Christoph Dieckmann – »Mich wundert, daß ich fröhlich bin. Eine Deutschlandreise«

Person

Dietmar Jacobsen

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Dietmar Jacobsen

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Wie­der­ge­le­sen von Diet­mar Jacobsen

»Aus dem Hin­ter­grund müßte Rahn schießen.«

 

Deutsch­land­rei­sen haben Kon­junk­tur. Vor allem seit die bei­den vier­zig Jahre von­ein­an­der getrenn­ten Lan­des­teile sich gegen­sei­tig wie­der­ent­de­cken. Da gras­sie­ren zuneh­mend Neu­gier und Ent­de­cker­lust, macht man sich auf, um im fremd Gewor­de­nen nach dem ver­lo­re­nen Eige­nem zu suchen oder ein­fach nur stau­nend die Augen auf­zu­rei­ßen. Texte von Chris­tian Kracht, Roger Wil­lem­sen, Tho­mas Rosen­lö­cher, Michael Schind­helm, Peter Rich­ter, Mat­thias Matu­s­sek, Wolf­gang Büscher, Clau­dia Rusch und Monika Maron – um nur einige der in die­sem Zusam­men­hang wich­ti­gen Autoren zu nen­nen – wur­den in den letz­ten Jahr­zehn­ten die­sen Bedürf­nis­sen gerecht. Auf den unter­schied­lichs­ten Wegen näher­ten sie sich ihrem Land – mal des­sen äußere Grenze abwan­dernd (Büscher), mal in seine geschicht­li­chen Tie­fen ein­drin­gend (Matu­s­sek), mal den Spu­ren bekann­ter Vor­fah­ren fol­gend (Rosen­lö­cher), mal von den Wech­sel­fäl­len der eige­nen Bio­gra­fie gesteu­ert (Schind­helm, Maron, Rusch). Allein die rasante Ver­än­de­rung der deut­schen Wirk­lich­keit seit 1989/90 ließ immer nur für den Moment gül­tige Ein­drü­cke zu. So mochte, was Wil­lem­sen bei sei­ner Stipp­vi­site in den neuen Län­dern 2002 beob­ach­tete, zwar durch­aus rich­tig sein, ein paar Jahre spä­ter aber konn­ten die Dinge schon wie­der ganz anders liegen.

Und hier nun kommt Chris­toph Dieck­mann ins Spiel. Seit sei­nem ers­ten Buch, dem 1991 im Ch. Links Ver­lag erschie­ne­nen Sam­mel­band My Genera­tion, bemüht sich der als Ost­re­por­ter bekannt gewor­dene ZEIT-Autor, alle drei, vier Jahre die Welt, die ihn von Kind­heit an prägte,  samt den in ihr seit über zwei Jahr­zehn­ten statt­fin­den­den Ver­än­de­run­gen auch Nicht-ZEIT-Lesern nahe­zu­brin­gen. Denn nach wie vor hat sich an der Situa­tion, dass es in den so genann­ten Neuen Län­dern keine das Regio­nale über­grei­fen­den seriö­sen Medien gibt, nichts geän­dert. Vor BILD schre­cken die einen zurück, vor dem Neuen Deutsch­land die ande­ren. Dazwi­schen herr­schen die Leere und der MDR. Die­sen für Miss­ver­ständ­nisse aller Art offe­nen Raum mit sach­li­cher Infor­ma­tion zu fül­len, hat sich der 1956 in einem ost­deut­schen Pfarr­haus Gebo­rene zur Auf­gabe gemacht. Dabei tritt er weder als Nost­al­gi­ker noch als Ost­al­gi­ker auf, insis­tiert da, wo es nötig ist, und stellt sich für gewöhn­lich auf die Seite derer mit den ver­nünf­ti­ge­ren Argu­men­ten, wobei er sich dabei nicht eben sel­ten unter jenen wie­der­fin­det, denen es schlicht an Lobby gebricht.

Dieck­manns ach­ter Repor­ta­gen­band  ver­sam­melt unter dem Titel Mich wun­dert, daß ich fröh­lich bin zwi­schen 2005 und 2008 Erschie­ne­nes. Man­ches haben wir noch gut in Erin­ne­rung – wie den Bei­trag über Uwe Tell­kamp anläss­lich von des­sen kome­ten­haf­tem Auf­stieg in den Olymp der deut­schen Gegen­warts­li­te­ra­tur vor einem Jahr. Ande­res ist uns lei­der, als es zum ers­ten Mal zu lesen war, durch die Lap­pen gegan­gen. Was umso merk­wür­di­ger ist, als wirk­lich jede unse­rer all­don­ners­täg­li­chen ZEIT-Lek­tü­ren mit einer Autoren­re­cher­che im Inhalts­ver­zeich­nis beginnt. Gibt es dabei nichts von Chris­toph Dieck­mann zu ent­de­cken, fehlt in der Regel auch ein aus­ge­wo­ge­ner Blick des Ham­bur­ger Blat­tes Rich­tung Osten. Erst in jün­ge­rer Zeit ver­mag es eine Dame namens Eve­lyn Fin­ger gele­gent­lich, über dieck­mann­lose Zei­ten hin­weg­zu­trös­ten. Aber zu erset­zen ver­mag sie den fast zu einer Insti­tu­tion gewor­de­nen Mann natür­lich nicht.

