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Bernd Ritter
Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck (in gekürzter Fassung) in: Thüringische Landeszeitung, 08.02.2024.
Der Sängerkrieg auf dem Wartberg und im Palmental
Porträt des Sammlers, Kurators und Anstifters Reinhard Lorenz
Von Bernd Ritter
Prolog
Die Wartburg thront über Eisenach in olympischer Würde.
Die Mythen um den Berg und die Burg haben ihre Ursprünge im historisch Verbürgten.
Ludwig der Springer hat sie erbauen lassen, Elisabeth von Thüringen hat sie bewohnt,
Martin Luther hat in einer ihrer Kemenaten das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt, hat quasi – um im Bild zu bleiben – mit dem Tintenfass den Teufel vertrieben und 1817, fast 300 Jahre später, haben hunderte Studenten auf dem 1.Wartburgfest den Nationalstaat der Deutschen gefordert.
Details sind im Nebel der Geschichte versunken. Dennoch ist dieser Ort ein authentischer. Weil das so ist – anders als das Traumgebilde Neuschwanstein –, konnten die Bauten auf dem Felsen über Eisenach Kulisse werden für das Nationaltheater der Deutschen.
Das Ensemble auf dem Berg ist Weltkulturerbe seit 1999.
Dennoch gilt: Was wir sehen, ist Stein gewordene Vorstellung. Auch der »Sängerkrieg« ist Fiktion. Der in die Irre führende Begriff »Krieg« meint keinen Wettstreit leibhaftiger Minnesänger des 13. Jahrhunderts, sondern die Sammlungen ihrer Dichtung.
Auch Richard Wagner nutzte literarische Sammlungen. Heines Gedicht »Der Tannhäuser – Eine Legende« war eine der Quellen, die Wagners Geist erfrischten und zur Oper »Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg« inspirierten. Diese Oper wiederum habe Moritz von Schwind zu seinem Fresko im Sängersaal auf der Wartburg angeregt; man kann es auch so formulieren: Wagners Heine-Zitat hatte den Maler dazu angestiftet, ein neues Original zu erschaffen. Ich kenne Besucher, die, nachdem sie das Fresko gesehen hatten, schwören wollten, dass er sich so oder so ähnlich zugetragen habe – der Wettstreit ritterlicher Minnesänger um die Gunst des Landesherrn.
I
Die Straßen der Innenstadt Eisenachs schrumpfen zu Gassen, die sich einspurig bergan schlängeln. Gegenverkehr bleibt aus, eine Parklücke findet sich.
Einen frischen Blumenstrauß vor der Brust, schreite ich zu meinem Ziel. Die Frau, die mich am Gartentor begrüßt, ist die Ehefrau von Reinhard Lorenz: Evelin Lorenz. Der Auftakt verläuft herzlich, macht Mut und verstärkt die Neugier auf Kommendes.
Der Gastgeber tritt hinzu, führt mich ins Haus. Räume öffnen sich. Erkennbar ist ihre Alltagsfunktion. Dennoch überwältigt mich – nicht unangenehm – der Eindruck, ich wandele durch eine wohnliche Ausstellung: Bücher, Grafiken, Gemälde, Tonträger – und zwischendrin antike Möbel, geschmackvoll ausgesucht und stilsicher platziert.
Regale stehen raumhoch wie Himmelsleitern an den Wänden. Bücherrücken an Bücher-rücken, nebeneinander und – wie auf Leitersprossen – übereinander, hinauf bis zur Zimmerdecke. Helle Dielen aus Kiefer oder Fichte, geschliffen und lackiert, tragen dunkel gebeizte Schränke, Kommoden und Vitrinen.
Das frisch bezogene Bett im Arbeitszimmer verrät den Nachtarbeiter.
Inmitten eines lichtdurchfluteten Raumes lädt eine weich gepolsterte Ledergarnitur zum Verweilen ein. Frau Lorenz lässt uns vorübergehend allein. Zwei Männer, der eine knapp unter, der andere knapp über der Siebzig. Beide sozialisiert in einem Land, das verschwunden ist. Geblieben ist derselbe Stallgeruch.
Reinhard Lorenz wurde 1952 in Etterwinden geboren. Das Dorf – zwischen Eisenach im Norden, Bad Salzungen im Süden, dem Rennsteig im Osten und dem Werratal im Westen gelegen -, war Ausgangspunkt zahlreicher Fußmärsche des Jungen.
