Christina Friedrich – »Keller«

Person

Jens Kirsten

Ort

Nordhausen

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Jens Kirsten

Thüringer Literaturrat e.V.

Ein Traum­mus­ter aus der Wirklichkeit

Gele­sen von Jens Kirsten

 

Der Roman »Kel­ler« ist eine inten­sive, bis­wei­len schmerz­hafte Aus­ein­an­der­set­zung der 1965 in Nord­hau­sen gebo­re­nen Schrift­stel­le­rin Chris­tina Fried­rich mit der Geschichte ihrer Geburts­stadt und mit ihrem Land. Zwei kleine Mäd­chen ste­hen am Beginn: Eines ver­brennt bei Kriegs­ende im Bom­ben­ha­gel auf Nord­hau­sen zu Asche und schwebt fortan als Geist über der Geschichte. Das andere wächst in der DDR zu einer jun­gen Frau heran. Diese eigent­li­che Prot­ago­nis­tin als alter ego der Autorin erzählt ihre, unsere Geschichte kon­se­quent im Prä­sens. Ein künst­le­ri­sches Mit­tel, wel­ches der Autorin erlaubt, die Ver­gan­gen­heit ganz unmit­tel­bar auf die Gegen­wart zu pro­ji­zie­ren. Immer wie­der sprengt Chris­tina Fried­rich die nar­ra­ti­ven Stränge auf, wech­selt ins Phan­tas­ti­sche, ins Mytho­lo­gi­sche, in die Abgründe der deut­schen Geschichte, um dann wie­der neu anzu­set­zen. Gleich einem Schelm durch­läuft die Hel­din die Geschichte und gelangt an immer neue Sta­tio­nen: den Bom­ben­an­griff auf die Stadt Nord­hau­sen im April 1945, das ehe­ma­lige Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Mit­tel­bau-Dora, den Harz als mytho­lo­gisch auf­ge­la­de­nen Ort, die Stadt Nord­hau­sen als his­to­risch geschich­te­ten Ort.

Chris­tina Fried­rich setzt sich mit dem Schre­cken des Zwei­ten Welt­krie­ges aus­ein­an­der und ver­sucht als Nach­ge­bo­rene, für das Unsag­bare eine lite­ra­ri­sche Spra­che zu fin­den. Die­ses Rin­gen setzt sich im Ver­lauf des Romans auch in der Aus­ein­an­der­set­zung ihrer Hel­din mit dem Eltern­haus und der DDR-Gesell­schaft fort. Etwa, wenn es um die schwarze Päd­ago­gik des DDR-Erzie­hungs­sys­tems geht, um die unwür­dige Behand­lung von Pati­en­ten in der Alten­pflege und in der Psych­ia­trie oder um den eige­nen Weg der Hel­din ins Erwach­se­nen­le­ben. Als Kind erscheint die Hel­din mit­un­ter etwas alt­klug. Etwa, wenn sie über Dinge spricht, die ein Kind nicht wis­sen kann. Der schein­bar mit leich­ter Hand geschrie­bene Roman ist dabei alles andere als leichte Kost. Im letz­ten Drit­tel des Romans reift die Hel­din zu einer jun­gen Frau, die ihren Weg zu fin­den ver­sucht. Zwei Leh­ren bricht sie ab, arbei­tet dann unge­lernt am Thea­ter. Bei all dem geht es um ihr Rin­gen mit sich selbst, mit der Geschichte und der Gegen­wart. Der Roman endet im Wen­de­herbst 1989 mit der Geburt ihres Kindes.

Immer wie­der schweift Fried­rich von der Rea­li­tät ins Träu­me­ri­sche ab, um dann – meist nach einem star­ken Bruch – wie­der in die Rea­li­tät zurück­zu­fin­den. Der Leser geht mit der Hel­din nolens volens auf eine Reise vol­ler Gedan­ken­sprün­gen, Gedan­ken­split­ter und Asso­zia­tio­nen. Will er dabei den Faden nicht ver­lie­ren, ist er gut bera­ten, bei der Lek­türe am Ball zu blei­ben. »Mit der Schere mei­ner Furcht schneide ich mir ein Mus­ter aus der Wirk­lich­keit.« Die­ser Satz umreißt das Span­nungs­feld, in dem sich Chris­tina Fried­rich beim Schrei­ben bewegt und in dem sich ihre Hel­din, die vom Mäd­chen zur Frau wird, behaup­ten muss. Die Fra­gen, die sie sich bei der Suche nach ihrem Platz im Leben stellt, ihre Suche und der offene Aus­gang des Romans geben ihm einen ganz aktu­el­len Bezug zu unse­rer heu­ti­gen Gesellschaft.

 

  • Chris­tina Fried­rich: Kel­ler, Roman, S. Marix Ver­lag in der Ver­lags­haus Römer­weg GmbH, Wies­ba­den 2021, 374 S., 22 €.
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