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Thema
Christian Rosenau
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Beim Öffnen des Tankdeckels zischte es. Ich tastete nach dem kleinen Hebel für die Zapfautomatik und trat ein paar Schritte zur Seite um dem beißenden Benzingeruch zu entgehen. Den Wachturm hatte ich, bei der Einfahrt in die Tankstelle, durch den Blick auf die Preistafel, tatsächlich übersehen. Ich betrat den Verkaufsraum. An einem der Stehtische lehnte müde ein Fahrer, auf den Ellenbogen gestützt. Sein Kopf trug den Heiligenschein des flackernden Fernsehers, hinter ihm an der Wand. Er rieb langsam einen Wurstzipfel auf dem Teller, als würde er dort ein Mandala malen, dann schob er ihn, ohne hinzusehen, in den Mund und kaute. Er musterte mich kurz, doch gleich
kippte sein Blick wieder ins Weite, und er verfiel wieder in seine vorige Starre, als würde etwas da draußen, tief im Wald, all seine Gedanken absorbieren.
Hinter den Kaugummi-Kaskaden an der Theke tauchte unvermittelt der Kopf der Tankwartin auf, ihr Haar in drei Farben: am Ansatz grauglasig, sonst stumpfer Burgunder mit Goldrand. Sie schob mir Beleg und Wechselgeld herüber, bevor sie wieder hinter der Theke verschwand.
Über ölfleckige Platten ging ich zum Turm: links die Toiletten und die Waschanlage, rechts, auf einem Grünstreifen, ein paar Bänke mit Sicht auf die beschmutzte Leitplanke. Keine Hunde, kein Schlagbaum, kein Fragen nach Papieren und Reisegrund. Nur dieser Turm noch, und über allen Wipfeln das gleichförmig dumpfe Dröhnen der Autobahn.
Vor der Tür: EHEMAHLIGER GRENZÜBERGANG EISFELD-ROTTENBACH. TÜR ÖFFNET NACH MÜNZEINWURF AUTOMATISCH. SIE HABEN 10 SEKUNDEN ZEIT. Es summte. Breiige Luft strömte mir entgegen, angedickt vom jahrzehntelangen viel zu hastigen Atmen, das an den Wänden kondensiert, durch den Keller in die Fundamente gesickert war, in die Wurzel des Turms, um von dort aus faulig wieder empor zu kriechen, alles verschlingend. Überall die schwarzen Speichelspritzer unsichtbarer Zungen, die mir nun zum Willkommen breit über das Gesicht leckten, dass es mir übel wurde. Wie lang wohl hier keiner mehr hinaufgestiegen sein mochte, im Echo seiner quietschenden Schritte? Im Parterre stand ein Tisch mit einer alten Schreibmaschine, ein Rollschrank, ein Flachbildschirm im Gehäuse eines alten RFT-Fernsehers. An den Wänden im Treppenhaus Fotos vom Bau und Betrieb der Grenzanlage. In den Obergeschossen gab es unter einer Glashaube ein Modell, samt Todesstreifen und Selbstschussanlagen, sowie Schaukästen, mit diversen Alltagsgegenständen: Schokolade, Waschmittel, Puppen und Plastiktrabanten, so als bräuchte man Kontrastmittel zu Stacheldraht und Schießbefehl, um unter der Strahlenlampe der Erinnerung, die verstopften Gefäße sichtbar zu machen (– oder trug es nur zu einer weiteren Verstopfung bei?). Und rings die Aussicht durch die großen Scheiben, auf die Tankstelle, den Autobahnzubringer und den Wald.
Hinter einer Trennwand bemerkte ich ein rotes Telefon. Ich nahm den schweren Hörer ab und hielt ihn ans Ohr, es knackte. Für einen Moment erwartete ich tatsächlich, jemand würde sich melden, aus einer anderen Zeit, würde meinen Namen nennen oder eine Weissagung aussprechen. Eine Stimme sagte: „8 Uhr 45. Die Leitung ist frei.“, dann knackte es erneut und war still. Damals stand ein Tonbandgerät in einem versiegelten Schrank unter dem Apparat, es sprang an, so bald man den Hörer abnahm, um jeden Feindkontakt mitzuschneiden.
Ich steckte meinen Zeigefinger in die Wählscheibe und nahm den langen Weg der Null. Die Feder spannte sich, einen Augenblick hielt ich sie, zog den Finger heraus und verfolgte den gedämpft surrenden Weg der Wählscheibe zurück und schloss die Augen.
Meine Großmutter hatte ein graues Telefon im Flur, eine private Seltenheit in meinem Heimatdorf, die sich ihrem Amt als Bürgermeisterin verdankte.
Manchmal, wenn ich mich unbeobachtet wähnte, setzte ich mich auf den Karussell-Sessel im Flur und spielte mit dem Apparat. Auf einem kleinen Kärtchen unter dem Hörer stand die eigene Nummer 5411, manchmal wählte ich sie, es war jedoch immer besetzt. Ich fand es verblüffend, dass man nur eine scheinbar beliebige Zahlenkombination zu wählen brauchte, und dann würde ein Zugang gelegt, würde sich jemand am anderen Ende melden. Jemand aus einem anderen Land, ein Junge vielleicht, was wollte ich sagen? Von meinen Freunden hatte keiner ein Telefon. Da mir der Mut fehlte, es aufs Geratewohl zu probieren, ließ ich den Hörer meist auf der Gabel liegen, betätigte die Wählscheibe, nahm dann ab und sprach zum Rhythmus des Freizeichens, wobei sich jedes Wort in die Pausen fügte. Ich sagte mmh, ach und ja, oder morgen kommen die Kohlen.
