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Annerose Kirchner
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Gelesen von Annerose Kirchner
Warum Gedichte schreiben und lesen? Diese Frage stellte sich für Eva Schönewerk nicht. Für sie war das Schreiben ur-existenziell. »Mein frühestes Erleben von Pflanze und Tier war die Entdeckung, daß alles Lebendige seine eigene Innerlichkeit hat, der man über die Lebens- und Existenzform näherkommen kann. Ich begriff mich als menschliches Wesen tiefer, war aber fern davon, alles zu vermenschlichen. So wurde mir bewußt, daß ich auch den Menschen nur durch mich, aber wiederum als ganz anderen sehen muß.«
Das Erlebnis des bewussten Sehens und dem gleichzeitigen Bewusstwerden von Welt fußt auf der Kindheit in Thüringen, in Kranichfeld. Dort erfuhr Eva Camilla Obst, geboren am 5. November 1946, ihre prägenden Eindrücke. Schon als Kind verfasste sie eigene Verse – und hörte damit nicht mehr auf. Die Schülerin besuchte einen Zirkel schreibender Arbeiter in Weimar, legte an der Erweiterten Oberschule in Bad Berka das Abitur ab und studierte Germanistik und Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Thüringen blieb bis zu ihrem Umzug nach Berlin 1971 ihr Wirkungsort und für immer wohl ihre Heimat. »Da, wo ich herkomm, tauschen / Auge und Ohr die Stimmen der Erde aus« (»Da, wo ich herkomm«). An anderer Stelle heißt es in diesem Gedicht: »Ich erkenn die Bäume / an ihren Takten, die sie / zeichnen in die Ebene.« In Thüringen, vielleicht an der FSU Jena, begegnete sie auch ihrem späteren Ehemann Klaus-Dieter Schönewerk (1942 – 2014), der aus Greußen stammte und nach seinem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte lange Jahre Mitarbeiter der Kulturredaktion der Tageszeitung »Neues Deutschland« war.
»Ja, das ist schön am Dichten: Man schreibt nicht einfach, sondern man sucht lange, unter Mühen, manchmal leichter, aus, was ein Gefühl, eine Stimmung tragen kann, vermitteln kann, bis man glaubt: genau dieses Bild übermittelt dieses Gefühl. Das ist das Abenteuerliche am Poetischen, nicht etwa die Form. Und man freut sich, wenn einer das hören will. Hören könnte mancher, hören wollen oder üben ist das Problem, ist die Mühe«, schrieb Eva Schönewerk 1995 in einem Brief.
Dieser Brief befindet sich im Nachlass, den der Berliner Journalist und Dichter Henry-Martin Klemt aufgearbeitet hat. Nachzulesen auf der Website des Autors, der dort Eva Schönewerk ein besonderes dichterisches Denkmal setzt. Kein Wunder, denn sie war seine Lehrerin, die er als Zwölfjähriger kennenlernte und ihr seine ersten Verse anvertraute. Das konnte er, denn Eva Schönewerk, die nach einer kurzen Tätigkeit als Lehrerin im thüringischen Kölleda an der Pestalozzi-Schule in Berlin-Hohenschönhausen unterrichtete, hatte nicht nur ein Faible für ihr eigenes Schreiben. Sie ahnte und wusste, wenn sich ein Talent seinen Weg suchte und begleitete es behutsam, gemeinsam mit ihrem Mann, zum Beispiel im Zirkel schreibender Arbeiter des »Neuen Deutschland« (heute Friedrichshainer Autorenkreis) oder am Pionierpalast in der Wuhlheide. Wo trifft man heute noch solch eine Lehrerin, die mehr als nur das ist, die den Verstand und das Gefühl hat für ganz besondere Schüler und Jugendliche? Die sich ihnen nähert, ohne sie zu verbiegen. »Sie konnte geduldig sein, aber nur in der Natur und in ihren Gedichten wartete sie darauf, dass die Dinge von selber zu ihr kämen. Das machte sie nicht nur zu einer bemerkenswerten Dichterin, sondern auch zu einem besonderen Menschen«, erinnert sich Henry-Martin Klemt.
Nun hat der Schüler seiner Lehrerin und Freundin posthum das wohl schönste Geschenk gemacht: Aus dem Nachlass von Eva Schönewerk stellte er einen eindrucksvollen Lyrikband zusammen, der das poetische Lebenswerk dieser »Poesiepädagogin« – so nannte sie sich selbst – würdigt. Insgesamt 252 Gedichte enthält der Band. Er umfasst Gedichte aus den frühen Jahren, die ersten datiert auf das Jahr 1964, ein späteres Gedicht verweist auf die Entstehungszeit im Jahr 2005. Leider sind nicht alle Gedichte datiert und der Band ist nicht in Kapitel eingeteilt. Und doch gibt es eine innere Struktur, der der Herausgeber gefunden hat.