»Waldfisch, Möhra, Gumpelstadt, Wälder und Lichtungen auf den Hügeln, Bäche und Seen in den Niederungen – ich war allein, aber nicht einsam. Meine Tagträume ließen mich nie im Stich.«
Seine Eltern waren Katholiken aus dem Sudetenland. Gewaltsam vertrieben aus einer Heimat, die dem Sohn fremd blieb, so fremd wie die Riten und Bräuche, Trachten und Gesänge auf den Treffen der Vertriebenen an Pfingsten.
»Von da an wusste ich, was ich nicht mochte.«
Der Vater ging früh am Tag zu Fuß nach Ruhla auf Arbeit und kehrte spät am Abend zurück.
»Den sah ich nur am Wochenende.«
Die Mutter arbeitete ebenfalls den ganzen Tag. Am Morgen brachte sie den Jungen zu ihrer älteren Schwester. Die kümmerte sich um ihren Neffen.
»Da war ich fünf. Während meine Patentante den Haushalt des Försters am Laufen hielt, fand ich in seinem Herrenzimmer reichlich Zeitvertreib: Bücher, Zeitschriften, aber auch Schellackplatten. Das Krächzen des Grammophons zu Opernarien und Militärmusik kratzt noch heute in meinen Ohren.«
Auch diese Geräusche waren es nicht, die den Jungen erweckten.
Anders verhielt es sich mit Büchern. In der Dachkammer des Sohnes des Vermieters – die Lorenzens wohnten damals in einem Bauerngehöft am Rande des Dorfes und der Sohn des Bauern studierte Lehrer für Erdkunde und Geschichte in Jena – lockte eine kleine Bibliothek.
»Schwere Bände mit Fotos von Wüsten und Savannen, von den Urwäldern am Amazonas und den Gletschern auf Grönland – am liebsten aber waren mir die Wanderkarten und Atlanten.«
Der junge Reinhard Lorenz vermaß in der engen Kammer unter dem Dach in Etterwinden die Welt. Er schrieb Tagebuch und seine Sehnsucht nach Weite trat langsam ins Bewusstsein.
Mit neun Jahren empfing er die Kommunion.
April 1965. Louis Armstrong gastierte in der Bezirkshautstadt Erfurt. Das Konzert wurde zum Ur-Erlebnis für den 13-Jährigen aus dem Dorf im Schatten der sogenannten grünen Grenze, die längst eine todsichere geworden war.
Der Weltstar, das Urgestein, der Mensch Louis Armstrong aus New Orleans entlockte seiner Trompete ungehörte, unerhörte Töne.
»Der Rhythmus der Musik übertrug sich auf meinen Körper: Das Herz raste, die Wangen glühten, die Atmung drohte auszusetzen. Armstrongs Musikgenie hätte mich auch nieder-strecken können – ich meine, entmutigen, wenn ich selbst musiziert hätte. Aber das war nie mein Ding.«
Der quirliger Mann mit der Reibeisenstimme habe ihn dazu ermuntert, seinen Rhythmus in der Sprache zu finden, den richtigen Ton zu treffen, in Worten die Gedanken festzuhalten, bevor sie sich – »wie jeder Augenblick«- verflüchtigen.
In den 1950er und 1960er Jahren galt der Jazz als verrückt, der Blues als brutal und der Rock’n’Roll als dreckig. Das war Konsens unter den Vätern und Großvätern in Ost und West des gespaltenen Landes. Den folgsamen Pimpfen von einst, denen der Frost von Stalingrad noch in den Gliedern hockte, galt das Unangepasste, das Aufmüpfige als Angriff auf ihre Ordnung. Pflichterfüllung war noch immer oberste Maxime.
Udo Lindenberg, der Junge aus Gronau, brachte den Zwiespalt später auf den Punkt:
Mac war ein Junge und seine Welt war
Ein Hinterhof in Hamburg-Altona.
Seine Mutter war schon tot, sie starb sehr früh
Sein Vater war ein Säufer, den sah er nie
Und er wurde ein Rock’n’Roller, Rock’n’Roller
Und er wusste, er wird noch mal ein großer Star
Und er spielte so schön schmutzig wie der Dreck
Den man unter seinen Fingernägeln sah.
