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Literarisches Thüringen um 1800
Detlef Ignasiak
Die Exkursion entstand im Rahmen eines Projekts der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V.
Schon im 13. Jh. stand an seiner Stelle eine Wasserburg, die mehrmals umgebaut und 1619 von der Familie von Einsiedel erworben wurde. Nach weiteren Besitzwechseln kaufte Johann Friedrich von Medem (1763–1838) die Gutsherrschaft 1794, um sie schon am 19. 10. 96 seiner Schwester Anna Dorothea zu übertragen. Diese ließ die 1766 durch einen Brand geschädigte Dreiflügelanlage 1798–1800 von dem Leipziger Architekten Carl August Siegel zu einem klassizistischen Schloss umbauen, das bis zu ihrem Tod der Mittelpunkt ihres Musenhofes sein sollte. Zum Schloss gehörte ein vom Vorbesitzer übernommener weitläufiger Englischer Garten, in den Anna Dorothea ein einfaches »Comödienhaus« erbauen ließ, das aber bald nach ihrem Tod abgebrochen wurde. Das ganze Anwesen fiel im Erbgang zuerst an Anna Dorotheas Tochter Johanna (1783–1876), dann an deren Nichte Fanny von Boyen (1815–88), verheiratet mit einem Sohn des berühmten preußische Kriegsministers Hermann von Boyen (1771–48), und schließlich an deren Tochter Luise von Tümpling (1852–1911), seit 1878 verheiratet mit dem Legationsrat Wolf von Tümpling, dessen in Wenigenjena (heute zu Jena) lebende Familie nach der Auflösung des Gutes (mit 230 ha) 1907 auch das L.er Hausarchiv übernahm. Die »Deutsche Adelsgenossenschaft« als neue Besitzerin nutzte das Schloss für soziale Zwecke und betrieb zeitweilig darin eine Frauenwirtschaftsschule. 1945 erfolgte die Enteignung und die Einrichtung eines Alten- und Pflegeheimes, was zahlreiche Umbauten (zuletzt 1987/88) nach sich zog, insgesamt dem massiven Verfall des Hauses aber nicht aufhalten konnte. 2008/09 erfolgte der Abriss des Schlosses bei gleichzeitigem Neubau des Heimes, das schließlich im Sommer 2011 übergeben werden konnte. Dabei wurde die klassizistische Schlossfassade rekonstruiert, die damit an die Zeit des Musenhofes erinnert, ebenso die Namen von Räumlichkeiten im Heim.
Seine geistigen Impulse empfing Anna Dorotheas Musenhof nicht aus Weimar oder Jena, auch nicht aus Gotha oder Altenburg, sondern – was ihn in Thüringen heraushebt – aus den europäischen Metropolen, an denen seine Stifterin fast drei Jahrzehnte lang verkehrte und mit deren Repräsentanten – und zwar mit den geistigen ebenso wie mit den politischen – diese umging und von denen sie als eine Frau von außerordentlichem Format akzeptiert, ja hofiert wurde. Die Lebensorte Anna Dorotheas reichen von St. Petersburg, die kurländische Residenz Mitau und Warschau über Berlin, Wien, Prag und Karlsbad bis Paris, London und Genf. Sie kannte Zar Alexander I., König Friedrich Wilhelm III. und Kaiser Franz II./I. ebenso persönlich wie Kaiser Napoleon I. und dessen Gemahlinnen Josephine und Marie Louise. Der einflussreichste Politiker seiner Zeit, der französische Außenminister Charles Maurice de Talleyrand, war ihr Geliebter, Clemens Fürst von Metternich der ihrer Tochter. Anna Dorothea dürfte die am besten informierte Frau der Welt gewesen sein.