Die einzige Nummer, die mir von Großmutter einmal genannt wurde, war 019, die Nummer der automatischen Zeitansage. Was für ein Wunderding! Ich wählte sie und lauschte dem Ton und der sich scheinbar endlos wiederholenden Ansage der gleichen Uhrzeit, bis irgendwann wieder ein Ton zu hören war, dem plötzlich eine neue Minutenansage folgte. Obwohl ich die Uhr schon lesen konnte und vom Gleichschritt des Sekundenzeigers wusste und wie er die anderen Zeiger unnachgiebig voran schob, entsprach die Zeit in meiner Vorstellung eher noch einer gedehnten Gegenwart, die etwa einen Vormittag umfassen konnte, bis sie unterbrochen wurde und ihr somit ein neue folgte.
Einmal fiel mir auf, dass der Sekundenzeigen auf dem Ziffernblatt der Küchenuhr zur vollen Minute immer eine kleine Pause einlegte, als ob er Kraft sammeln müsste, um den Minutenzeiger über die Grenze zu hieven. Er hielt kurz inne, und bewegte dann mit einem desto nachdrücklicheren Klicken den Minutenzeiger, dann lief er bis zur Eins merklich schneller, um seinen Rückstand wieder aufzuholen.
Es kamen häufig Leute in Großmutters Haus um zu telefonieren. Sie entschuldigten sich wortreich für die Umstände und gaben freimütig Grund und Ziel des Anrufs an. Ich erinnere mich, dass die Besucher, jedes Mal in eine fremde, komplizierte Sprechweise verfielen, in einen sorgfältig über die Jahre geschulten Mechanismus, duldsam gegenüber jeder behördlichen Willkür. Dieses Sprechen war fern, wie abgelöst von ihrem Wesen, als würde es ihre Empfindsamkeit verbergen wollen, aus Stolz oder Scham, war es gleichwohl devot und unnahbar. Dabei waren die Fernsprechenden keineswegs Fremde, sondern vertraute Gesichter: der Nachbar, die Postfrau, die Wirtin etwa – Bewohner des Dorfs, das damals nicht mehr als hundert Seelen zählte, und die, bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße, ganz anders sprachen. Meine Großmutter nahm eine ebenso steife Haltung ein, legte die Hände unter dem Brustbein ineinander und bat den Besucher herein, wies ihm den Platz auf dem Sessel an und ging mit mir in die Küche.
Wenngleich man von dort jedes Wort hören konnte, wäre es undenkbar gewesen nach draußen zu gehen oder die Etage zu wechseln. Also versuchte Großmutter irgendeiner geräuschvollen Tätigkeit nachzugehen, dann fragte sie mich, bestimmt, jedoch blicklos: und, was habt ihr heut in der Schule gelernt? oder: weißt du, wann deine Mutter heut kommt? Während ich antwortete sortierte sie Geschirr oder kehrte den Ofen aus, denn Asche gab es immer. Und wenn ich nichts mehr sagen konnte, seufzte sie mehrmals kurz hintereinander, manchmal mit offenen, manchmal mit geschlossenen Lippen, so als würde ihre Stimme in kurzen Stößen das Ausatmen stützen wollen, um die Lunge restlos auszuleeren. Dann holte sie tief Luft und ließ sie wieder durch die Nase heraus und begann ihre Repetitionen nach jedem dritten Zug von Neuem. Ab und an suchte sich ihr stimmvolles Atmen andere Vokale oder gar eine Silbe, und es kam ein leises Tja, ein Nja heraus.
In ihrem Seufzen lag keine Klage oder gar Drohung, denn es galt weder mir noch irgendjemandem, es galt sich selbst. Als wollte sie mit ihrer Stimme dem absichtslos lauschenden Ohr Vorschub leisten, sich gewissermaßen selbst belauschen in der Stille, um dem Klirren der Gläser, dem Kehrgeräusch des Besens etwas hinzuzufügen und es damit zu verstärken. Als bräuchte es diese Bekräftigung um durch die Tür auch mit dem dort Sitzenden Kontakt aufzunehmen und ihm gleichwohl Diskretion zu vermitteln. Ungeachtet, dass dem Besucher zu jeder Zeit bewusst gewesen sein dürfte, dass er nicht allein war.
Es waren meist recht kurze und wohl kaum privat zu nennende Telefonate, die für mich keinerlei Bedeutung hatten. Nachdem sich der Besucher durch unnötiges Räuspern oder Klopfen draußen bemerkbar gemachte hatte, tat meine Großmutter überrascht und geleitete ihn zur Tür, während ich langsam hinterher marschierte und behutsam die Asche…
Es summte, von unten stiebten Stimmen in den Turm, die Leitung war getrennt.
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