Mag sein, dass die Methoden der Heilung im Osten rabiater ausfielen – die SED liebte ihre Kinder eben inniger als die knochige Adenauer- und Kissinger-CDU die ihrigen. Führende Genossen der allwissenden Partei waren der Meinung, man müsse die durch Elvis, die Beatles und die Rolling Stones verdorbene Jugend vor sich selber schützen. Leipzig 1965: Man säuberte die sogenannten Gammler mit Wasserwerfern, stutzte ihnen mit rostigen Scheren die Pilzköpfe und schickte sie hernach zur Leibesertüchtigung in die Braunkohlenwüste zwischen Borna und Espenhain.
Über den singenden Sachsen Walter Ulbricht machten Witze die Runde. Sein monotones Zitieren »yeah, yeah und yeah« wurde nachgeäfft, aber das Lachen war das Lachen Ohnmächtiger.
Jeans, Parka, schulterlange Haare waren keine Mode, sondern eine Weltanschauung – und
die Prager Studenten auf dem Wenzelsplatz im August 1968 glichen den jungen Leuten in Eisenach und Erfurt und Weimar: Gefühlte Solidarität, Solidarität der Gefühle.
Legendär waren die »Beat-Club«-Sendungen im Westfernsehen.
»Erregt und mit zusammengekniffenen Augen starrten wir auf flackernden Monitore, wo zwischen Schneegestöber und Sturmböen unsere Heroes ihre Lieder trällerten. Die Geräusche wurden mitgeschnitten, die bunten Hemden und Schlaghosen nachgeschneidert, die wehenden Mähnen mutig gegen die Angriffe der Altvorderen verteidigt. Die Adaption des lockeren Liedchens With a little help from my friends von den Beatles katapultierte 1968 den bis dahin unbekannten Joe Cocker über Nacht in unseren Olymp unsterblicher Rock- und Blues-Sänger. Seine Musik war kraftvoll und verletzlich zugleich, weil sie ehrlich war. Cocker hatte genug Schmerz, genug »blues and troubel« im Blut.«
Reinhard Lorenz erinnert sich an eine Musikstunde an der Polytechnischen Oberschule in Eisenach.
»Unsere Musiklehrerin referierte über Jugendmusik und legte Platten auf. Da waren Titel von den Beatles und den Rolling Stones dabei.« Das sei jedoch nur einmal vorgekommen.
In den Tagen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, September 1968, zu Beginn des neuen Schuljahres an der Erweiterten Oberschule Eisenach, wurden Mitschüler aufgefordert, ihre »West-Jeans« zuhause zu lassen oder selbst zuhause zu bleiben.
»Wie ich mich damals fühlte?«,wiederholt er meine Frage, erhebt sich, ergreift zielsicher ein Buch, blättert darin und zeigt auf einen Liedtext von Reiner Schöne:
Der Thüringer Fernwehblues
(Das Original)
In unsrer Gäächend , wo’s alleweit räächend
In Weimar, is meineStimmung balde im Eimer
Nu, was issn bluus mit mir luus
Ich gloob, ich ha’m Fernwehblues
Ideelle Unterstützung sei damals für ihn nur von einer Seite gekommen. »Wir lasen in der Schule Georg Büchners Dantons Tod. Ich hoffe, Büchner gehört noch immer zur Pflichtlektüre an den Gymnasien.«
Reinhard Lorenz schaut mich an, als wüsste ich die Antwort. »Das hoffe ich auch«, sage ich, verlegen, weil wissend, dass das nicht die Antwort war, die er erwartete.
II
Abitur 1970: Der kurze Moment der Hoffnung, die Welt warte auf Eroberung.
Stattdessen die Einberufung.
»Der Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee setzte meiner Euphorie sehr schnell und sehr schmerzhaft ein Ende. Die Balken oder Sterne, die einer auf den Schultern trug, bestimmten den Wert des Menschen, nicht, was er im Kopf hatte. Demütigungen sorgten für Minderwertigkeitsgefühle und schlaflose Nächte.«
In jener Zeit wurde Evelin, seine Jugendliebe, zum wichtigsten Halt. »1973 heirateten wir. Sie ist nicht nur die Liebe meines Lebens, sondern auch meine erste Kritikerin – unerbittlich und unbestechlich. Ohne sie wäre ich…« – Reinhard Lorenz hält inne und schmunzelt etwas verlegen – »Es klingt wie eine Phrase, aber du weißt, was ich sagen will.«
Er schweigt. Wir sehen uns an. Ich weiß, was er sagen wollte.
