bu­nen gelie­fert, bei deren Erwäh­nung man  man­gels spä­te­rer Prot­ago­nis­ten wei­ter­hin an bär­tige Män­ner mit »Hecker­hut« und offe­nem »Schil­l­er­kra­gen« dachte. Nament­lich in Öster­reich-Ungarn war es 1916 durch die Per­son Kai­ser Franz Josephs I. gefühlt immer noch 1848 – des­sen Inthro­ni­sa­tion im Dezem­ber jenes Jah­res hatte damals den Neu­be­ginn signa­li­sie­ren sollen.

Als Franz Kafka Ende Okto­ber 1916  nach lan­ger Pause wie­der den Drang zum Schrei­ben ver­spürte, war der Kai­ser sechs­und­acht­zig und saß wei­ter­hin täg­lich an sei­nem Schreib­tisch.  Bis zum 20. des Monats waren die Erlasse, die er dort schrieb, direkt zu sei­nem k.k. Minis­ter­prä­si­den­ten Karl Graf Stürgkh gewan­dert, zur treuen Umset­zung. Am nächs­ten Tag aber wurde Stürgkh am hel­lich­ten Tag mit­ten in Wien erschos­sen, und es ist erstaun­lich wenig prä­sent im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis, dass die Welle der euro­päi­schen Revo­lu­ti­ons­jahre eben nicht mit Russ­land 1917 oder dem preu­ßisch-deut­schen Kai­ser­reich 1918 begann, son­dern 1916, in Öster­reich-Ungarn: noch vor Ende des Jah­res war der Kai­ser tot. Im gan­zen Viel­völ­ker­staat schien eine jahr­zehn­te­lange Erstar­rung sich zu lösen. Kafka, der auf Ver­schie­bun­gen sei­nes inne­ren Gleich­ge­wichts immer wie­der mit lan­gen Schreib­pau­sen reagierte, erlebt einen Schaf­fens­rausch. Ver­ges­sen der Tief­punkt des ers­ten Kriegs­win­ters, als er am 20. Januar 1915 im Tage­buch »Ende des Schrei­bens« notiert hatte – »in die­sen Mona­ten zwi­schen Novem­ber 1916 und April 1917«, schreibt Rüdi­ger Safran­ski, »ent­ste­hen Texte, die Kafka für gelun­gen genug hält, um sie in die Samm­lung ´Ein Landarzt´aufzunehmen«. Schau­platz der »mit Schrei­ben durch­ras­ten Nächte« ist das von sei­ner Schwes­ter Ottla ange­mie­tete, mit­tel­al­ter­li­che Häus­chen auf dem Hradschin, »… ganz wun­der­bar sei das Nach­hau­se­wan­dern gegen Mit­ter­nacht über die alte Schloß­stiege zur Stadt hin­un­ter. (Safran­ski)«

