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Emma Braslavsky
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Ich verstehe mich als Reisende, weil ich mich, neugierig, selbstbestimmt und mit Hang zum Größenwahn, immer in der »großen, weiten Welt« wahrnehme. Quatsch: Meistens fühle ich mich Teil des gesamten, mir bekannten Universums. Wahrscheinlich hatte ich Glück damit, dass das System, das mich als Kind geformt und gehätschelt hatte, genau zu dem Zeitpunkt abstürzte, als ich erwachsen wurde und flügge war, auch gerade dann, als es mich einzuengen begann. Ich floh aus dieser »Heimat«, ließ sie gleichgültig zurück an ihrem Sterbebett. Staatsrechtlich gesehen bin ich (wieder ganz in der Tradition meiner Eltern und Großeltern) Migrantin und Flüchtling, ein Opfer politischer, innerdeutscher Systemwechsel, leidkulturtechnisch gesprochen darf ich mich aber als Grenzgängerin aufwerten. Trotzdem bleibe ich dabei: Ich bin auf Reisen.
Deshalb empfand ich »Heimat« früh als Prozess. So ersparte ich mir Verlustängste. So ersparte ich mir Heimatverluste. Ich heimate halt, wo ich bin. In Diktaturen, in Königreichen, in Demokratien, in anarchischen Gruppierungen, Kommunen, in Beziehungen und wenn’s nötig wird auch auf dem Mars. Mal besser, mal schlechter. Denn Heimat ist für mich nichts als sehr persönliche Welt-Erzählung, nichts als intimes Welt-Gefühl in kollektiven Bindungen, vor allem aber ist sie ein Prozess, ein Verb.
Die Vorbedingung meines Heimaten ist meine Vorstellungskraft und mein Wandlungspotenzial: Ich habe die Macht, mich selbst in Beziehung zu meiner Umgebung zu setzen im Spannungsfeld von Anpassung und Eigensinn. Ich steuere mein Gefühl zur Umwelt, suche Schnittstellen zwischen meiner Geschichte und der meiner Außenwelt und lote meine Möglichkeiten aus. Wo ich damit scheitere und dieses Spannungsfeld als langfristig unmöglich und eng wahrnehme, bleibe ich nicht lang. Mein Leben ist mir zu schade, auch noch Gefühle der Heimatlosigkeit ertragen zu müssen.
Ein Hautausschlag am Hals signalisierte mir kurz nach meiner Flucht im Frühsommer 1989, dass ich (damals in Bayern) nun eine deutsch-deutsche Migrantin geworden war. Die Dermatologin vermutete, dass der unvorbereitete Konsum hochgetunter Nahrungsmittel aus dem kapitalistischen Supermarkt oder auch die Anwendung des amerikanischen Marken-Duschbads Schuld daran gewesen sein konnten. Es war unklar. Aber keine drei Wochen später hatte sich mein Körper scheinbar vollständig an die bundesrepublikanischen Lebensbedingungen angepasst. Egal, welchen pseudowissenschaftlich aufbereiteten Mist ich aus dem Discounter aß oder mir auf den Körper schmierte, mein Haar und meine Haut glänzten ununterbrochen weiter.
Und weder optisch noch akustisch fiel ich zunächst als ehemaliger Zoni auf. Ich bayerte zwar nicht herum, aber sprach Hochdeutsch. Mein Englisch war tausendmal besser als bei den meisten Leuten, denen ich dort begegnet bin. Ich lief nicht in Socken und Sandalen herum, aber auch nicht in Lederhosen oder Dirndl. Ich war zwar nicht von »hier”, aber schien systemtechnisch kompatibel zu sein. Erst wenn ich mich selbst outete, konnte ich zunächst beim Gegenüber eine Kollision zwischen meiner Erscheinung und dessen oder deren offenbaren Bildern von stereotypen Zonis miterleben. Gleich darauf wurde ich entweder mit euphorischem Interesse überschüttet, als wäre ich plötzlich zu einem exotischen Wesen aus einer unbekannten Welt mutiert, oder sie bekamen diesen Blick von Pflegekräften, die mit einer Hilfebedürftigen sprechen. Diese Momente meines neuen Migrantin-Daseins waren immer begleitet von bitteren Gefühlen der Wertminderung, kein vollwertiges Mitglied dieser neuen Gesellschaft zu sein, weil hilfebedürftig oder exotisch.
