Bernd Ritter – »Der Sängerkrieg auf dem Wartberg und im Palmental«

Person

Bernd Ritter

Ort

Eisenach

Thema

Bruchstellen

Autor

Bernd Ritter

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck (in gekürzter Fassung) in: Thüringische Landeszeitung, 08.02.2024.

Der Sän­ger­krieg auf dem Wart­berg und im Palmental 

Por­trät des Samm­lers, Kura­tors und Anstif­ters Rein­hard Lorenz

Von Bernd Ritter

 

Pro­log

Die Wart­burg thront über Eisen­ach in olym­pi­scher Würde.

Die Mythen um den Berg und die Burg haben ihre Ursprünge im his­to­risch Verbürgten.

Lud­wig der Sprin­ger hat sie erbauen las­sen, Eli­sa­beth von Thü­rin­gen hat sie bewohnt,

Mar­tin Luther hat in einer ihrer Keme­na­ten das Neue Tes­ta­ment aus dem Grie­chi­schen ins Deut­sche über­setzt, hat quasi – um im Bild zu blei­ben – mit dem Tin­ten­fass den Teu­fel ver­trie­ben und 1817, fast 300 Jahre spä­ter, haben hun­derte Stu­den­ten auf dem 1.Wartburgfest den Natio­nal­staat der Deut­schen gefordert.

Details sind im Nebel der Geschichte ver­sun­ken. Den­noch ist die­ser Ort ein  authen­ti­scher. Weil das so ist – anders als das Traum­ge­bilde Neu­schwan­stein –, konn­ten die Bau­ten auf dem Fel­sen über Eisen­ach Kulisse wer­den für das Natio­nal­thea­ter der Deutschen.

Das Ensem­ble auf dem Berg ist Welt­kul­tur­erbe seit 1999.

Den­noch gilt: Was wir sehen, ist Stein gewor­dene Vor­stel­lung. Auch der »Sän­ger­krieg« ist Fik­tion. Der in die Irre füh­rende Begriff »Krieg« meint kei­nen Wett­streit leib­haf­ti­ger Min­ne­sän­ger des 13. Jahr­hun­derts, son­dern die Samm­lun­gen ihrer Dichtung.

Auch Richard Wag­ner nutzte lite­ra­ri­sche Samm­lun­gen. Hei­nes Gedicht »Der Tann­häu­ser – Eine Legende« war eine der Quel­len, die Wag­ners Geist erfrisch­ten und zur Oper »Tann­häu­ser und der Sän­ger­krieg auf der Wart­burg« inspi­rier­ten. Diese Oper wie­derum habe Moritz von Schwind zu sei­nem Fresko im Sän­ger­saal auf der Wart­burg ange­regt; man kann es auch so for­mu­lie­ren: Wag­ners Heine-Zitat hatte den Maler dazu ange­stif­tet, ein neues Ori­gi­nal zu erschaf­fen. Ich kenne Besu­cher, die, nach­dem sie das Fresko gese­hen hat­ten, schwö­ren woll­ten, dass er sich so oder so ähn­lich zuge­tra­gen habe – der Wett­streit rit­ter­li­cher  Min­ne­sän­ger um die Gunst des Landesherrn.

 

I

Die Stra­ßen der Innen­stadt Eisen­achs schrump­fen zu Gas­sen, die sich ein­spu­rig bergan schlän­geln. Gegen­ver­kehr bleibt aus, eine Park­lü­cke fin­det sich.

Einen fri­schen Blu­men­strauß vor der Brust, schreite ich zu mei­nem Ziel. Die Frau, die mich am Gar­ten­tor begrüßt, ist die Ehe­frau von Rein­hard Lorenz: Eve­lin Lorenz. Der Auf­takt ver­läuft herz­lich, macht Mut und ver­stärkt die Neu­gier auf Kommendes.

Der Gast­ge­ber tritt hinzu, führt mich ins Haus. Räume öff­nen sich. Erkenn­bar ist ihre All­tags­funk­tion. Den­noch über­wäl­tigt mich – nicht unan­ge­nehm – der Ein­druck, ich wan­dele durch eine wohn­li­che Aus­stel­lung: Bücher, Gra­fi­ken, Gemälde, Ton­trä­ger – und zwi­schen­drin antike Möbel, geschmack­voll aus­ge­sucht und stil­si­cher platziert.

Regale ste­hen raum­hoch wie Him­mels­lei­tern an den Wän­den. Bücher­rü­cken an Bücher-rücken, neben­ein­an­der und – wie auf Lei­ter­spros­sen – über­ein­an­der, hin­auf bis zur Zim­mer­de­cke. Helle Die­len aus Kie­fer oder Fichte, geschlif­fen und lackiert, tra­gen dun­kel gebeizte Schränke, Kom­mo­den und Vitrinen.