»Die beiden Kinder, Tochter und Sohn, gehen ihre eigenen Wege, sind beide angekommen. Und außerdem haben sie uns 7 Enkel geschenkt.«
Der Stolz des Vaters und Großvaters ist hör- und sichtbar.
Von 1972 bis 1976 studierte Reinhard Lorenz Sportwissenschaften an der DHFK Leipzig.
Danach suchte er landauf, landab junge Talente für den Leistungssport – »bis ich den Eltern der Kinder nicht länger die Mär vom anabolikafreien Training erzählen wollte.«
Es hagelte Kritik durch Vorgesetzte und Disziplinierung folgte.
»In dieser Zeit hatte ich Kontakt zur Jenaer Szene, der auch Matthias Domaschk angehörte.
Wir ahnten nicht, wie nah wir am Abgrund tanzten.«
Schwankungen in der Kulturpolitik waren in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre kennzeichnend, Tauwetter und Eiszeiten lösten einander ab. Höhepunkte innerer Auseinandersetzungen waren: 1976 die Ausbürgerung des Sängers und Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR, die Gründung der Charta 77durch Vaclav Havel in der CSSR und die Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc in der Volksrepublik Polen.
Die Mächtigen reagierten. Was man nicht besiegen konnte, musste man umgarnen – das wusste schon Konstantin der Große, der sich als erster römischer Kaiser zum Christentum bekannte, weil es nicht unterzukriegen war, weder dadurch, dass man diese Sekte verteufelte und ihre Mitglieder verbrannte noch dadurch, dass man sie in der Arenen des Römischen Reiches wilden Tieren vor die tropfenden Mäuler trieb.
Die neue Erkenntnis lautete: Die Rockmusik habe ihre Ursprünge im Blues der ausgebeuteten und unterdrückten schwarzen Sklaven, die auf den Baumwollfeldern der Südstaaten schuften mussten. Das konnte jeder Hardliner akzeptieren.
»In the Heat of the Night – gesungen von Ray Chales als Soundtrack im US-Film In der Hitze der Nacht mit Sidney Poitier als schwarzer Ermittler und Rod Steiger als weißer Rassist – bleibt unvergessen.«
Von 1984 bis 1989 studierte Reinhard Lorenz im Fernstudium Theaterwissenschaften an der Theaterhochschule »Hans Otto« in Leipzig. Als Dramaturg am Landestheater Eisenach war
er in den Jahren 1982 bis 1990 Teil eines Teams, das auf der Bühne um Freiraum für eigene Gedanken warb.
Von 1983 – 1989 schrieb er als freier Mitarbeiter der Jazzredaktion von Radio DDR II über
Jazz und Blues und Rock’n’Roll, ordnete ein und interpretierte.
»Manchmal war’s der Kampf David gegen Goliath, aber Goliath wäre auch ohne mein Zutun gefallen.«
1986 übernahm er ehrenamtlich die Leitung des »Jazzklub Eisenach« – bereits damals eine gute Adresse in der Jazz- und Blues-Szene Thüringens. Manfred Blume, der verdienstvolle Gründer des Klubs, war im selben Jahr gestorben.
Ein Gospel-Konzert mit Uschi Brüning 1986 in der Taufkirche von Bach war ein erster Vorbote der sich andeutenden Zeitenwende
Michail Gorbatschow verkündete für die Sowjetunion »Glasnost« und »Perestroika« – in der DDR wurde im Gegenzug die Zeitschrift »Sputnik« verboten. Am Ende blieb der isolierten Parteispitze um den greisen Starrkopf Erich Honecker nur noch der Schlächter Ceausescu als Gast und als Gastgeber.
III
Von 1990 bis zu seiner Pensionierung 2017 war Reinhard Lorenz Leiter des Kulturamtes seiner Heimatstadt Eisenach. In jener Zeit, 1999, gründete er zusammen mit Gleichgesinnten das »Internationale Jazzarchiv Eisenach«, das zusammen mit dem Jazzklub im Kulturdenkmal »Alte Mälzerei« im Palmental 1 – »hinter der Hörsel, einen Steinwurf entfernt von hier«- eine dauernde Bleibe fand.