Nein, ich kann nicht überall heimaten. Ausgerechnet in BRDeutschland hat es gedauert, bis ich mich authentisch und ernst genommen gefühlt habe. Zu Hause halt. Denn heimaten heißt auch, sich wandeln können in den eigenen Möglichkeiten, ohne sich zu verlieren. Wenn ich scheitere, ist das in Teilen natürlich auch mein Problem, leider, oft ein Kompatibilitätsproblem. Auch wenn ich glaube, dass die Schuld dafür größtenteils am Selbstverständnis der Gesellschaft liegt. Mein Leben ist nicht lang genug, um auch noch Schuldgefühle ertragen zu müssen. Ich kann von der Umgebung heute im Jahrhundert der gesteigerten Personalisierungslust verlangen, dass sie sich auch ein Stück auf mich einstellt, oder? Ich kann zwar nicht sagen, wäre ich 1989 nicht geflohen und wäre die DDR nicht zusammengebrochen, wie lange es gedauert hätte, bis sie mich ausgebürgert hätten. Ob die Tätarätätä (wie meine Oma die DDR nannte) als Erwachsene jemals hätte meine Heimat werden können?..
Aber von der selbst ernannten weltoffenen, sich pluralistisch, föderativ, viel dialektisch gebenden Tralalaschubidubidu hätte ich doch so viel Vorstellungskraft und Kombinationsfreude erwartet, dass dort auch Menschen ganz selbstverständlich und nichts Belustigendes in ihrer Gesellschaft wären, die, zum Beispiel, Läwerwurscht essen, sich morgens Bemmen schmieren oder sich über eine hohe Punktzahl auf den Flügeln eines Mutschekübchens freuen können. Wie die Gesamtdeutschen hätten auch nach bald zweitausend Jahren des Zusammenlebens und ‑wirkens annehmen müssen, dass natürlich gefillte Fisch ganz selbstverständlich zur deutschen Alltagskultur gehört und nichts Bemerkenswertes oder Fremdartiges ist, nichts, wofür sie ein Museum errichten müssen oder ein Mahnmal brauchen.
Ich bleibe jetzt mal ganz bei meiner Migrations-Geschichte. Denn meine Erfahrung im Reisen durch die Welt war, dass, je näher wir, ich und die Menschen an dem neuen Ort, uns waren, desto fremder fühlte ich mich. Beispiel: New York 1994, als ich als Intern, vorwiegend als editorial assistant, bei St. Martin’s Press gearbeitet habe. Nirgendwo auf der Welt habe ich mich mehr als Europäerin gefühlt als in den USA. Ein Playboy-Cover mit Sternchen auf den Brüsten hat mich gleich zu Anfang krass geschockt. Eine solche public Prüderie in der selbst ernannten freiesten aller Welten zu erleben, hatte ich nicht erwartet. Die war nie Teil der amerikanischen Imagekampagnen. Plötzlich spürte ich auf dem Broadway zum Flatiron Building laufend eine Wehmut nach meiner unbeschwerten jugendlichen Nacktheit an den Ostseestränden im Germania orientale, nach dem sozialpolitisch geforderten erotischen Mittwochsfilm gleich nach der aktuellen Kamera, nach dem Magazin Das Magazin.