Das frisch bezo­gene Bett im Arbeits­zim­mer ver­rät den Nachtarbeiter.

Inmit­ten eines licht­durch­flu­te­ten Rau­mes lädt eine weich gepols­terte Leder­gar­ni­tur zum Ver­wei­len ein. Frau Lorenz lässt uns vor­über­ge­hend allein. Zwei Män­ner, der eine knapp unter, der andere knapp über der Sieb­zig. Beide sozia­li­siert in einem Land, das ver­schwun­den ist. Geblie­ben ist der­selbe Stallgeruch.

Rein­hard Lorenz wurde 1952 in Etter­win­den gebo­ren. Das Dorf – zwi­schen Eisen­ach im Nor­den, Bad Sal­zun­gen im Süden, dem Renn­steig im Osten und dem Wer­ra­tal im Wes­ten gele­gen -, war Aus­gangs­punkt zahl­rei­cher Fuß­mär­sche des Jungen.

»Wald­fisch, Möhra, Gum­pel­stadt, Wäl­der und Lich­tun­gen auf den Hügeln, Bäche und Seen in den Nie­de­run­gen – ich war allein, aber nicht ein­sam. Meine Tag­träume lie­ßen mich nie im Stich.«

Seine Eltern waren Katho­li­ken aus dem Sude­ten­land. Gewalt­sam ver­trie­ben aus einer Hei­mat, die dem Sohn fremd blieb, so fremd wie die Riten und Bräu­che, Trach­ten und Gesänge auf den Tref­fen der Ver­trie­be­nen an Pfingsten.

»Von da an wusste ich, was ich nicht mochte.«

Der Vater ging früh am Tag zu Fuß nach Ruhla auf Arbeit und kehrte spät am Abend zurück.

»Den sah ich nur am Wochenende.«

Die Mut­ter arbei­tete eben­falls den gan­zen Tag. Am Mor­gen brachte sie den Jun­gen zu ihrer älte­ren Schwes­ter. Die küm­merte sich um ihren Neffen.

»Da war ich fünf. Wäh­rend meine Paten­tante den Haus­halt des Förs­ters am Lau­fen hielt, fand ich in sei­nem Her­ren­zim­mer reich­lich Zeit­ver­treib: Bücher, Zeit­schrif­ten, aber auch Schel­lack­plat­ten. Das Kräch­zen des Gram­mo­phons zu Opern­arien und Mili­tär­mu­sik kratzt noch heute in mei­nen Ohren.«

Auch diese Geräu­sche waren es nicht, die den Jun­gen erweckten.

Anders ver­hielt es sich mit Büchern. In der Dach­kam­mer des Soh­nes des Ver­mie­ters – die Loren­zens wohn­ten damals in einem Bau­ern­ge­höft am Rande des Dor­fes und der Sohn des Bau­ern stu­dierte Leh­rer für Erd­kunde und Geschichte in Jena – lockte eine kleine Bibliothek.

»Schwere Bände mit Fotos von Wüs­ten und Savan­nen, von den Urwäl­dern am Ama­zo­nas und den Glet­schern auf Grön­land – am liebs­ten aber waren mir die Wan­der­kar­ten und Atlanten.«

Der junge Rein­hard Lorenz ver­maß in der engen Kam­mer unter dem Dach in Etter­win­den die Welt. Er schrieb Tage­buch und seine Sehn­sucht nach Weite trat lang­sam ins Bewusstsein.

Mit neun Jah­ren emp­fing er die Kommunion.

April 1965. Louis Arm­strong gas­tierte in der Bezirks­haut­stadt Erfurt. Das Kon­zert wurde zum Ur-Erleb­nis für den 13-Jäh­ri­gen aus dem Dorf im Schat­ten der soge­nann­ten grü­nen Grenze, die längst eine tod­si­chere gewor­den war.

Der Welt­star, das Urge­stein, der Mensch Louis Arm­strong aus New Orleans ent­lockte sei­ner Trom­pete unge­hörte, uner­hörte Töne.

»Der Rhyth­mus der Musik über­trug sich auf mei­nen Kör­per: Das Herz raste, die Wan­gen glüh­ten, die Atmung drohte aus­zu­set­zen. Arm­strongs Musik­ge­nie hätte mich auch nie­der-stre­cken kön­nen – ich meine, ent­mu­ti­gen, wenn ich selbst musi­ziert hätte. Aber das war nie mein Ding.«

Der quir­li­ger Mann mit der Reib­ei­sen­stimme habe ihn dazu ermun­tert, sei­nen Rhyth­mus in der Spra­che zu fin­den, den rich­ti­gen Ton zu tref­fen, in Wor­ten die Gedan­ken fest­zu­hal­ten, bevor sie sich – »wie jeder Augen­blick«- verflüchtigen.