Der historische Bau war verfallen, aber unterkellert.
»Jazz findet im Keller statt. Überall auf der Welt. Er kommt von ganz unten, ist Verzweiflung, zeugt aber auch von unbändigem Lebensmut.«
Die Stadt Eisenach hatte das Industriedenkmal samt Grundstück erworben. Die Arbeits-stunden, die seine Truppe freiwillig leistete, »um den Schutt wegzuräumen und begehbare Flächen freizulegen«, habe niemand gezählt.
Reinhard Lorenz‹ gebräuntes Gesicht lässt das Alter von 72 Jahren nicht vermuten. Die Wangen glatt, umrahmt von einem kurzen weißen Bart. Große Augen blicken wissend und
neugierig zugleich. Seine Stimme, auch wenn er sie senkt, fordert Aufmerksamkeit ein. Ich habe immer den Eindruck, sein Wissen ist größer als das, was er preisgibt.
Über 1989/1990 schrieb er: »Die Mauer war weg. Und damit auch die Priester des Blues. Sag mir, wo du stehst? Neue Fragen, neue Antworten, auch im Unterholz des thüringischen Blues. Einen anderen Thüringer Fernwehblues gilt es nun zu singen.«
Die einstige Zukunft war plötzlich Vergangenheit. Das Heimatland eine historische Landschaft, versunken wie die Heimat seiner Eltern. Das Aufheben und Bewahren bekam eine neue Dimension, die der Spurensicherung – »bevor der nächste Platzregen alles in den Orkus spült.«
Der Aufbau eines Archivs, das die internationale Musikszene spiegelte, war möglich geworden. Reinhard Lorenz knüpfte beharrlich Kontakte: schrieb Briefe, führte Telefonate, organisierte persönliche Treffen mit Musikwissenschaftlern, Publizisten, Autoren und Radio-Machern.
«In Ost und West gab es Menschen, die nachzudenken begannen. Es gab dieselbe Sprache und es gab, was die Musik betraf, dieselben Erinnerungen.«
Hermann Glaser (1928–2018), Schul- und Kulturdezernent von Nürnberg, eine Vaterfigur, wurde für den frisch gebackenen Kulturamtsleiter in Thüringen wichtiger Ideengeber und geistiger Anreger. Gleiches gilt für die Schriftstellerin Eva Demski (geb. 1944), die in Frankfurt am Main lebt und für den Regisseur Wim Wenders (geb. 1945), der in der Filmwelt überall zuhause ist.
»Diese Menschen kennen gelernt zu haben, war und ist eine große Bereicherung meines Lebens.«
Reinhard Lorenz stritt für seine Sache – wenn es sein musste, auch mit ungewöhnlichen Mitteln. Das Luther-Jahr 1996 zum 450. Todestag des Reformators. Reinhard Lorenz lud Yolanda King. die Tochter des 1968 ermordeten US-Bürgerrechtlers Dr. Martin Luther King nach Eisenach ein.
Play Luther – geplant waren 3 Konzerte mit Lesung für 3000 Gäste. Die Schauspielerin Hannelore Elsner hatte sich bereiterklärt, Texte der beiden Luther zu lesen und der weltberühmte Jazz-Schlagzeuger und Komponist »Max« Roach hatte afroamerikanischen Hymnen beigesteuert.
Doch die Nachfrage lief schleppend. Da hatte Reinhard Lorenz die Idee, den SPIEGEL einzuschalten.
»Ich rief an, stellte die geplanten Veranstaltungen vor und bat um Hilfe. In der folgenden SPIEGEL-Ausgabe war eine Deutschlandkarte abgedruckt mit einem roten Fähnchen, das auf Eisenach zeigte. Darunter stand: Play Luther – Martin Luther und Martin Luther King go Eisenach. Die Karten für unsere 3 Konzerte waren innerhalb weniger Tage verkauft.«
Mit Günter Boas (1920–1993, Pianist, Sänger und leidenschaftliche Sammler, in Dessau geboren) verband Reinhard Lorenz eine längere Freundschaft. Boas ließ sich für die Idee des Archivs begeistern und stiftete seine umfangreiche Sammlung aus Büchern, Briefen und Notizen, Fotos, Platten, CDs, Plakaten und Instrumenten. Dieser Fundus bildet bis heute das Fundament des Archivs.
