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Bernd Ritter
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
1
2022
Das Gedächtnis tritt als Zeuge auf. Zeugen schwanken: Was erinnern sie? Wann? Wie?
Heimat verändert sich bis zur Unkenntlichkeit – sie kommt uns abhanden.
Die Mutter ist 93 Jahre alt. Ihre Ehemänner sind längst gegangen, ein jeder auf seine Weise.
Brüder und Schwestern sind gestorben, Freunde und Bekannte ebenso. Deren Kinder und Kindeskinder sind eingezogen in die Häuser ringsum.
»Die, die fortgingen, Ende der 1950er Jahre, gingen in der Nacht«, sagt Mutter. Dreißig Jahre später, Ende der 1980er Jahre, sei das anders gewesen.«Die, die damals gingen, gingen am Tage.
Aber immer haben wir, die blieben, Gründe für unser Bleiben finden müssen«.
Ihr Blick streift mich wie ein Schatten. »Hier kenne ich Niemanden – ich will nach Hause«.
1954
Da, wo ich geboren bin, sprechen die Menschen in einer Mundart, die einst, zu Mozarts Zeiten, als vorbildlich gegolten haben soll. Sie sei als zierlich, sanft und gemütlich beschrieben worden. Die Sprache ist geblieben – das Urteil hat sich ins Gegenteil verkehrt. Solange wir unter uns sind, lässt uns das kalt.
Die ersten Tage im Juli. Feuchtwarme Mittelmeerluft sei in nordöstliche Richtung geströmt und auf ein Hochdruckgebiet über Nordosteuropa getroffen. Kaltluft habe sich an der Nordseite des Erzgebirges gestaut, sei zum Aufsteigen gezwungen worden und abgeregnet. Drei Tage und drei Nächte lang. Dann habe der Regen Pause gemacht: drei Tage und drei Nächte lang. Als er sich erholt habe, hätte er das Wässern fortgesetzt – drei Tage und drei Nächte lang.
»Wie aus Eimern hat es geschüttet«, erzählten die Leute.
Niemand habe den Vergleich mit der Sintflut bemüht – nicht, weil der nicht zugetroffen hätte, da die biblische Katastrophe 40 Tage und 40 Nächte gedauert haben soll, was ohnehin keiner sich habe vorstellen können, der das irdische Hochwasser der Mulde erlebt hätte -, sondern weil es in dieser Zeit in diesem Landstrich kaum noch bibelkundige Christen gegeben habe.
Die Mulde sei angeschwollen und lehmig-braun geworden, als hätte sie was Schlechtes gegessen. Dann habe sie gespuckt und sich übergeben. Die Flussauen seien zuerst vollgelaufen, danach die Gassen und die Häuser der Unterstadt.
»Wie in Venedig war’s gewesen, nur ohne Gondoliere«, sagt Großvater. Im Krieg sei er in Italien gewesen, als Sanitäter. »Nebel über den Wassern gibt’s hier auch«, sagt Großmutter, die noch nie in Italien gewesen sei.
Entwurzelte Bäume seien wie Leichen in der trunkenen Flut getrieben und Reste von Gartenzäunen und Holzschuppen hätten sich quer vor die Brückenpfeiler gelegt. Man habe sprengen müssen, um die Brücke zu retten. Die Rotarmisten aus der Kreisstadt hätten am Mittag mit einem Schlauchboot den Sprengstoff platziert. Splitter und Wasserfontänen seien wie aufgeschreckte Vögel durch die Luft geflogen. Leider auch Teile eines Brückenpfleilers.
Bis dahin, in den ersten Vormittagsstunden, hätte man den Übergang passieren können. Erst gegen neun sei es zu spät gewesen. Der Umzugswagen sei auf dem Rücken der Brücke zum Stehen gekommen. Die Häuser auf der Anhöhe, drüben, hinter dem Fluss, hätten im Sonnenlicht gefunkelt.
»Seit fünf waren wir unterwegs«, sagt Großmutter. »Gebummelt habt ihr«, sagt Großvater
2
Das Dorf, das sie verlassen hatten, lag unweit der Hubertusburg.