In einer Gourmet-Pizzeria in Manhattan konnte ich keinen Wein (keinen Alkohol überhaupt) zum Essen bestellen. Ich litt in meiner Kindheit, Jugend und auch noch in meinen frühen Zwanzigern unter einem sehr niedrigen Blutdruck. Vor allem nach derartigem Teigwaren-Konsum, wenn der Darm, das spektakuläre Co-Denk-Organ, den Großteil der Rechenleistung im Körper zum Verarbeiten dieser neu zugeführten Informationen benötigt, brauchte ich damals alkoholische Kooperation, damit mein Blutdruck nicht in den Keller rutschte, um nicht ins Koma zu fallen. Die süße Brause verschlimmerte die Situation nur. Mir wurde schwarz vor den Augen, ich dachte noch, schnell im Restroom mein Gesicht mit kaltem Wasser zu benetzen, da brach ich mitten im Restaurant zusammen. Ein Gast war Arzt und weckte mich wieder auf, er verstand sofort mein Problem, flüsterte dem Kellner etwas zu, der verschwand in der Küche und kam kurz darauf mit einem blickdichten Plastikbecher zurück, in den er 4cl feinen Whisky eingefüllt hatte. Kaum hatte ich den gekippt, war ich wieder hellwach. Nach dem doch klar war, dass die Prohibition an ihrer Moral gescheitert war, wie konnte sich eine gesetzlich verankerte, quasi-protestantische »Scharia” sogar noch in der Clinton-Ära dort hartnäckig halten?
Das amerikanische Hochleistungsdenken dagegen kam mir sehr bekannt und vertraut vor. Die Amerikaner haben auch diese orientale Strebernatur wie die Russen, wie ganz Asien, wie die Sozialisten überhaupt. Sie wollen ganz groß und ganz oben sein. Diese Art von positivem Größenwahn hätte mich tatsächlich entschädigen und beheimaten können, wenn ich hätte hinter diese euphorische Höflichkeit der Amerikaner kommen können, die bei weitem angenehmer war als die englische Hochnäsigkeit, aber eben auch spiegelglatt und schwer zu durchbrechen. Dahinter, so weit konnte ich wenigstens das eine oder andere Mal schauen, verbergen sich Verklemmtheit und exorbitante Versagensängste, die hinter einer fröhlich schillernden Distanziertheit und freundlichen Verschlossenheit in Form eines brighten Lächelns durch makellose Zähne versteckt werden musste. Erwachsene DDR-Bürger waren in den 1980ern ebenso verschlossen, dabei aber misanthropisch geworden. Wenn du eine ausgeuferte Überwachungsinstitution und eine öffentlich geforderte Sprechideologie hast, dann beißt du dir ständig auf die Zunge, dann verkneifst du dir vieles. Dann wirst du antisozial, denn Gedanken gehen eben bei jedem Menschen eigene Wege.
Nach den ersten gefühlten eintausend Fotos vor den bekanntesten Wahrzeichen oder stereotypischsten New York-Kulissen, nach dem Verschwinden der exotischen Anfangsbegeisterung war ich plötzlich ernüchtert über meinen Aufenthalt in Big Apple. Ich ging täglich arbeiten, versuchte jede Gelegenheit neuer Eindrücke zu nutzen, aber dieses versprochene, obergeile Freiheitsgefühl, das das Amerika den Menschen der Welt versprach, wollte sich nicht so recht einstellen. Auf eine, wenngleich andere Art, habe ich mich wieder eingeengt und bevormundet gefühlt.