In den 1950er und 1960er Jah­ren galt der Jazz als ver­rückt, der Blues als bru­tal und der Rock’n’Roll als dre­ckig. Das war Kon­sens unter den Vätern und Groß­vä­tern in Ost und West des gespal­te­nen Lan­des. Den  folg­sa­men Pimp­fen von einst, denen der Frost von Sta­lin­grad noch in den Glie­dern hockte, galt das Unan­ge­passte, das Auf­müp­fige als Angriff auf ihre  Ord­nung. Pflicht­er­fül­lung war noch immer oberste Maxime.

Udo Lin­den­berg, der Junge aus Gro­nau, brachte den Zwie­spalt spä­ter auf den Punkt:

Mac war ein Junge und seine Welt war
Ein Hin­ter­hof in Hamburg-Altona.
Seine Mut­ter war schon tot, sie starb sehr früh
Sein Vater war ein Säu­fer, den sah er nie

Und er wurde ein Rock’n’Roller, Rock’n’Roller
Und er wusste, er wird noch mal ein gro­ßer Star
Und er spielte so schön schmut­zig wie der Dreck
Den man unter sei­nen Fin­ger­nä­geln sah.

Mag sein, dass die Metho­den der Hei­lung im Osten rabia­ter aus­fie­len – die SED liebte ihre Kin­der eben inni­ger als die kno­chige Ade­nauer- und Kis­sin­ger-CDU die ihri­gen. Füh­rende Genos­sen der all­wis­sen­den Par­tei waren der Mei­nung, man müsse die durch Elvis, die Beat­les und die Rol­ling Stones ver­dor­bene Jugend vor sich sel­ber schüt­zen. Leip­zig 1965: Man säu­berte die soge­nann­ten Gamm­ler mit Was­ser­wer­fern, stutzte ihnen mit ros­ti­gen Sche­ren die Pilz­köpfe und schickte sie her­nach zur Lei­bes­er­tüch­ti­gung in die Braun­koh­len­wüste zwi­schen Borna und Espenhain.

Über den sin­gen­den Sach­sen Wal­ter Ulb­richt mach­ten Witze die Runde. Sein  mono­to­nes Zitie­ren »yeah, yeah und yeah« wurde nach­ge­äfft, aber das Lachen war das Lachen Ohnmächtiger.

Jeans, Parka, schul­ter­lange Haare waren keine Mode, son­dern eine Welt­an­schau­ung – und

die Pra­ger Stu­den­ten auf dem Wen­zels­platz im August 1968 gli­chen den jun­gen Leu­ten in Eisen­ach und Erfurt und Wei­mar: Gefühlte Soli­da­ri­tät, Soli­da­ri­tät der Gefühle.

Legen­där waren die »Beat-Club«-Sendungen im Westfernsehen.

»Erregt und mit zusam­men­ge­knif­fe­nen Augen starr­ten wir auf fla­ckern­den Moni­tore, wo zwi­schen Schnee­ge­stö­ber und Sturm­böen unsere Heroes ihre Lie­der träl­ler­ten. Die Geräu­sche wur­den mit­ge­schnit­ten, die bun­ten Hem­den und Schlag­ho­sen nach­ge­schnei­dert, die wehen­den Mäh­nen mutig gegen die Angriffe der Alt­vor­de­ren ver­tei­digt. Die Adap­tion des locke­ren Lied­chens With a little help from my friends von den  Beat­les kata­pul­tierte 1968 den bis dahin unbe­kann­ten Joe Cocker über Nacht in unse­ren Olymp unsterb­li­cher Rock- und Blues-Sän­ger. Seine Musik war kraft­voll und ver­letz­lich zugleich, weil sie ehr­lich war. Cocker hatte genug Schmerz, genug »blues and trou­bel« im Blut.«

Rein­hard Lorenz erin­nert sich an eine Musik­stunde an der Poly­tech­ni­schen Ober­schule in Eisenach.

»Unsere Musik­leh­re­rin refe­rierte über Jugend­mu­sik und legte Plat­ten auf. Da waren Titel von den Beat­les und den Rol­ling Stones dabei.« Das sei jedoch nur ein­mal vorgekommen.

In den Tagen nach der Nie­der­schla­gung des Pra­ger Früh­lings, Sep­tem­ber 1968, zu Beginn des neuen Schul­jah­res an der Erwei­ter­ten Ober­schule Eisen­ach, wur­den Mit­schü­ler auf­ge­for­dert, ihre »West-Jeans« zuhause zu las­sen oder selbst zuhause zu bleiben.