»Dort hat der Preußen-Fritz mit der Kaiserin Maria Theresia von Österreich den Siebenjährigen Krieg beendet«, sagt Großmutter.
»Dort hatten sie August Bebel und Wilhelm Liebknecht eingesperrt«, sagt Großvater.
»Dort wurden Stuka-Flieger gefüttert. Sie heulten wie die Sirenen ihrer Flugzeuge«, wird Mutter später erzählen. Und auch, dass die Papierfabrik am westlichen Ufer der Mulde ständig gewachsen sei. »Feines Schreibpapier war wichtig im Krieg – so wichtig wie die Stukas.«
Dass man Menschen durch Bomben töten konnte, wusste ich von Großmutter. Die hatte vom Nachthimmel über Dresden erzählt.«Ein glühender Fleck – als würden sogar die Wolken brennen«. Dass man Menschen durch beschriebenes Papier töten konnte, begriff ich erst später.
Am 16. April 1945 seien die Amis gekommen – und geblieben. »Die Mulde war ihre Haltelinie. Die Amis im Westen, die Rote Armee im Osten – dazwischen Flüchtlinge und geschlagene Soldaten«, sagt Großvater.«Die Werksbrücke der Papierfabrik war die einzig intakte Verbindung weit und breit.« Die Amis seien über diese Brücke Patrouille gefahren ins östliche Land – bis zur Elbe. Dort hätten sie die ersten Rotarmisten getroffen – früher als in Geschichtsbüchern geschrieben stehe.
Großvater habe seit Kriegsende in der Fabrik gearbeitet. Zuerst hätten er und andere die Papiermaschinen abgebaut und eingepackt für den Transport in die Sowjetunion, dann hätten sie mit der Fertigung von Zellstoff begonnen. Er habe im Kollergang gearbeitet, habe Holz und Altpapier zu Brei zermahlen.
Die Fabrik habe Arbeiter gebraucht; die Arbeiter hätten Wohnungen gebraucht. Der erste Neubaublock sei Anfang Juni bezugsfertig geworden.
»Eine Woche lang hatten wir geräumt. Es sollte unsere letzte Fuhre sein,« sagt Großmutter. Großvater sei auf der Brücke vom Wagen gestiegen und habe mehrfach in den Fluss gespuckt.«Als hätte das was geändert«, sagt Großmutter. .
Sie sei sitzen geblieben, daneben die Tochter, meine Mutter; dahinter die beiden Mädchen, meine Schwestern, vier und fünf Jahre alt. Das dritte Kind, den Säugling, mich, hätte sie, die Großmutter, im Arm getragen. Ich hätte geschlafen. Meine Mutter sei blass und übernächtigt gewesen. »Säuglinge nehmen sich, was sie brauchen«, sagt Großmutter. Sie sei vom Wagen gestiegen – das schlafende Baby, mich, im Arm – und langsam zu den Männern in den dunkelblauen Uniformen der Volkspolizei gegangen.
«Zu viert hatten die sich aufgebaut. Hinter einer Schranke und einer Rolle Stacheldraht«, sagt Großvater. Doch plötzlich, ohne Streit und laute Worte, hätten die Männer die Schranke geöffnet und den Stacheldraht beseite gerückt.
»Was hast du denen gesagt, Großmutter?«
»Ich weiß es nicht mehr.«
»Nichts hat sie gesagt«. Großvater lacht. »Sie hat dich kleinen Scheißer den Kerlen unter die Nase gehalten.«
1961
Lothar, der erste Freund, an den ich mich erinnere, wohnte in unserem Neubaublock, im mittleren Eingang. Wir sahen uns täglich, beachteten uns jedoch nicht oder nur verstohlen, so aus dem Augenwinkel heraus. Lothar besaß ein rotes Kinderfahrrad, auf dem er wie im Zirkus Runden drehte. Das Rad würde »mitwachsen«, sagte Großmutter. Das habe Lothars Großmutter gesagt. Lothars Onkel, einer der drei Söhne von Lothars Großmutter, habe dem Jungen das Schmuckstück geschenkt. Der Onkel wohne in West-Berlin.
