Dagmar von Gersdorff – »Die Schwiegertochter. Das Leben der Ottilie von Goethe«

Person

Ulrich Kaufmann

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Ulrich Kaufmann

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in: Palmbaum, Heft 1/2022.

Ulrich Kauf­mann

An Goe­thes Seite

 

Die Grund­these des Buches: Otti­lie habe sich bereits in jun­gen Jah­ren als Toch­ter des Dich­ters gefühlt, zumal dies auch Goe­the bald so akzep­tierte. Gleich zu Beginn des Ban­des wird die­ser Wunsch ange­deu­tet, im Schluss­satz dann bekräf­tigt: »Sie war Goe­thes Toch­ter.« Das künst­le­risch hoch­be­gabte, bild­hüb­sche Mäd­chen hatte eine her­aus­ra­gende Sing­stimme, die auch Goe­the anzog. Otti­lie, geb. von Pog­wisch, war ohne Vater auf­ge­wach­sen. Die­ser ver­spe­ku­lierte sich mit sei­nen Län­de­reien und lebte von der Fami­lie getrennt. Schon die junge Otti­lie saß gele­gent­lich am Mit­tags­tisch bei den Goe­thes. Gewiss hat Goe­the bei ihrem Namen an die rei­zende junge Frau aus sei­nem Roman Die Wahl­ver­wandt­schaf­ten (1809) gedacht. Dem Leser wird bald klar, dass Otti­lies ganze Zunei­gung dem Dich­ter galt. Die Ehe­schlie­ßung mit Goe­thes Sohn August hiel­ten viele Men­schen ihres Umfel­des für ein gro­ßes Wag­nis, für einen Irr­weg. Für Otti­lie und August war sie ein Unglück. Nach dem Tode Chris­tia­nes, der Ehe­frau Goe­thes, über­nahm Otti­lie für 15 Jahre das Zep­ter am Frau­en­plan. Mit Empa­thie und Tole­ranz schreibt von Gers­dorff über eine Frau, die wahr­lich umstrit­ten war und dies noch immer ist. Auf ihr Vor­ha­ben war die Autorin glän­zend vor­be­rei­tet, da sie u.a. die Bücher Goe­thes Mut­ter (2001) und Goe­thes Enkel – Walt­her, Wolf­gang, Alma (2008) geschrie­ben hatte. Das Buch ist leser­freund­lich in zehn Kapi­tel geglie­dert. Es wurde mit einem wis­sen­schaft­li­chen Appa­rat ver­se­hen. So ist es für Freunde bio­gra­fi­scher Lite­ra­tur und glei­cher­ma­ßen für die For­schung von gro­ßem Wert. Otti­lie von Goe­the (1796–1872) warf man vor allem vor, dass sie sich zu wenig um die Küche und ihre Kin­der geküm­mert habe. Am Ende ihres beweg­ten Lebens ent­schul­digt sie sich für Letz­te­res bei ihren Söh­nen Walt­her und Wolf­gang. (Die geliebte Toch­ter Alma wurde nur 16 Jahre alt.) Statt­des­sen war Otti­lie täg­lich aus­gie­big beim »Vater«, sah Texte durch, dis­ku­tierte und ord­nete sie. Goe­the öff­nete nach Gesprä­chen mit Otti­lie noch­mals den bereits ver­schnür­ten Faust II. Er hatte nach dem Vor­le­sen bemerkt, dass ihn der Schluss der Klas­si­schen Wal­pur­gis­nacht noch nicht völ­lig über­zeugte. Vor allem in schwie­ri­gen Zei­ten, bei Krank­hei­ten, auch am Ster­be­tag weilte Otti­lie hin­ge­bungs­voll an Goe­thes Seite. Die letz­ten Worte des Dich­ters sind durch sie über­lie­fert. Der zweite Vor­wurf gegen Otti­lie war, dass sie schon vor, wäh­rend und nach der Ehe »leicht ent­flamm­bar« war. Oft hat­ten es ihr junge Eng­län­der ange­tan, in die sie sich schnell ver­liebte. Über Jahre befand sich Goe­the zwi­schen allen Stüh­len. Er erspürte und ver­stand den Lie­bes­hun­ger der jun­gen Frau, zugleich litt er mit sei­nem Sohn. Noch zu Leb­zei­ten Goe­thes mel­dete sich Otti­lie von Goe­the auch als Autorin und »Chef­re­dak­teu­rin« zu Wort: Mit Ecker­mann, der ihr Ver­trau­ter war, grün­dete sie Ende 1829 die Zeit­schrift Chaos. Er ver­sah als Ein­zi­ger in die­sem Blatt seine Gedichte mit Klar­na­men. Stän­dige Autoren der Zeit­schrift waren neben Goe­the Karl von Hol­tei und Men­delsohn. Im ers­ten gedruck­ten Heft sind u.a. Fou­qué, Cha­misso, Adele Scho­pen­hauer, Kne­bel und selbst­re­dend Goe­the ver­tre­ten. Das letzte Exem­plar hielt Goe­the vor sei­nem Tode noch in den Hän­den. Die Män­ner lagen Otti­lie zu Fü.en. Durch­ge­hend stellt Gers­dorff dar, wie wesent­lich es für Goe­thes »Toch­ter« war, dass sie über Jahr­zehnte enge Kon­takte zu ihren Freun­din­nen pflegte. Ihre Urfreun­din in Wei­mar war Adele Scho­pen­hauer. Her­vor­ge­ho­ben sei die iri­sche Schrift­stel­le­rin Anna Jame­son. Sie por­trä­tierte Otti­lie in einem ihrer Bücher als Dame »von edler Gesin­nung, impul­siv, anmu­tig und so lie­bens­wür­dig«, wie sie dies nie­mals erlebt habe. Das war eine Lie­bes­er­klä­rung. »Zärt­lich­keit zwi­schen zwei Frauen«, schreibt Dag­mar von Gers­dorff, war für Otti­lie jedoch suspekt. Jahr­zehn­te­lang hielt die Freund­schaft mit Anna Jame­son. Die betuchte, geschie­dene Schrift­stel­le­rin half der »Bett­le­rin von Wei­mar« (S. 200), die sich nach Goe­thes Tod neu fin­den musste. Oft wech­selte sie den Wohn­sitz, immer wie­der hatte sie finan­zi­elle Pro­bleme. In größ­ter Not befand sich Otti­lie, als sie in aller Heim­lich­keit in Wien eine Toch­ter gebar, die nach weni­gen Mona­ten starb. Die Autorin legt ein gedie­ge­nes, auf­schluss­rei­ches Buch vor, das man­ches Neue über das Leben der Schwie­ger­toch­ter Goe­thes zu Tage beför­dert. Vor allem gelingt Dag­mar von Gers­dorff ein aus­ge­wo­ge­nes Por­trät. Es wird dazu bei­tra­gen, dass Otti­lie von Goe­thes Leben nicht wei­ter­hin vor allem auf ihre Affä­ren, Eska­pa­den und Schwä­chen redu­ziert wird. Der Leser erlebt eine soli­da­risch ein­ge­stellte, viel­sei­tig begabte, starke Frau mit blei­ben­den Ver­diens­ten. Otti­lies engste und längste Her­zens­bin­dung fühlte sie in den 15 Jah­ren, die sie mit ihrem »Vater«, dem Dich­ter Goe­the ver­brin­gen durfte.

 

  • Dag­mar von Gers­dorff: Die Schwie­ger­toch­ter. Das Leben der Otti­lie von Goe­the, Insel Ver­lag, Ber­lin 2021, 312 S.
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