Fried­rich Adler, der Todes­schütze, war sofort gefasst wor­den und hatte es wohl auch gar nicht auf eine Ver­mei­dung sei­ner Ver­haf­tung ange­legt. Bei Kafka wird er zum »Jäger Grac­chus« – ein Unto­ter, der aber nicht in der Todes­zelle auf sei­nen Pro­zess und die wahr­schein­li­che Hin­rich­tung war­tet, son­dern im Todes­kahn »durch alle Län­der der Erde« reist. »Vor vie­len Jah­ren«, erzählt er selbst,«stürzte ich im Schwarz­wald – das ist in Deutsch­land – von einem Fel­sen, als ich eine Gemse ver­folgte. Seit­dem bin ich tot.« Rüdi­ger Safran­ski ver­weist auf die Skizze »Auf dem Dach­bo­den«: da taucht Grac­chus zuerst auf – »ein star­ker Schnurr­bart im Gesicht, Pelz­mütze auf dem Kopf, im wei­ten brau­nen Man­tel.« Tat­säch­lich prägt der starke Schnurr­bart die aus jener Zeit über­kom­me­nen Pho­to­gra­phien Fried­rich Adlers. »Bin badi­scher Jäger« sagt er, wie wei­land Fried­rich Hecker ist er »am Neckar« gebo­ren. Schuld­be­wusst­sein hat er nicht, eigent­lich ging alles »…der Ord­nung nach. Ich ver­folgte, stürzte ab, ver­blu­tete in einer Schlucht, war tot und diese Barke sollte mich ins Jen­seits tra­gen«. Doch dann »das Unglück«: »Mein Todes­kahn ver­fehlte die Fahrt, eine fal­sche Dre­hung des Steu­ers, ein Augen­blick der Unauf­merk­sam­keit des Füh­rers, eine Ablen­kung durch meine wun­der­schöne Hei­mat, ich weiß nicht, was es war, nur das weiß ich, daß ich auf der Erde blieb und daß mein Kahn seit­her die irdi­schen Gewäs­ser befährt.« Der kos­mi­schen Gerech­tig­keit wurde nicht Genüge getan, soviel ist klar. »Und Sie tra­gen gar keine Schuld daran?«, wird der untote Jäger gefragt. »Keine«, ant­wor­tet die­ser, »ich war Jäger, ist das etwa eine Schuld? Auf­ge­stellt war ich als Jäger im Schwarz­wald, wo es damals noch Wölfe gab. Ich lau­erte auf, schoß, traf, zog das Fell ab, ist das eine Schuld? Meine Arbeit wurde geseg­net. ›Der große Jäger vom Schwarz­wald‹ hieß ich. Ist das eine Schuld?« Vom Autoren Kafka wird er nicht ver­ur­teilt. »Ich bin nicht beru­fen, das zu ent­schei­den«, sagt der Gesprächs­part­ner des Grac­chus, »doch scheint auch mir keine Schuld darin zu liegen.«

Kafka kannte als Absol­vent des huma­nis­ti­schen Gym­na­si­ums natür­lich die Grund­züge der römi­schen Geschichte und wusste wohl auch, dass der Fami­li­en­name Grac­chus »Gna­den­reich« bedeu­tet – da er auch Ita­lie­nisch-Stu­dien betrie­ben hat, mag Kafka aber auch mit dem ähn­lich klin­gen­den »grac­chio« gespielt haben, denn das bedeu­tet, wie »kavka« im Tsche­chi­schen, »Dohle«, schreibt Safran­ski, und zitiert aus einem Brief an Max Brod: »Mein Leben lang bin ich gestor­ben … ich bin Lehm geblie­ben, den Fun­ken habe ich nicht zum Feuer gemacht, son­dern nur zur Illu­mi­nie­rung mei­nes Leich­nams benützt«.

Als Sohn von Vik­tor Adler, dem lang­jäh­ri­gen Anfüh­rer der öster­rei­chi­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie, war Fried­rich Adler – 37 Jahre alt, ver­hei­ra­tet und Vater von drei Kin­dern – schon vor dem Atten­tat eine Per­son von öffent­li­chem Inter­esse gewe­sen. An eben jenem 20. Okto­ber 1916, dem Vor­tag des Atten­tats, hatte er öffent­lich eine bit­tere Abrech­nung mit sei­ner Par­tei, der Sozi­al­de­mo­kra­tie vor­ge­tra­gen – zu deren her­aus­ra­gen­den Füh­rern sein eige­ner Vater gehörte – weil diese es nicht ver­mocht hatte, den nun schon seit über zwei Jah­ren toben­den mör­de­ri­schen Krieg zu ver­hin­dern oder wenigs­tens zeit­lich zu begren­zen. Viele Men­schen in ganz Europa dach­ten wie er. In Anbe­tracht der inter­na­tio­na­len Ver­net­zung der Arbei­ter­par­teien hatte eigent­lich nie­mand es für mög­lich gehal­ten, dass es noch ein­mal zu einem sol­chen Krieg in Europa kom­men konnte.