Horst Lippmann (1927–1997, in Eisenach geboren) stiftete seine Sammlung. Auch sie stellt eine musikgeschichtliche Fundgrube dar. Seine Mitstreiter Fritz Rau und Günter Kieser stifteten Tausende Schallplatten und Plakate.
Weitere Details aus jenen Jahren kann sich der interessierte Leser selbst erschließen.
Ich hab den Blues schon etwas länger heißt das Buch, das Reinhard Lorenz gemeinsam mit Michael Rauhut 2008 herausgegeben hat. 50 Beiträgen zur Geschichte des Blues in Deutschland West und Ost, die es zu lesen lohnt.
Mein erster Besuch, vor einem Monat, hatte der Alten Mälzerei im Palmental gegolten.
Da war ich Reinhard Lorenz zum ersten Mal begegnet.
»Das Archivgut lagert inmitten eines jahrhundertealten Sounds.«
Mit diesen Worten hatte er mich begrüßt.
Die Außenwände des Gemäuers zeigten Risse, kahle Ziegel unter gebrochenem Putz und notdürftige Ausbesserungen – die Räume im Inneren aber boten, was ein Archiv ausmacht.
Da war investiert worden.
Zwischen Stahlregalen voll Bücher, Mappen, Briefbündel und Ordner mit Lebensläufen und Werkverzeichnissen, inmitten von Plakaten, Porträtfotos, Instrumenten und einer Jukebox, die funkelte, als würde sie im nächsten Augenblick Chris Barber spielen, erkannte ich das Welttheater.
Die Fülle persönlicher Dokumente zeuge vom Vertrauen der Nachlass-Stifter.
Reinhard Lorenz erzählte von Trevor Richards. Der Mann war in England zur Welt gekommen. Im ersten Jahr nach dem 2. Weltkrieg. Er lebte lange in den Staaten. Nachdem der Hurrikan 2005 sein Haus zerstört hatte, war er nach Europa zurück gekehrt.
Trevor Richards sei Schlagzeuger und einer der populärsten Jazzer der Gegenwart.
Seine Sammlung von Jazzplatten, Fachbüchern, historischen Percussionsinstrumenten war
als »The Trevor Richards Collektion« in die Sammlung des Archivs eingegangen.
Reinhard Lorenz zeigte mir Foto vor der Reinigung, Konservierung und Archivierung.
Als hätte man den Schatz direkt aus den Fluten des Mississippi geborgen.
»Im weltweiten Koordinatensystem existierender Jazzarchive- und institute gilt das Internationale Jazz Archive Eisenach längst als anerkannter Ort von Sammlung, Bewahrung und Forschung«, hatte Reinhard Lorenz damals gesagt, als er sich verabschiedete und seine Einladung zu einem zweiten Treffen – diesmal in seiner Privatwohnung – erneuerte.
Sammler sind Bewahrer, in Zeiten, wo Bewahren beinahe eine revolutionäre Tat ist, denke ich. Wir sitzen uns – beim zweiten Treffen – noch immer gegenüber. Den Begriff Manager lehnt er ab. Das Wort habe ein Geschmäckle, lasse an Marketing und Vertrieb und Profitmaximierung denken. Das Wort Kunst-Unternehmer lässt er gelten.
Die Sammlung wuchs ständig. Der Begriff »Jazz-Archiv« sei sehr bald zum beengenden Korsett geworden. Gemeinsam mit Daniel Eckenfelder, einem Unternehmer aus dem Schwäbischen, der Mitte der 1990er Jahre – da hatte er den umtriebigen Kulturamtsleiter im Jazz-Keller der Alten Mälzerei bereits kennen gelernt -, den Standort seiner Firma nach Wenigenlupnitz bei Eisenach verlegt hatte, rief Reinhard Lorenz 2006 die »Lippmann+Rau-Stiftung für Musikforschung und Kunst« ins Leben.
»Ohne Daniel Eckenfelder – wir sind Freunde fürs Leben geworden – hätte ich diesen Schritt nicht gehen können.«
Seit 2009 kooperiere man mit der »Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar«.