»Wie ich mich damals fühlte?«,wiederholt er meine Frage, erhebt sich, ergreift ziel­si­cher ein Buch, blät­tert darin und zeigt auf einen Lied­text von Rei­ner Schöne:

Der Thü­rin­ger Fernwehblues

(Das Ori­gi­nal)

In uns­rer Gää­chend , wo’s alle­weit räächend
In Wei­mar, is mei­ne­S­tim­mung balde im Eimer
Nu, was issn bluus mit mir luus
Ich gloob, ich ha’m Fernwehblues

Ideelle Unter­stüt­zung sei damals für ihn nur von einer Seite gekom­men. »Wir lasen in der Schule Georg Büch­ners Dan­tons Tod. Ich hoffe, Büch­ner gehört noch immer zur Pflicht­lek­türe an den Gymnasien.«

Rein­hard Lorenz schaut mich an, als wüsste ich die Ant­wort. »Das hoffe ich auch«, sage ich, ver­le­gen, weil wis­send, dass das nicht die Ant­wort war, die er erwartete.

 

II

Abitur 1970: Der kurze Moment der Hoff­nung, die Welt warte auf Eroberung.

Statt­des­sen die Einberufung.

»Der Wehr­dienst in der Natio­na­len Volks­ar­mee setzte mei­ner Eupho­rie sehr schnell und sehr schmerz­haft ein Ende. Die Bal­ken oder Sterne, die einer auf den Schul­tern trug, bestimm­ten den Wert des Men­schen, nicht, was er im Kopf hatte. Demü­ti­gun­gen sorg­ten für Min­der­wer­tig­keits­ge­fühle und schlaf­lose Nächte.«

In jener Zeit wurde Eve­lin, seine Jugend­liebe, zum wich­tigs­ten Halt. »1973 hei­ra­te­ten wir. Sie ist nicht nur die Liebe mei­nes Lebens, son­dern auch meine erste Kri­ti­ke­rin – uner­bitt­lich und unbe­stech­lich. Ohne sie wäre ich…« – Rein­hard Lorenz hält inne und schmun­zelt etwas ver­le­gen – »Es klingt wie eine Phrase, aber du weißt, was ich sagen will.«

Er schweigt. Wir sehen uns an. Ich weiß, was er sagen wollte.

»Die bei­den Kin­der, Toch­ter und Sohn, gehen ihre eige­nen Wege, sind beide ange­kom­men. Und außer­dem haben sie uns 7 Enkel geschenkt.«

Der Stolz des Vaters und Groß­va­ters ist hör- und sichtbar.

Von 1972 bis 1976 stu­dierte Rein­hard Lorenz Sport­wis­sen­schaf­ten an der DHFK Leipzig.

Danach suchte er land­auf, landab junge Talente für den Leis­tungs­sport – »bis ich den Eltern der Kin­der nicht län­ger die Mär vom ana­bo­li­ka­freien Trai­ning erzäh­len wollte.«

Es hagelte Kri­tik durch Vor­ge­setzte und Dis­zi­pli­nie­rung folgte.

»In die­ser Zeit hatte ich Kon­takt zur Jenaer Szene, der auch Mat­thias Domaschk angehörte.

Wir ahn­ten nicht, wie nah wir am Abgrund tanzten.«

Schwan­kun­gen in der Kul­tur­po­li­tik waren in der zwei­ten Hälfte der 1970er Jahre kenn­zeich­nend, Tau­wet­ter und Eis­zei­ten lös­ten ein­an­der ab. Höhe­punkte inne­rer Aus­ein­an­der­set­zun­gen waren: 1976 die Aus­bür­ge­rung des Sän­gers und Lie­der­ma­chers Wolf Bier­mann aus der DDR, die Grün­dung der Charta 77durch Vaclav Havel in der CSSR und die Grün­dung der Gewerk­schaft Soli­dar­nosc in der Volks­re­pu­blik Polen.

Die Mäch­ti­gen reagier­ten. Was man nicht besie­gen konnte, musste man umgar­nen – das wusste schon Kon­stan­tin der Große, der sich als ers­ter römi­scher Kai­ser zum Chris­ten­tum bekannte, weil es nicht unter­zu­krie­gen war, weder dadurch, dass man diese Sekte ver­teu­felte und ihre Mit­glie­der ver­brannte noch dadurch, dass man sie in der Are­nen des Römi­schen Rei­ches wil­den Tie­ren vor die trop­fen­den Mäu­ler trieb.

Die neue Erkennt­nis lau­tete: Die Rock­mu­sik habe ihre Ursprünge im Blues der aus­ge­beu­te­ten und unter­drück­ten schwar­zen Skla­ven, die auf den Baum­woll­fel­dern der Süd­staa­ten schuf­ten muss­ten. Das konnte jeder Hard­li­ner akzeptieren.