Denn der pflegt einen ganz unver­wech­sel­ba­ren Sound, der als Erken­nungs­me­lo­die sei­ner Texte inzwi­schen wun­der­bar funk­tio­niert. Die brau­chen sel­ten ein lan­ges Intro. Schon der erste Satz springt in der Regel mit­ten hin­ein ins Thema und sind Rhyth­mus und Melo­die ein­mal gefun­den, scheint sich der Rest ganz von allein zu schrei­ben. Nicht ver­ges­sen wol­len wir die klei­nen Gesprächs­fet­zen, die wie Sah­ne­häub­chen auf den Arti­keln schwim­men – sie sor­gen für Inten­si­tät, Authen­ti­zi­tät und Witz zugleich. Und wenn er sei­nem Leser eine Wahr­heit ganz tief ein­prä­gen will, endigt Dieck­mann, der sich als Fuß­ball­fan für immer und ewig dem FC Carl Zeiss Jena ver­schrie­ben hat, gele­gent­lich auch ein­mal mit einem sti­lis­ti­schen Aus­flug ins Erhabene.

Was Wun­der, dass einer, der seine Texte so bewusst durch­kom­po­niert, schon immer kennt­nis­reich und enthu­si­as­miert über Musik geschrie­ben hat – zunächst für den Sonn­tag, der nach der Wende in  Frei­tag umge­tauft wurde und inzwi­schen gar nicht mehr wie­der­zu­er­ken­nen ist. Spä­ter dann kam kei­nes sei­ner Bücher mehr ohne die ent­spre­chen­den Bei­träge zu Haus­göt­tern wie Renft oder Neil Young aus. In Mich wun­dert, daß ich fröh­lich bin nun trifft er das CCR-Urge­stein John Fogerty, pil­gert zu einem Kon­zert der  mythen­um­wo­be­nen Band Colos­seum, die es 2007 noch ein­mal nach Dres­den ver­schlug, und lie­fert einen mit­rei­ßen­den Bericht über die Fahrt eines im wahrs­ten Sinne des Wor­tes »lok’n’rollenden« Zugs durchs tief ver­schneite Thü­rin­gen ab.

Obwohl die meis­ten der 19 Bei­träge, die der Band ent­hält, dort ange­sie­delt sind, wo sich ihr Autor nach wie vor am bes­ten aus­kennt, zieht es ihn – und das recht­fer­tigt den Unter­ti­tel – inzwi­schen auch gele­gent­lich in jene Gegen­den Deutsch­lands, die zu beschrei­ben er frü­her lie­ber ande­ren über­ließ. Wir fin­den ihn mit dem­sel­ben Fai­ble für den O – Ton der Straße und sei­nem bekann­ten Gespür für Nuan­cen und Zwi­schen­töne auf Hel­go­land und in Bay­reuth, auf den Spu­ren der 68er Revolte und ihrer Fol­gen in Ham­burg und auf jenen Wil­helm Buschs in Nie­der­sach­sen. Doch nach wie vor am bes­ten ist er in jenen Repor­ta­gen, in die er sein Ges­tern und sein Heute ein­brin­gen kann, seine Her­kunft und die Lei­den­schaf­ten, die ihn schon immer umge­trie­ben haben.

Nahezu hym­nisch etwa klingt es, wenn er das Wir­ken der  »Meis­ter­sin­ger« der DDR-Sport­re­por­tage – Wolf­gang Hem­pel und Hubert Knob­loch -, denen er schon als Kind gebannt lauschte, nach deren Tod noch ein­mal in Erin­ne­rung ruft und augen­zwin­kernd fest­hält: »Es ist wohl doch nicht alles gut gewe­sen in der DDR, doch ihre alten Sport­re­por­ter waren vom Feins­ten.« Nicht min­der inten­siv wir­ken jene Texte bzw. Text­pas­sa­gen, in denen er über Fried­rich Schor­lem­mer schreibt, Wolf­gang Hil­bigs gedenkt, an den Unter­gang Hal­ber­stadts im Bom­ben­ha­gel am Sonn­tag nach Ostern 1945 erin­nert, sich mit Men­an­tes-Enthu­si­as­ten in Wan­ders­le­ben trifft oder Schul­pforta besucht und über all dem heu­ti­gen Bil­dungs­ei­fer der Inter­nats­schule die große Geschichte die­ser Anstalt nicht vergisst.

Allein der Jenaer Fuß­ball scheint uns etwas unter­re­prä­sen­tiert. Liegt das daran, dass des­sen wech­sel­volle Geschichte in den letz­ten Jah­ren mehr »wech­sel« als »voll« war? Wir wol­len dar­über nicht wei­ter spe­ku­lie­ren. Denn so ganz ohne den gelieb­ten Ball­sport tut es Chris­toph Dieck­mann natür­lich nie. Und da die Fuß­ball­welt­meis­ter­schaft 2006 just in den Zeit­rah­men fiel, den alle Bei­träge des Ban­des ver­ge­gen­wär­ti­gen, nutzt der Autor eben die­sen Moment, um noch ein­mal auf sein eige­nes Ver­ständ­nis von Fuß­ball fern aller natio­na­len Eupho­rie und jen­seits sämt­li­cher öko­no­mi­scher Über­trei­bun­gen zurück­zu­kom­men. Und eine tröst­li­che Bot­schaft hat er inmit­ten des kar­ne­va­lis­tisch anmu­ten­den Getüm­mels rund um Klinsi, Schweini und Poldi auch zu ver­kün­den: »Deutsch­lands Front­ge­nera­tion stirbt aus. Aus dem Hin­ter­grund müßte Rahn schie­ßen. Aber Rahn schießt nicht mehr.«

 

  • Chris­toph Dieck­mann: Mich wun­dert, daß ich fröh­lich bin. Eine Deutsch­land­reise. Ber­lin: Ch. Links Ver­lag 2009, 271 Sei­ten, 17,90 Euro, ISBN 978–3‑86153–524‑9
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