Metrostation Maalbeek
Metrostation Maalbeek, Linie 1, Linie 5. Seit dem 22. März der blutigste Fleck in Europas Hauptstadt, die Mördergrube von ganz Europa.
Die Züge der Linien 1 und 5 sind fast immer pickepackevoll, es sind die meistbefahrenen der Stadt. Seit Jahren komm ich hier praktisch täglich vorbei. In der Station Merode, fünf Minuten von meiner Haustür entfernt, steige ich ein und fahre Richtung Zentrum. Und so heißen die Stationen: Merode ‑Schuman – Maalbeek/Maelbeek – Kunst-Wet/Arts-Loi – Park/Parc – Centraal Station/Gare Centrale – De Brouckère – Sint-Katelijne/SainteCatherine und so weiter. Man merkt, Brüssel hat zwei offizielle Sprachen und die Stadt will beide zeigen. Ich sehe diese Reihenfolge, ganz oder zum Teil, jede Woche von Neuem an mir vorbeiflitzen, fünf Mal, zehn Mal, manchmal noch öfter. Denke ich dabei an Bomben und Granaten? Aber nein.
Wohl beschlich mich mehrfach der Gedanke, sag mal, worauf warten eigentlich die Jihadis noch? Sie haben in New York zwei Türme pulverisiert, ein paar tausend Leichen, in Madrid, Bahnhof Atocha, die S‑Bahn in die Luft gejagt, fast zweihundert Tote, sie haben in London die U‑Bahn in die Luft gejagt, über 50 Tote, im Bataclan, Paris, haben sie sich selbst in die Luft gejagt und Dutzende andere dazu, in Bagdad und Aleppo gibt es mehr Explosionen als Häuser, über die Anzahl der Toten trau ich mich gar nicht nachzudenken. Und hier steh ich zur Hauptverkehrszeit in der Brüsseler Metro, mit einem schlappen Tausend anderer Passagiere, wie Sardinen aufeinandergepackt, wir fahren genau unter dem Hauptquartier der Europäischen Union durch und es gibt keinen einzigen fanatisierten Bartheini, der auf die Idee kommt, den Märtyrer rauszuhängen?
Das dachte ich mir und ich ging, wie tausend andere, zur Tagesordnung über.
Bis zum 22. März.
Am 22. März mußte ich nach Antwerpen. Vorsitz in einer Jury. Ein Gedichtwettbewerb für Schulen. Um 10.15 Uhr sollte ich dasein, so wollten es die Organisatoren. Und so kam es auch, denn ich bin ein verdammt pünktlicher Mensch, immer noch, und es ist höchstens 50 Kilometer entfernt.
Stellen Sie sich nur mal kurz vor, die braven Leute hätten mich für 10.45 eingeladen. Dann hätte ich mein Haus wohl ein paar Minuten später verlassen. Dann hätte ich eine etwas spätere Metro genommen, von Merode nach Schumann nach Maalbeek/Maelbeek und von da Richtung Centraal Station.
Dann wäre ich wohl explodiert. Oder durch einen stockdunklen Gang an die Erdoberfläche gekrochen, vielleicht mit einem Bein oder einen Arm weniger.
Und wie kannst Du jetzt und nächste Woche und danach diesem durch und durch verblendeten Gesindel zeigen, daß es verdammt noch mal im Unrecht ist? Jetzt und immer wieder im Unrecht?
Einfach dadurch, daß Du wieder jeden Tag die Metro nimmst, immer wieder, jedenfalls sobald das blöde Ding wieder fährt. Ich muß das tun, und das müssen Tausende und Abertausende auch tun. Mit Angst? Ja, auch, natürlich, selbstredend. Aber vor allem mit dem festen Willen unser Leben so zu führen wie wir das wollen, wir alle zusammen, natürlich, und zwar mit allen unseren belgischen Verschiedenheiten, allen Unterschieden in Sprachen und Religionen.
In diesen tragischen Tagen nimmt das Volk von Brüssel friedlich seine Stadt in Beschlag. Hunderte von Kerzen brennen auf dem Börsenplatz, dem guten Herzen der Stadt. Mit Malkreide werden freundliche Botschaften dem Pflaster anvertraut. Sogar das Sprachen-Kriegsbeil haben wir begraben. Auf einem Betttuch lese ich »Nous sommes Bruxelles / Wij zijn Brussel.« – »Wir sind Brüssel« auf Französisch und Niederländisch.
Du kannst das natürlich leicht abtun und einfach wegfegen – »Aufstand der falschen Gefühle« heißt das dann.
Aber so einfach ist das nicht.
Brüsseler sind wesentlich widerstandsfähiger als ausländische Beobachter für möglich halten. Im ersten Weltkrieg schrieb einer unserer größten Dichter, Karel van de Woestijne, eine Artikelserie für eine bedeutende Niederländische Zeitung (die Niederlande waren damals neutral); er schrieb sie aus dem (vom deutschen Kaiserreich) besetzten Brüssel, wo er wohnte. So eine Besetzung, so ein Weltkrieg vier Jahre lang, das ist wahrlich kein Pappenstiel! Der sonst so schwermütige Van de Woestijne bewunderte die Brüsseler sehr. Weil sie es auch in den dunkelsten Zeiten fertigbrachten, sich ihre Sorglosigkeit, ihre Selbstironie, ihren unbezähmbaren Anarchismus und ihre Vorliebe für das Absurde zu bewahren.
Ich weiß, die Zusammensetzung der Bevölkerung hat sich seitdem bis zur Unkenntlichkeit verändert. Aber ganz offensichtlich saugt Brüssel alle die Ströme von Ausländern auf und verwandelt sie, egal was passiert, nach einer gewissen Zeit in echte zinnekes – so nennen wir in Brüssel eine bestimmte Sorte von meist schwarz-weiß gefleckten Straßenkötern, sie sind von ziemlich gemischter Rasse und zweifelhafter Herkunft, aber lieb, sehr treu, sehr schlau und unheimlich stark. Wir alle, wir Brüsseler waren und sind immer noch zinnekes, und zwar mehr und in einem tieferen Sinn als wir zugeben wollen, auch die von uns, die noch nicht so lange hier gelandet sind. Im Inneren wissen wir, daß wir alle Bastarde sind und es stört uns nicht, im Gegenteil. Ich habe großes Vertrauen in die unbekümmerte Fröhlichkeit, die unbezähmbare Ur-Brüsseler Idee vom Leben und Lebenlasssen.
Alle zwei Jahre zieht hier in Brüssel die große »Zinneke-Parade« quer durch die Stadt, eine kolossale, verrückte Prozession. Die Teilnehmer treiben ihren Spott mit allem und jedem und vor allem mit sich selbst. Aber das ist nicht beschränkt auf eine Parade alle zwei Jahre. es ist eine Lebenseinstellung. Es ist eine Praxis des Überlebens quer durch alle unsere Verschiedenheiten. Das ist unsere Art, damit klarzukommen: Eine tägliche, eine unendliche Zinneke-Parade.
Übersetzung aus dem Niederländischen: Christoph Schmitz-Scholemann.
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