»In the Heat of the Night – gesun­gen von Ray Cha­les als Sound­track im US-Film In der Hitze der Nacht mit Sid­ney Poi­tier als schwar­zer Ermitt­ler und Rod Stei­ger als wei­ßer Ras­sist – bleibt unvergessen.«

Von 1984 bis 1989 stu­dierte Rein­hard Lorenz im Fern­stu­dium Thea­ter­wis­sen­schaf­ten an der Thea­ter­hoch­schule »Hans Otto« in Leip­zig. Als Dra­ma­turg am Lan­des­thea­ter Eisen­ach war

er in den Jah­ren 1982 bis 1990 Teil eines Teams, das auf der Bühne um Frei­raum für eigene Gedan­ken warb.

Von 1983 – 1989 schrieb er als freier Mit­ar­bei­ter der Jazz­re­dak­tion von Radio DDR II über

Jazz und Blues und Rock’n’Roll, ord­nete ein und interpretierte.

»Manch­mal war’s der Kampf  David gegen Goli­ath, aber Goli­ath wäre auch ohne mein Zutun gefallen.«

1986 über­nahm er ehren­amt­lich die Lei­tung des »Jazz­klub Eisen­ach« – bereits damals eine gute Adresse in der Jazz- und Blues-Szene Thü­rin­gens. Man­fred Blume, der ver­dienst­volle Grün­der des Klubs, war im sel­ben Jahr gestorben.

Ein Gos­pel-Kon­zert mit Uschi Brü­ning 1986 in der Tauf­kir­che von Bach war ein ers­ter  Vor­bote der sich andeu­ten­den Zeitenwende

Michail Gor­bat­schow ver­kün­dete für die Sowjet­union »Glas­nost« und »Pere­stroika« – in der DDR wurde im Gegen­zug die Zeit­schrift »Sput­nik« ver­bo­ten. Am Ende blieb der iso­lier­ten Par­tei­spitze um den grei­sen Starr­kopf Erich Hon­ecker nur noch der Schläch­ter Ceau­sescu als Gast und als Gastgeber.

 

III

Von 1990 bis zu sei­ner Pen­sio­nie­rung 2017 war Rein­hard Lorenz Lei­ter des Kul­tur­am­tes  sei­ner Hei­mat­stadt Eisen­ach. In jener Zeit, 1999, grün­dete er zusam­men mit Gleich­ge­sinn­ten das »Inter­na­tio­nale Jaz­z­ar­chiv Eisen­ach«, das zusam­men mit dem Jazz­klub im Kul­tur­denk­mal »Alte Mäl­ze­rei« im Pal­men­tal 1 – »hin­ter der Hör­sel, einen Stein­wurf ent­fernt von hier«- eine dau­ernde Bleibe fand.

Der his­to­ri­sche Bau war ver­fal­len, aber unterkellert.

»Jazz fin­det im Kel­ler statt. Über­all auf der Welt. Er kommt von ganz unten, ist Ver­zweif­lung, zeugt aber auch von unbän­di­gem Lebensmut.«

Die Stadt Eisen­ach hatte das Indus­trie­denk­mal samt Grund­stück erwor­ben. Die Arbeits-stun­den, die seine Truppe frei­wil­lig leis­tete, »um den Schutt weg­zu­räu­men und begeh­bare Flä­chen frei­zu­le­gen«, habe nie­mand gezählt.

Rein­hard Lorenz‹ gebräun­tes Gesicht lässt das Alter von 72 Jah­ren nicht ver­mu­ten. Die Wan­gen glatt, umrahmt von einem kur­zen wei­ßen Bart. Große Augen bli­cken wis­send und

neu­gie­rig zugleich. Seine Stimme, auch wenn er sie senkt, for­dert Auf­merk­sam­keit ein. Ich habe immer den Ein­druck, sein Wis­sen ist grö­ßer als das, was er preisgibt.

Über 1989/1990 schrieb er: »Die Mauer war weg. Und damit auch die Pries­ter des Blues. Sag mir, wo du stehst? Neue Fra­gen, neue Ant­wor­ten, auch im Unter­holz des thü­rin­gi­schen Blues. Einen ande­ren Thü­rin­ger Fern­weh­blues gilt es nun zu singen.«

Die eins­tige Zukunft war plötz­lich Ver­gan­gen­heit. Das Hei­mat­land eine his­to­ri­sche Land­schaft, ver­sun­ken wie die Hei­mat sei­ner Eltern. Das Auf­he­ben und Bewah­ren bekam eine neue Dimen­sion, die der Spu­ren­si­che­rung – »bevor der nächste Platz­re­gen alles in den Orkus spült.«

Der Auf­bau eines Archivs, das die inter­na­tio­nale Musik­szene spie­gelte, war mög­lich gewor­den. Rein­hard Lorenz knüpfte beharr­lich Kon­takte: schrieb Briefe, führte Tele­fo­nate, orga­ni­sierte per­sön­li­che Tref­fen mit Musik­wis­sen­schaft­lern, Publi­zis­ten, Autoren und Radio-Machern.