2013 sei das Archiv ausgezeichnet worden und 2014 habe man 250.000 EURO Fördermittel in Aussicht gestellt, um die Räumlichkeiten zu sanieren und zu erweitern. Drei Klimazonen zur getrennten Aufbewahrung von Vinyl, Papier und Filmen sowie ein Ausstellungsareal sollen entstehen.
Toll, denke ich, da fällt mir ein nach der Verzögerung der Umsetzung zu fragen.
2014 in Aussicht gestellt – wir leben in 2023!
Wo andere ihre Wut über die Zustände hinausschreien, sagt Reinhard Lorenz trocken:
»Es ist schwerer als ich dachte.«
Epilog
Die Wartburg thront über Eisenach in olympischer Höhe.
Von der Idee überrascht, auch Bach und Telemann gehörten zu diesem Olymp, wende ich meinen Blick wieder auf den Autoverkehr stadtauswärts.
Johann Sebastian Bach war 1685 am Frauenberg in Eisenach geboren worden und Georg Philipp Telemann diente als Konzertmeister und Kantor am Hof des Herzogs Johann Wilhelm
von Sachsen-Eisenach. Beide waren nicht weniger irdisch als die Minnesänger und beide sind nicht weniger unsterblich, doch über die Unsterblichen scheint alles gesagt, ihr Leben und Wirken scheint ausgedeutet.
Anders drunten im Palmental, »im thüringischen Unterholz«, wo Jazz und Blues und Rock’n’Roll ihre Heimstadt fanden.
Im Unterbauch der Alten Mälzerei, im Jazz-Keller »Posaune«, da grollt und brodelt es, als würde Hephaistos die Ketten für Prometheus schmieden – doch weit gefehlt: Die Meister der Improvisation sprengen alle Ketten, die der Konventionen und die der Ressentiments, sie zertrümmern Klischees, um Raum zu schaffen für Gefühle und Träume.
Und darüber – quasi im Oberbauch – werden diese Lebenszeichen, diese Pulsschläge aus der Tiefe eingesammelt und aufgehoben im doppelten Sinn. Durchs Archivieren wird die wilde Kunst zur Kulturtatsache, zum Gegenstand der Wissenschaft und Forschung.
Studenten, Doktoranden und Journalisten fragen an. Filmemacher sind auf Spurensuche nach Fotos und Lebensdaten. Kurze Auskünfte werden umgehend erteilt, längere Recherchen werden unterstützt. Digitalisierung erleichtert den Zugriff und verhindert Erstarrung nicht genutzter Bestände unter einer Schicht aus intellektuellem Staub. Zwei Archivare wurden Reinhard Lorenz dafür zur Seite gestellt, die Stellen vom Land Thüringen gefördert. Die Sammlung lebt – sie wächst mit jeder Nutzung, sie wird genutzt, weil sie ständig wächst.
O‑Ton Reinhard Lorenz:«Juni 2007 feierte das Bachhaus sein 100-jähriges Bestehen. Ich hoffe, Glück, Geist und Geld mögen so zusammen finden, dass auch von unserem Haus in 100 Jahren noch gesprochen wird – als von einem Pilgerort der populären Musik des 20. Jahrhunderts für ein internationales Publikum.«
Mein Wissen um die irdischen Mühen des Archiv-Leiters Reinhard Lorenz schlägt noch einmal eine Brücke von der Alten Mälzerei im Tal hinauf zum Berg: Der Mythos um den Sängerkrieg auf der Wartburg erzählt seit Jahrhunderten von der Abhängigkeit der Kunst und ihrer Vermittlung von wohlwollenden Mäzenen – seien es Landgrafen, Herzöge, Könige oder Kaiser, Reichs- oder Ministerpräsidenten. Die pekuniäre Frage ist und bleibt existentiell.
»Wir stehen ständig mit den Verantwortlichen in Verhandlungen«, sagt Reinhard Lorenz.
Wir wissen beide: Wenn man niemandes Lied singen will, muss man sich sein Brot erstreiten oder, anders formuliert: Man muss selbst und ständig den Fels den Berg hinauf rollen.
Wir sollten uns – frei nach Albert Camus in seinem Traktat über Sisyphos – Reinhard Lorenz als optimistischen Menschen vorstellen.
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