Emma Braslavsky – »Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten«

Personen

Emma Braslavsky

Dietmar Jacobsen

Ort

Erfurt

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Jacobsen

Erstdruck in: Palmbaum, Heft 1/2020. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Gele­sen von Diet­mar Jacobsen

Mensch gegen Maschine

 

Roberta ist ein Hubot – ein men­schen­ähn­li­cher Robo­ter (Human Robot). In einer nicht genau datier­ten Zukunft absol­viert sie eine Art Pro­be­lauf. Kon­stru­iert zu dem Zweck, als „erste poli­zei­li­che KI-Son­der­er­mitt­le­rin“ für das Lan­des­kri­mi­nal­amt Ber­lin zu arbei­ten, soll durch das Ergeb­nis einer Roberta über­tra­ge­nen Ermitt­lungs­ar­beit die Frage geklärt wer­den [ihr Pro­be­lauf klä­ren], ob sich in Zukunft der Ein­satz einer grö­ße­ren Zahl von „Rechen­ein­hei­ten“ die­ser Art lohnt. Denn Hubots wer­den weder krank noch schwan­ger, haben über ihre Schalt­kreise Zugriff auf sämt­li­ches Welt­wis­sen und glei­chen ihre teu­ren Anschaf­fungs- durch deut­lich gerin­gere Hal­tungs­kos­ten aus.

In ihrem vier­ten Roman Die Nacht war bleich, die Lich­ter blink­ten nimmt die 1971 in Erfurt gebo­rene Emma Bras­lavsky ihre Leser mit in eine Welt, in der der Mensch nicht mehr die Krone der Schöp­fung dar­stellt. Statt­des­sen kämpft er als fra­gile, „see­len­fleisch­li­che“ Exis­tenz tag­täg­lich gegen sein Ver­schwin­den an: „Ein Mensch hatte zu leben, bis er von sich aus starb, bis das Wrack von sich aus zusam­men­krachte.“ Allein über etwas, wonach sich die per­fekt nach sei­nem Bilde ent­wor­fe­nen Maschi­nen, die ihm als Part­ner, Part­ne­rin­nen und Geliebte, Köchin­nen und Haus­halts­hil­fen zur Ver­fü­gung ste­hen, seh­nen, ver­fügt er nach wie vor: seine Iden­ti­tät. Roberta hin­ge­gen ist „hacke­dicht von Fremd­da­ten, aber ihr eige­ner Ord­ner war noch leer. Sie gehörte nir­gend­wo­hin, war sozial nicht ver­netzt, sie hatte kein Gesicht.“

Als Son­der­er­mitt­le­rin erhält Roberta den Namen Köhl, um sich den Men­schen, mit denen sie fortan kon­fron­tiert sein wird, gegen­über aus­zu­wei­sen, und den Auf­trag, einen der vie­len Selbst­morde auf­zu­klä­ren, die den Etat der Sozi­al­äm­ter auf immer unzu­mut­ba­rere Weise belas­ten. Denn Men­schen müs­sen – anders als die wie­der­ver­wert­ba­ren „Rechen­ein­hei­ten“ – nach ihrem Tod unter die Erde gebracht wer­den – und das ist teuer. Also macht sich Roberta im Auf­trag des Sui­zid-Dezer­nats des LKA auf die Suche nach Ver­wand­ten des eben von eige­ner Hand aus dem Leben geschie­de­nen Len­nard Fischer – eines ziem­lich erfolg­lo­sen „Einzelunternehmer[s] für Tauch­dienst­leis­tun­gen“ in Ber­lin-Kreuz­berg, dro­gen­ab­hän­gig und mit gele­gent­li­chen Anwand­lun­gen zu malen und Gedichte zu ver­fas­sen. Denn ihr Auf­trag lau­tet: jeman­den fin­den, der die Beer­di­gungs­kos­ten, auf denen sonst der Staat sit­zen blei­ben würde, übernimmt.

Die Nacht war bleich, die Lich­ter blink­ten ord­net sich ein in eine Reihe von Roma­nen, die in letz­ter Zeit und häu­fig unter dys­to­pi­scher Flagge segelnd den Blick nach vorn ris­kie­ren, eine Zukunft aus­ma­len, wie sie auf uns zukom­men könnte, dem Ver­hält­nis von künst­li­cher und ange­bo­re­ner Intel­li­genz nach­for­schen und die Frage auf­wer­fen, wel­che Rolle dem Men­schen in einer voll durch­t­ech­no­lo­gi­sier­ten und auto­ma­ti­sier­ten Welt noch zukommt. Bei Bras­lavsky – und das unter­schei­det den vor­lie­gen­den von ande­ren Roma­nen, deren Inter­esse ähn­lich gela­gert ist – wird über diese Pro­bleme aus der Per­spek­tive einer „gen­der­lo­sen“ Maschine nach­ge­dacht, was wie ein Ver­frem­dungs­ef­fekt wirkt. Roberta staunt über das Ver­hält­nis zwi­schen Män­nern und Frauen und kämpft mit einer Büro­kra­tie, die in einer Gesell­schaft, in der die Post durch „Nacht­post­droh­nen“ ver­teilt wird, Empa­thie im Ver­schwin­den und Ein­sam­keit samt der damit im Zusam­men­hang ste­hen­den Sui­zid­rate kräf­tig im Stei­gen begrif­fen sind, offen­sicht­lich noch genauso nervt und sinn­los Kräfte absor­biert wie in unse­ren Tagen.

Dass Bras­lavs­kys künst­li­che Hel­din am Ende die­ses klu­gen, so unter­halt­sa­men wie span­nen­den und gut geschrie­be­nen Romans – einer Mischung aus Krimi, Sci­ence Fic­tion und Gegen­warts­kri­tik – ihre Mis­sion trotz der sich ihr in den Weg stel­len­den Schwie­rig­kei­ten meis­tern wird, ahnt der Leser schnell. Allein auf wel­che Weise sie das Pro­blem löst, den für den Staat teuer zu wer­den dro­hen­den Leich­nam Len­nard Fischers kos­ten­güns­tig zu ent­sor­gen, bie­tet am Schluss des Romans noch ein­mal eine Über­ra­schung, mit der die Autorin die Frage nach der Rolle des Men­schen in einer immer mehr von Maschi­nen beherrsch­ten Zukunft auf die Spitze treibt.

 

  • Emma Bras­lavsky: Die Nacht war bleich, die Lich­ter blink­ten. Roman. Ber­lin: Suhr­kamp Ver­lag 2019, 271 Sei­ten, 22,- Euro.

 

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