«In Ost und West gab es Men­schen, die nach­zu­den­ken began­nen. Es gab die­selbe Spra­che und es gab, was die Musik betraf, die­sel­ben Erinnerungen.«

Her­mann Gla­ser (1928–2018), Schul- und Kul­tur­de­zer­nent von Nürn­berg, eine Vater­fi­gur, wurde für den frisch geba­cke­nen Kul­tur­amts­lei­ter in Thü­rin­gen wich­ti­ger Ideen­ge­ber und geis­ti­ger Anre­ger. Glei­ches gilt für die Schrift­stel­le­rin Eva Dem­ski (geb. 1944), die in Frank­furt am Main lebt und für den Regis­seur Wim Wen­ders (geb. 1945), der in der Film­welt über­all zuhause ist.

»Diese Men­schen ken­nen gelernt zu haben, war und ist eine große Berei­che­rung mei­nes Lebens.«

Rein­hard Lorenz stritt für seine Sache – wenn es sein musste, auch mit unge­wöhn­li­chen Mit­teln. Das Luther-Jahr 1996 zum 450. Todes­tag des Refor­ma­tors. Rein­hard Lorenz lud Yolanda King. die Toch­ter des 1968 ermor­de­ten US-Bür­ger­recht­lers Dr. Mar­tin Luther King nach Eisen­ach ein.

Play Luther – geplant waren 3 Kon­zerte mit Lesung für 3000 Gäste. Die Schau­spie­le­rin Han­ne­lore Els­ner hatte sich bereit­erklärt, Texte der bei­den Luther zu lesen und der welt­be­rühmte Jazz-Schlag­zeu­ger und Kom­po­nist »Max« Roach hatte afro­ame­ri­ka­ni­schen Hym­nen beigesteuert.

Doch die Nach­frage lief schlep­pend. Da hatte Rein­hard Lorenz die Idee, den SPIEGEL einzuschalten.

»Ich rief an, stellte die geplan­ten Ver­an­stal­tun­gen vor und bat um Hilfe. In der fol­gen­den SPIE­GEL-Aus­gabe war eine Deutsch­land­karte abge­druckt mit einem roten Fähn­chen, das auf Eisen­ach zeigte. Dar­un­ter stand: Play Luther – Mar­tin Luther und Mar­tin Luther King go Eisen­ach. Die Kar­ten für unsere 3 Kon­zerte waren inner­halb weni­ger Tage verkauft.«

Mit Gün­ter Boas (1920–1993, Pia­nist, Sän­ger und lei­den­schaft­li­che Samm­ler, in Des­sau gebo­ren) ver­band Rein­hard Lorenz eine län­gere Freund­schaft. Boas ließ sich für die Idee des Archivs begeis­tern und stif­tete seine umfang­rei­che Samm­lung aus Büchern, Brie­fen und Noti­zen, Fotos, Plat­ten, CDs, Pla­ka­ten und Instru­men­ten. Die­ser Fun­dus bil­det bis heute das  Fun­da­ment des Archivs.

Horst Lipp­mann (1927–1997, in Eisen­ach gebo­ren) stif­tete seine Samm­lung. Auch sie stellt eine musik­ge­schicht­li­che Fund­grube dar. Seine Mit­strei­ter Fritz Rau und Gün­ter Kie­ser stif­te­ten Tau­sende Schall­plat­ten und Plakate.

Wei­tere Details aus jenen Jah­ren kann sich der inter­es­sierte Leser selbst erschließen.

Ich hab den Blues schon etwas län­ger  heißt das Buch, das Rein­hard Lorenz gemein­sam mit Michael Rau­hut 2008 her­aus­ge­ge­ben hat. 50 Bei­trä­gen zur Geschichte des Blues in Deutsch­land West und Ost, die es zu lesen lohnt.    

Mein ers­ter Besuch, vor einem Monat, hatte der Alten Mäl­ze­rei im Pal­men­tal gegolten.

Da war ich Rein­hard Lorenz zum ers­ten Mal begegnet.

»Das Archiv­gut lagert inmit­ten eines jahr­hun­der­te­al­ten Sounds.«

Mit die­sen Wor­ten hatte er mich begrüßt.