Ganz anders 1991, als ich für ein Jahr nach Rom gezogen war. Schon die Beantragung meiner Arbeitserlaubnis gestaltete sich beinah als quantenmechanische Herausforderung, als raumzeitliches Verschiebungsmanöver. Der Beamte, der meine persönlichen Angaben in den Computer eingegeben hatte, meldete, dass das italienische System die Stadt Erfurt nicht kenne. Er fragte, welche nächst größere Stadt in der Nähe wäre. Ich antwortete, dass Erfurt die Landeshauptstadt von Thüringen sei, es sei die größte Stadt in dem Bundesland, aber vielleicht kenne er ja Weimar? Er meinte, auch Weimar gebe es nicht, und Thuringia könne das italienische System auch nicht finden. Welches Gebiet in der Nähe könne er denn jetzt eingeben? Er schlug Francoforte vor. Okay? Ich sagte ihm, dass es in Deutschland zwei Francoforti gebe und keines der beiden in der Nähe von Erfurt oder Weimar liege. Porca miseria, ’sti tedeschi maledetti!
Einem Luigi aus der langen Schlange hinter mir war der Geduldsfaden gerissen, er rief dem Beamten zu, er solle halt meine Angaben wie das früher üblich war manuell auf die Plastik-Karte stanzen lassen. Der Beamte, genervt, zeigte auf die Europakarte an der Wand und tippte auf Deutschland. Hinter Hessen oder Bayern erstreckte sich ein grau eingefärbtes Niemandsland über den restlichen europäischen Kontinent. Von dort kamen solche Greys wie ich. Ich markierte dort die ungefähre Lage der Stadt Erfurt. Erschauderte, zugleich skeptische Blicke durchbohrten mich zunächst von allen Seiten, bis eine junge Frau Laura endlich darauf aufmerksam machte, dass die Karte veraltet sei und dass Ost- und West-Deutschland seit einem Jahr wiedervereinigt seien. Okay, zwischen diesem historischen Ereignis und Italien liegen die Alpen! In der jungen Sowjetunion hat es Jahre gedauert, bis die Menschen hinter dem Ural Wind davon bekommen hatten, dass es das russische Zarenreich nicht mehr gab, sie entrichteten weiter ihren Zehnten an die Verantwortlichen. Als der italienische Beamte, zunächst widerwillig, aber dann amüsiert, sich an die Stanzmaschine setzte, halfen die Wartenden dabei, die adäquate verwaltungstechnische Formulierung für meine Herkunft zu finden. Er druckte schließlich: Nata ad Erfordia in Thuringia in Germania orientale. Das Jahr über war ich zwar »die aus dem deutschen Orient” geblieben, aber genoss wegen dieser quasi-außerirdischen Exotik (lesbar auf meiner Tessera di lavoro) offenbar besonderen Schutz und eine sagenhafte Narrenfreiheit, auf die ich zu meinem eigenen Schutz lieber nicht näher eingehen will.
Je mehr ich migrierte und zu heimaten versuchte, ob dann 1995 in Russland, 1996 und 1997 in Vietnam oder 1998 in Israel oder sonstwo in den folgenden Jahrzehnten, desto mehr verschwand das Gefühl der Fremde und der Exotik aus meiner Welt, weil die jeweiligen neuen Zusammenhänge immer mein Verwandlungs- und Anpassungsvermögen herausforderten. Ich fühle mich vielgestaltiger, gelenkiger. Heimat ist ein Gefühl und ein Heimatministerium müsste dann ein fast sinnlicher Größenwahn sein.
Immer wenn ich dachte, ich sei ins »Andere« gezogen, fand ich Seiten von mir und Alltägliches dort irgendwo wieder. Je mehr ich mich der »Fremde« aussetzte, desto mehr verstand ich über mich selbst, desto mehr fand ich mich selbst wieder. Ich merkte, dass ich an einem Ort heimischer geworden war, wenn ich aufhörte, stereotype Fotos zu machen oder das Exotische abzubilden, wenn ich sah, dass ich das Alltägliche festzuhalten begann. Und dieses Alltägliche gleicht sich im Grunde überall, nur eignen sich diese Fotos nicht für die Tourismusbranche.
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»Von Heimat zu Heimat – eine literarische Spurensuche« ist eine Reihe des Thüringer Literaturrates e.V. mit freundlicher Unterstützung der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen.
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