3
Jeden Sonnabendnachmittag gingen wir Kinder aus dem Neubaugebiet, sechs oder sieben Jahre alt, zu fünft oder zu sechst in den »Albert-Kuntz-Filmpalast« auf den so genannten Kinoberg.
Die von Neonröhren erleuchteten Glasvitrinen kündigten die neuesten Filme an:«Die Geschichte vom kleinen Muck«, »Der Moorhund«, »Kotschubej«.
Für 25 Pfennig Eintritt saßen wir wie Könige und Prinzessinnen in gepolsterten Klappstühlen und kreischten vor Freude, wenn der kleine Muck den großen Läufer des Sultans kurz vor der Ziellinie überholte oder wenn Kotschubej und seine wilde Reiterschar die Feinde reihenweise in den Staub der sowjetischen Erde schickten.
Lothar hielt sich zurück, saß – die Arme vor der Brust verschränkt – steif wie eine ägyptische Mumie da und starrte auf die farbigen Bilder, die der schnurrende Vorführapparat auf die Leinwand zauberte. Ich dachte tatsächlich, er sei nicht gesund, habe etwas mit der Wirbelsäule oder würde stottern – bis er eines Tages vor unserer Wohnungstür stand.
Seit eine Woche lag ich mit Fieber im Bett und hatte den aktuellen Film verpasst: »Sheriff Teddy«
Lothar zeigte mir das Programm-Heft zum Film und erzählte anhand der Fotos Kalles Geschichte: Kalle Becker, ein Junge aus Westberlin, musste mit seiner Schwester Jojo in den Osten der Stadt ziehen. Wegen der Eltern. Die hatten dort Arbeit gefunden. Kalle war nicht gefragt worden und deshalb ziemlich sauer. Drüben, in West-Berlin, war er der Chef einer Bande gewesen. Die nannten sich die Teddy-Bande, nach ihrem Vorbild, einen Westernheld. Soweit, so gut!
Die Zeit verging und Lothar musste nach Hause. Er versprach, wenn ich gesund sei, den Film zu Ende zu erzählen. Er hielt sein Versprechen.
Wir lagen im Gras an der Mulde und das Gras war weich und warm wie das Fell eines Bären aus Grimms Märchen. Lothar malte mit Worten Bilder an den wolkenlosen Himmel, die ich deutlich erkennen konnte.
Auf dem Rückweg entdeckten war im Gestrüpp der Uferböschung wilde Stachelbeeren. Die hatten in ihrem Geflecht eine Höhle gebaut: unser Kino-Saal!
Anderen Tags hingen wir einen leeren Bilderrahmen an die daumenstarken Pflanzenstiele: unsere Kino-Leinwand!
Zum Ende schleppten wir zwei Obstkisten in das Versteck: unsere Kino-Klappstühle!
Nun konnten wir Filme gucken, wann immer wir wollten. Die Altersbeschränkungen:»ab 12«, »ab 14«, »ab 16« setzten wir außer Kraft. Einmal gab Lothar den Filmvorführer, einmal ich.
Unser Glück währte einige Sommerwochen lang.
Irgendwann zeigte Lothar mir ein Heft. Einen Schmöker von drüben. Den Titel habe ich vergessen, obwohl ich ihn langsam und noch unsicher lesend zur Kenntnis genommen hatte.
«Das wird mein nächster Film«, flüsterte Lothar. Der Onkel aus West-Berlin habe den Schatz »rüber geschmuggelt«. Das müsse unser Geheimnis bleiben. Ich sollte schwören. Ich wollte gerade die Hand zum Schwur heben, da geschah das Unglück: Lothars Gesicht wurde zuerst gelb, dann weiß, dann begann er zu zittern – und seine Hose färbte sich dunkel. Lothar pisste ein!
Ich war irritiert und wusste nicht, was ich sagen oder machen sollte. Bevor ich wieder klar denken konnte, war Lothar bereits davon gestürmt. Er muss sich die Stirn an den Stachelbeerdornen blutig gerissen haben.