Die Außen­wände des Gemäu­ers zeig­ten Risse, kahle Zie­gel unter gebro­che­nem Putz und not­dürf­tige Aus­bes­se­run­gen – die Räume im Inne­ren aber boten, was ein Archiv ausmacht.

Da war inves­tiert worden.

Zwi­schen Stahl­re­ga­len voll Bücher, Map­pen, Brief­bün­del und Ord­ner mit Lebens­läu­fen und Werk­ver­zeich­nis­sen, inmit­ten von Pla­ka­ten, Por­trät­fo­tos, Instru­men­ten und einer Juke­box, die  fun­kelte, als würde sie im nächs­ten Augen­blick Chris Bar­ber spie­len, erkannte ich das Welttheater.

Die Fülle per­sön­li­cher Doku­mente zeuge vom Ver­trauen der Nachlass-Stifter.

Rein­hard Lorenz erzählte von Tre­vor Richards. Der Mann war in Eng­land zur Welt gekom­men. Im ers­ten Jahr nach dem 2. Welt­krieg. Er lebte lange in den Staa­ten. Nach­dem der Hur­ri­kan 2005 sein Haus zer­stört hatte, war er nach Europa zurück gekehrt.

Tre­vor Richards sei Schlag­zeu­ger und einer der popu­lärs­ten Jaz­zer der Gegenwart.

Seine Samm­lung von Jazz­plat­ten, Fach­bü­chern, his­to­ri­schen Per­cus­sions­in­stru­men­ten war

als »The Tre­vor Richards Col­lek­tion« in die Samm­lung des Archivs eingegangen.

Rein­hard Lorenz zeigte mir Foto vor der Rei­ni­gung, Kon­ser­vie­rung und Archivierung.

Als hätte man den Schatz direkt aus den Flu­ten des Mis­sis­sippi geborgen.

»Im welt­wei­ten Koor­di­na­ten­sys­tem exis­tie­ren­der Jaz­z­ar­chive- und insti­tute gilt das Inter­na­tio­nale Jazz Archive Eisen­ach längst als aner­kann­ter Ort von Samm­lung, Bewah­rung und For­schung«, hatte Rein­hard Lorenz damals gesagt, als er sich ver­ab­schie­dete und seine Ein­la­dung zu einem zwei­ten Tref­fen – dies­mal in sei­ner Pri­vat­woh­nung – erneuerte.

Samm­ler sind Bewah­rer, in Zei­ten, wo Bewah­ren bei­nahe eine revo­lu­tio­näre Tat ist, denke ich. Wir sit­zen uns – beim zwei­ten Tref­fen – noch immer gegen­über. Den Begriff Mana­ger lehnt er ab. Das Wort habe ein Geschmäckle, lasse an Mar­ke­ting und Ver­trieb und  Pro­fit­ma­xi­mie­rung den­ken. Das Wort Kunst-Unter­neh­mer lässt er gelten.

Die Samm­lung wuchs stän­dig. Der Begriff »Jazz-Archiv« sei sehr bald zum been­gen­den Kor­sett gewor­den. Gemein­sam mit Daniel Ecken­fel­der, einem Unter­neh­mer aus dem Schwä­bi­schen, der Mitte der 1990er Jahre – da hatte er den umtrie­bi­gen Kul­tur­amts­lei­ter im Jazz-Kel­ler der Alten Mäl­ze­rei bereits ken­nen gelernt -, den Stand­ort sei­ner Firma nach Weni­gen­lupnitz bei Eisen­ach ver­legt hatte, rief Rein­hard Lorenz 2006 die »Lippmann+Rau-Stiftung für Musik­for­schung und Kunst« ins Leben.

»Ohne Daniel Ecken­fel­der – wir sind Freunde fürs Leben gewor­den – hätte ich die­sen Schritt nicht gehen können.«

Seit 2009 koope­riere man mit der »Hoch­schule für Musik Franz Liszt Weimar«.

2013 sei das Archiv aus­ge­zeich­net wor­den und 2014 habe man 250.000 EURO För­der­mit­tel in Aus­sicht gestellt, um die Räum­lich­kei­ten zu sanie­ren und zu erwei­tern. Drei Kli­ma­zo­nen zur getrenn­ten Auf­be­wah­rung von Vinyl, Papier und Fil­men sowie ein Aus­stel­lungs­areal sol­len entstehen.

Toll, denke ich, da fällt mir ein nach der Ver­zö­ge­rung der Umset­zung zu fragen.

2014 in Aus­sicht gestellt – wir leben in 2023!