Im Zentrum des von ihr initiierten Musenhofes standen die Reiseschriftstellerin Elisa von der Recke (1754–1833) und der Lyriker Christoph August Tiedge (1752–1841), zu denen sich zeitweilig auch beider Bekannte Leopold Günther von Goeckingk (1748–1828), ein noch heute lesenswerter Reiseschriftsteller, und der Theaterdichter (»Der neue Doktor Faust«, 1782) Johann Friedrich Schink (1755–1835) gesellten. Alle vier kannten den späteren Erneuerer des deutschen Kriminalrechst Johann Paul Anselm Feuerbach (1775–1833) und führten den Juristen in Anna Dorotheas Musenhof ein. Seit 1790 war Anna Dorothea mit dem Mäzen Schillers, Christian Gottfried Körner (1756–1831), befreundet, der zusammen mit seinem heranwachsenden Sohn Theodor Körner (1791–1813) mehrmals in L. weilte. Goethe kannte die Herzogin, von deren »Anmut« er sehr angetan war, von Karlsbad her und besuchte sie am 29./30. 9. 1810 in L. Jean Paul (1783–1825) kam im August/September 1819 für drei Wochen von Bayreuth, als Anna Dorotheas Salon einer neuen Blüte entgegen ging. An keiner »Fürstentafel« hatte er sich je so frei gefühlt: »Da hatte ich endlich jene Nacht des Himmels, nach der ich mich durch meine leere Jugend hindurch so oft gesehnt.« Sogar seine Qualitäten als Tänzer will der inzwischen sehe behäbige Mann in L. entdeckt haben. Beim Blinde-Kuh-Spiel konnte er die Herzogin sogar küssen. Dass aber auch die Unterhaltung mit hohem Niveau geführt wurde, war auch der spätere Lexikon-Gründer Friedrich Arnold Brockhaus (1772–1823) und der Mineraloge und Ronneburger Badedirektor Friedrich Gabriel Sulzer(1749–1830)zu danken, denn sie stellten völlig neue Themen zur Diskussion. Eine besondere Farbe fügte der fürstliche Sonderling Emil August (1772–1822) hinzu, den Jean Paul von Gotha her kannte. Bindungen besonderer Art bestanden zur Schriftstellerin Adelheid von Gerschau (1801–91), deren Vater ein illegitimer Spross des Herzogs von Kurland gewesen sein soll. In L. lernte G. den mit Brockhaus befreundeten vormaligen Burschenschafter und linken politischen Denker August Daniel von Binzer (1793–1868) kennen und heiratete ihn 1822. Gerschau fasste später ihre Erinnerungen in dem Werk »Drei Sommer in Löbichau« (1877) zusammen.
Hervorhebenwert sind Anna Dorotheas berühmte Töchter: Wilhelmine von Sagan (1781–1839), erzogen von einer Schwester des Weltumseglers und Jakobiners Georg Forster, wurde in Wien eine berühmte Saloniere und die Geliebte des österr. Kanzlers Clemens Fürst von Metternich. Reisen führten sie durch halb Europa und in die Häuser bedeutender Männer. Seit 1819 lebte sie auf ihrem Schloss im niederschles. Sagan. – Dorothée de Talleyrand-Perigord (1793–1862), geboren im Schloss Friedrichsfelde (heute Berlin) und erzogen im Umfeld König Friedrich Wilhelms IV. Ihr Erzieher war Scipione Piattoli, Berater des letzten poln. Königs und Mitglied der poln. Verfassungskommission (Verfassung vom 3. 5. 1791). Am 17. 4. 1809 wurde sie in Frankfurt/M. von K. Th. von Dalberg (®Erfurt) mit Edmund de Talleyrand-Perigord (1787–1872), Neffe des allmächtigen franz. Außenministers Charles Maurice de Talleyrand (1754–1838), dessen intime Freundin einst ihre Mutter war, getraut. 1830–34 lebte sie in London, wo ihr Gemahl franz. Botschafter war, dann in Paris und auf dem Loire-Schloss Valencay. 1844 erwarb sie die Herrschaft Sagan. Später kehrte sie als Hofdame von Kaiserin Eugenie nach Paris zurück.
Abb. 1: Ansichtskarte, um 1900 / Abb. 2: Foto: Jens-Fietje Dwars.
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