Thematisch beginnt die poetische Reise in Thüringen, in Kranichfeld, in Jena mit dem Jenzig, Belvedere in Weimar. Dann Gedichte über die Mutter, die Berge, den Wald, das Holz, das Moos, das kleine Städtchen. Landschaften, erlebt in Prerow, Tangermünde und später auch auch im Ausland wie auf Kreta, stehen neben Widmungsgedichten auf Künstler wie Barlach oder Mattheuer. Gedichte über Liebe, Tod undTrauer. Ihre Seele musste sich freimachen, das ist der Sinn der sehr irdischen Lyrik von Eva Schönewerk, die als Mutter ihren größten Verlust erlebte: Ihr 1974 geborener Sohn Kai lebte nur wenige Tage. Auch dieses Erlebnis spiegelt sich in ihren Versen wieder, ständig unterschwellig anwesend. Dafür steht das Gedicht »Sohn Kai«, in dem es heißt: »man gewöhnt sich an nichts / man wird eine andere«.
Eva Schönewerk sah und erlebte die Welt mit eigenen Augen. Ihre vorwiegend frei rhythmisch und reimlos und sehr konkret verfassten Gedichte gehen zum Grund, zu den Dingen, zum Leben. Ein herausragender, in seiner Klarheit beeindruckender Text ist »Innig«: »Der Berg verliert / im Tal / sich, das Tal / steigt auf / zum Berg, den / schwellenden Kuß / vergraben die Bäume / im Schweigen, deshalb / stehn sie so dunkel / zwischen Höhe und Niederung.« Andere Gedichte bezeugen die besondere Zuneigung der Partner Eva und Klaus-Dieter Schönewerk (Sonett »Du«, 1969) in ihrer Beziehung und ihrem gemeinsamen Handeln und Wirken.
Henry-Martin Klemt fand für die Ausgabe den Titel »Liebe muß der Wahrheit Schwester sein«. Die Zeilen stammen aus einem Gedicht vom Dezember 1967, welches Eva Schönewerk ohne Titel versah. Bemerkenswert ist, dass die Lyrikerin zu Lebzeiten nicht veröffentlichte. Sie sah das wohl nicht als notwendig, nicht als bedeutend. Auch ihr Mann veröffentlichte nur wenig. So begegnet dem Leser auch zum ersten Mal der teils kritische und teil ironische Blick der Lyrikerin auf die Zeit der Wende, mit den schwierigen Umstellungen auf ein vollkommen anderes Leben, mit allen Brüchen und Unwägbarkeiten »im neuen Osten«. Auf die veränderten sozialen Verhältnisse reagierte Eva Schönewerk mit dem Gedicht »Zunehmend geringfügig« – Unterzeile: »oder volkstümliche Erklärung zur Steigerung der Abnahme einer Zunahme von Nebenbeschäftigten in den Neuen« – ein Text aus dem Jahre 1997, der Zusammenhänge im System der BRD aufdeckt und eine ganz neue Stimmlage der Dichterin offenbart.
Eva Schönewerk starb am 25. Februar 2009 in Berlin, im Alter von 62 Jahren. Sie hätte bestimmt noch viel zu sagen gehabt. Der Herausgeber meint, ihr Werk könne sich »mit großen Vorbildern von Erich Arendt bis Johannes Bobrowski messen«. Das ist vielleicht ein wenig zu hoch angesetzt. Ihre große dichterische Kraft liegt in der existenziellen beharrlichen Selbstbefragung. Hier erreicht Eva Schönewerk eine viel größere Tiefe als zum Beispiel eine Eva Strittmatter.
Zu Beginn des Bandes kommt Eva Schönewerk »Statt eines Vorwortes« selbst zu Wort. Ein Nachwort des Herausgebers fehlt. Das wünscht man sich sehr, um noch mehr über die »Poesiepädagogin« zu erfahren, deren Schreib- und Lebenswurzeln in Thüringen liegen.
Vermerkt werden sollte an dieser Stelle, dass Henry-Martin Klemt ebenfalls 2016 eine Sammlung der Gedichte von Klaus-Dieter Schönewerk unter dem Titel »Museum für Wunder« veröffentlicht hat.
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