Wo andere ihre Wut über die Zustände hin­aus­schreien, sagt Rein­hard Lorenz trocken:

»Es ist schwe­rer als ich dachte.«

 

Epi­log

Die Wart­burg thront über Eisen­ach in olym­pi­scher Höhe.

Von der Idee über­rascht, auch Bach und Tele­mann gehör­ten zu die­sem Olymp, wende ich mei­nen Blick wie­der auf den Auto­ver­kehr stadtauswärts.

Johann Sebas­tian Bach war 1685 am Frau­en­berg in Eisen­ach gebo­ren wor­den und Georg Phil­ipp Tele­mann diente als Kon­zert­meis­ter und Kan­tor am Hof des Her­zogs Johann Wilhelm

von Sach­sen-Eisen­ach. Beide waren nicht weni­ger irdisch als die Min­ne­sän­ger und beide sind nicht weni­ger unsterb­lich, doch über die Unsterb­li­chen scheint alles gesagt, ihr Leben und Wir­ken scheint ausgedeutet.

Anders drun­ten im Pal­men­tal, »im thü­rin­gi­schen Unter­holz«, wo Jazz und Blues und Rock’n’Roll ihre Heim­stadt fanden.

Im Unter­bauch der Alten Mäl­ze­rei, im Jazz-Kel­ler »Posaune«, da grollt und bro­delt es, als würde Hephais­tos die Ket­ten für Pro­me­theus schmie­den – doch weit gefehlt: Die Meis­ter der Impro­vi­sa­tion spren­gen alle Ket­ten, die der Kon­ven­tio­nen und die der Res­sen­ti­ments, sie  zer­trüm­mern Kli­schees, um Raum zu schaf­fen für Gefühle und Träume.

Und dar­über – quasi im Ober­bauch – wer­den diese Lebens­zei­chen, diese Puls­schläge aus der  Tiefe ein­ge­sam­melt und auf­ge­ho­ben im dop­pel­ten Sinn. Durchs Archi­vie­ren wird die wilde Kunst zur Kul­tur­tat­sa­che, zum Gegen­stand der Wis­sen­schaft und Forschung.

Stu­den­ten, Dok­to­ran­den und Jour­na­lis­ten fra­gen an. Fil­me­ma­cher sind auf Spu­ren­su­che nach Fotos und Lebens­da­ten. Kurze Aus­künfte wer­den umge­hend erteilt, län­gere Recher­chen wer­den unter­stützt. Digi­ta­li­sie­rung erleich­tert den Zugriff und ver­hin­dert Erstar­rung nicht genutz­ter Bestände unter einer Schicht aus intel­lek­tu­el­lem Staub. Zwei Archi­vare wur­den Rein­hard Lorenz dafür zur Seite gestellt, die Stel­len vom Land Thü­rin­gen geför­dert. Die Samm­lung lebt – sie wächst mit jeder Nut­zung, sie wird genutzt, weil sie stän­dig wächst.

O‑Ton Rein­hard Lorenz:«Juni 2007 fei­erte das Bach­haus sein 100-jäh­ri­ges Bestehen. Ich hoffe, Glück, Geist und Geld mögen so zusam­men fin­den, dass auch von unse­rem Haus in 100 Jah­ren noch gespro­chen wird – als von einem Pil­ger­ort der popu­lä­ren Musik des 20. Jahr­hun­derts für ein inter­na­tio­na­les Publikum.«

Mein Wis­sen um die irdi­schen Mühen des Archiv-Lei­ters Rein­hard Lorenz schlägt noch ein­mal eine Brü­cke von der Alten Mäl­ze­rei im Tal hin­auf zum Berg: Der Mythos um den Sän­ger­krieg auf der Wart­burg erzählt seit Jahr­hun­der­ten von der Abhän­gig­keit der Kunst und ihrer Ver­mitt­lung von wohl­wol­len­den Mäze­nen – seien es Land­gra­fen, Her­zöge, Könige oder Kai­ser, Reichs- oder Minis­ter­prä­si­den­ten. Die peku­niäre Frage ist und bleibt existentiell.

»Wir ste­hen stän­dig mit den Ver­ant­wort­li­chen in Ver­hand­lun­gen«, sagt Rein­hard Lorenz.

Wir wis­sen beide: Wenn man nie­man­des Lied sin­gen will, muss man sich sein Brot erstrei­ten  oder, anders for­mu­liert: Man muss selbst und stän­dig den Fels den Berg hin­auf rollen.

Wir soll­ten uns – frei nach Albert Camus in sei­nem Trak­tat über Sisy­phos – Rein­hard Lorenz als opti­mis­ti­schen Men­schen vorstellen.

Diesen Artikel teilen:

Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio

Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2024 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]

URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/bernd-ritter-der-saengerkrieg-auf-dem-wartberg-und-im-palmental/]