Ich trottete nach Hause und hatte, als ich ankam, beschlossen, so zu tun, als sei nichts geschehen. Wenn Lothar etwas erklären wollte, würde er es tun. Vielleicht war’s die Aufregung wegen des Schmökers gewesen? Und dann die Erleichterung, dass ich nichts verraten würde?
In solcherart Gedanken versunken, legte ich das Heft achtlos auf den Küchentisch. Ich hatte über die Sorgen um Lothar unser Geheimnis vergessen
4
Großvater übersah das Corpus Delicti natürlich nicht, stutzte, blätterte ein paar Seite nach vorn, ein paar Seiten zurück und fragte dann ruhig, was »dieser Dreck« in seiner Wohnung verloren habe.
Ich wollte die Wahrheit sagen, wollte erzählen, was Lothar passiert war, doch ich muss wohl zu lange nach Worten gesucht haben. Großvater winkte ab, stand auf und schritt aus der Wohnung. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit zurück kam, schwieg er, sah mich nicht an, nicht einmal vorwurfvoll, was ich ertragen hätte.
Ich hielt es nicht aus, schlich bei der nächsten Gelegeheit hinüber in den Hausflur zu Lothars Wohnung und klingelte. Nichts rührte sich. Die Tür blieb zu.
Tage später meldete sich Lothars Großmutter. Sie wolle mit meiner Großmutter sprechen. Ich solle hinunter gehen, auf den Hof, dort würde eine Überraschung auf mich warten. Ich war sicher: Die Überraschung war Lothar, denn sein rotes Fahrrad sah ich bereits durchs Treppenhausfenster.
Doch Lothar war nicht da. Ohne ihn machte das Radfahren keinen Spaß.
Später sagte Großmutter feierlich, der Besuch sei gegangen, sie müsse mit mir reden. Und dann prasselten ihre Worte auf mich nieder. Lothar leide unter einer Fehlbildung der Genitalien. Die Hoden wären nicht ausgebildet, dafür gebe es Ansätze einer weiblichen Brust. Mit zunehmendem Alter würde es immer schwieriger werden, etwas zu korrigieren. Lothars Familie sei nach Düsseldorf unterwegs, da gebe es einen Arzt, der könne ihn operieren. Alles habe sehr schnell gehen müssen. Deshalb keine Verabschiedung. Dafür das Fahrrad als Geschenk!
Ich verstand nichts. Großmutter hatte noch nie Worte gesagt wie »Genitalien« und »Hoden«.
Das allein war verwirrend genug. Ich lief aus der Wohnung und verkroch mich in unsere Höhle an der Mulde. Unser Tor in die Welt der Träume. Hier war mir alles vertraut. Hier konnte ich ungestört an Lothar denken.
Ich sah ihn nie wieder. Sein rotes Rad fuhr ich solange, bis es nicht mehr »mitwuchs«.
In jener Zeit erzählte Großvater von seinem Bruder Paul. Der sei 14 Jahre älter gewesen als er, Arthur, das zweitjüngste Kind eines Schuhmachermeisters.
1904 sei Paul mit Frau und Sohn und Freunden ausgewandert. Über Bremerhaven nach New York und von dort in den Mittleren Westen der USA, nach Iowa, wo es Maisfelder gebe, die selbst am Horizont nicht endeten. Die Ankömmlinge hätten Land bekommen und günstige Kredite für Maschinen.
Als Paul 1913 zu Besuch in seiner »alten Heimat« gewesen sei, habe er, der Siebzehnjährige, den älteren Bruder zurück nach Bremerhaven begleitet. Nicht eine Sekunde hätte Paul Ruhe gegeben:«Arthur komm mit nach Amerika! Hier verlierst du nichts, dort kannst du alles gewinnen!«
Er habe dazu geschwiegen und in Bremerhaven den Bruder herzlich umarmt. Dann sei er
losmarschiert, allein, nach Hause – in das Dorf unweit der Hubertusburg.
»Warum bist du geblieben, Großvater: wegen Großmutter?«
»Nein. Die war damals 13 Jahre alt, ein Kind noch. Wir kannten uns nicht.«
»Warum dann, Großvater?«
Großvater schien nachzudenken, dann lächelte er. »Vielleicht wegen dir?«
***
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