Drei Jahre spä­ter – Fried­rich Adler war seit einem Jahr vom neuen, damals noch nicht selig gespro­che­nen Kai­ser Karl begna­digt und wie­der ein freier Mann – ver­fasste der inzwi­schen 36jährige, unver­hei­ra­tete und kin­der­lose Franz Kafka das mit »Brief an den Vater« nur unzu­rei­chend bezeich­nete, etwa ein­hun­dert hand­ge­schrie­bene Sei­ten umfas­sende Kon­vo­lut, das er weder öffent­lich vor­trug, noch dem Vater, wie ursprüng­lich geplant, zuschickte. Letzt­lich hat zu sei­nen Leb­zei­ten nur seine Schwes­ter Ottla diese große Anklage oder auch Abrech­nung zu Gesicht bekommen.

Der »Jäger Grac­chus« blieb Frag­ment. Wäh­rend Kafka an dem Text arbei­tete, schrieb Fried­rich Adler in der Haft die unter ande­rem von sei­nem Stu­di­en­kol­le­gen Albert Ein­stein inspi­rierte phy­si­ka­li­sche Abhand­lung »Orts­zeit, Sys­tem­zeit, Zonen­zeit und das aus­ge­zeich­nete Bezugs­sys­tem der Elek­tro­dy­na­mik. Eine Unter­su­chung über die Lorent­z­sche und die Ein­stein­sche Kine­ma­tik.« Somit reiste er zwar nicht im Todes­kahn durch alle Län­der der Erde, wohl aber im Geiste durch alle Zeit­zo­nen. An Volks­tri­bu­nen man­gelte es in den kom­men­den Jah­ren nicht mehr, kei­ner von die­sen bezog sich aber auf die Grac­chen oder legte sich gar den Namen »Grac­chus« zu wie Babeuf in Paris 1789.

Dass Schil­ler alles andere als ein deut­scher »Grac­chus Babeuf« gewe­sen war oder zu wer­den hoffte, hatte Carlo Schmid im Ber­li­ner Sport­pa­last 1959 uner­wähnt gelas­sen – wie falsch er übri­gens mit sei­ner Spe­ku­la­tion über Fried­rich Schil­lers Par­tei­nahme »im Paris der Revo­lu­ti­ons­jahre« lag, wis­sen wir recht genau aus des­sen Brief­wech­sel mit Kör­ner: 1791 hatte Schil­ler allen Erns­tes geschrie­ben, er erwäge nach Paris zu rei­sen, aller­dings nicht um Volks­tri­bun zu wer­den, son­dern um den in den Tui­le­rien inhaf­tier­ten König Louis XVI. zusam­men mit der Schwei­zer­garde gegen den Pari­ser Mob zu ver­tei­di­gen (Kör­ner riet ab).

Doch wie steht es heute um die Wie­der­her­stel­lung der kos­mi­schen Gerech­tig­keit? Carl Hög­lund, der 1918 den Auf­satz »Zwei Hel­den des Welt­krie­ges« ver­fasst hatte – gemeint waren Karl Lieb­knecht, weil er 1914 als Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ter die Zustim­mung zu den Kriegs­kre­di­ten ver­wei­gert hatte, und Fried­rich Adler – war von 1940–1950 Bür­ger­meis­ter von Stock­holm. Dort wurde 1986 Olof Palme, Schwe­dens sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Minis­ter­prä­si­dent, auf offe­ner Straße erschos­sen. Wäh­rend der »Ers­ten Corona-Welle« 2020 wurde ein angeb­li­cher Täter prä­sen­tiert, der sich 20 Jahre zuvor sui­zi­d­iert hatte, und die Ermitt­lun­gen wur­den nach 34 Jah­ren ein­ge­stellt. Laut einer Umfrage hal­ten 19% der Befrag­ten in Schwe­den die­ses offi­zi­elle Nar­ra­tiv für plausibel.

Franz Kaf­kas »Jäger Grac­chus« hat, so scheint es, sein Ziel bis heute nicht erreicht.

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