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Bernd Ritter
»Dichters Wort an Dichters Ort« / Thüringer Literaturrat e.V.
Um ein Haar wäre Gotha Weimar geworden; Goethe hätte sich nur für jene Alternative zu entscheiden brauchen, die er selbst in einem Brief im März 1787, noch in Italien, bevor er Neapel per Schiff verließ, die Rückkehr nach Thüringen erwägend, formuliert hatte, in dem er den der Residenz Carl Augusts benachbarten Fürstenhof Ernsts II. als denkbaren »Landeplatz für mein Fasanenschiff« erwog.
Die Sensation blieb Gerücht und Gotha barock.
Mit breiter Brust steht Schloss Friedenstein hoch über der Altstadt, deren Häuser und Häuschen sich noch heute unter dem herrschaftlich strengen Blick aus 100 Fenstern zu ducken scheinen.
Hinter der frühbarocken Vierseitenanlage, im Süden, an der Parkallee, erstrahlt das Herzogliche Museum von 1879 in neuem Glanz und hinter diesem Prachtbau im Stil der Neorenaissance erstreckt sich das wunderliche Land des englische Gartens, mit einem Tempel und einem großen Teich und einer Begräbnisinsel darin, auf der eine Sphinx die Gräber Herzog Ernts II., seiner Frau und seiner 4 Söhne bewacht.
Hier ist mein Ort: die Parkbank am gegenüberliegenden Ufer, im Rücken der Sphinx, dieser Hüterin der Vergangenheit. Hier sitze ich, wenn es die Zeit zwischen zwei Terminen erlaubt.
Anfang April: Sonne, die in den Regenpausen Wasser zieht. Der englisches Garten kennt keine geraden Wege, keine Pyramiden und Kegelstümpfe, keine Symmetrie. Buchen und Eichen wachsen seit Jahrhunderten nach ihrer Natur, scheinbar unberührt von den Botschaften Verliebter, die in der Rinde zu Hieroglyphen vernarben.
Blattlose Zweige, knorrige Äste, schwarz vor hellem Himmel, der leicht und hoch ist wie der Himmel an der Decke der Schlosskirche. Wolken wölben sich spielerisch zu fantastischen Formen: Zierde eines Welttheaters.
Haselbüsche und stumpf gewordene Denkmalsockel stehen vereinzelt auf den Wiesen. Stockenten dösen in der Sonne: Farbtupfer im dürren, noch leblosen Gras.
Aus dem Haus an der Parkallee, in dem die Herzöge dem Aufklärer und Gründer des Illuminatenordens: Adam Weishaupt von 1786 bis zu dessen Tod 1830 Asyl gewährten, weht Musik herüber…etwas Klassisches… »Bilder einer Ausstellung« von Modest Mussorgski, aber in der Fassung von Emerson, Lake and Palmer: »Pictures At An Exhibition«.
Ich war, bevor ich in den Park ging, im Herzoglichen Museum gewesen. In der Niederländersammlung im blauen und in der Sammlung Altdeutsche Malerei im roten Oberlichtsaal. Barocke Fülle: Stillleben neben Landschaftsmalerei und Porträts, archiviert, konserviert, restauriert und inszeniert: ein Festmahl der Sinne…
Mein Besuch dauert nie länger als zwanzig Minuten, weil ich immer dieselben Gemälde betrachte: Brustbild eines jungen Mannes von Frans Hals, Landstraße mit Bauernwagen und Kühen von Jan Brueghel dem Älteren, Selbstbildnis mit Sonnenblume von Anthonis van Dyck, Alter Mann von Jan Lievens und die Heilige Katharina von Hans Holbein.
Heute entdeckte ich auf Brueghels Bild ein Detail, das mir bisher nicht aufgefallen war: das Schloss hinter den Bäumen in der Ferne.
Die Aufsicht, eine smarte Blondine in schwarzem Anzug: auch sie androgyn, auch sie Hüterin des Vergangenen, auch sie rätselhaft.
Die Sonne bricht hervor. Zuerst blinkt ein Lichtstrahl vom Haupt der Sphinx, dann ziehen Nebel durch die Bäume, als würde jemand Laub verbrennen; dann tauchen Gestalten auf: Wesen zwischen Erinnerung und Einbildung.
Jean Paul und Prinz August, Herzog Ernsts II. Bruder. Beide in lautem Disput, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich verstehe nur den Namen Caspar David Friedrich. Es geht um den Ankauf eines Bildes. Prinz August mag den Maler nicht. Ich sehe die Szene einer Beerdigung: 12 Grenadiere beleuchten um »Hoch-Mitternacht« den Heiligen Ort: das Grab Herzog Ernsts II.: eine Grube in bloßer Erde, mit Gras ausgelegt; der Leichnam in leinenem Tuch begraben: »das Gesicht gegen Morgen.«
Plötzlich schlurft Professor Galetti an mir vorbei, unrasiert, mit Nachtmütze und Morgenmantel: Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.
Der Alte schlurft grummelnd weiter.
Dann kommt der greise Dichter Hanns Cibulka auf mich zu. Endlich! Er könnte mein Vater sein; wir sind verwandte Seelen. In SPÄTE JAHRE schrieb er: Die Gestalten, von denen ich träume, kommen durch das Mauerwerk, durch die Decke, die Wand. Sie kommen mit einem Blumenstrauß in der Hand, gehen durch das Zimmer, nehmen vom Bücherbrett ein Buch, schlagen es auf, sehen mich an.
Ihn will ich fragen, ob man wollen kann, was man mit offenen Augen träumt.
Doch auch er hört mich nicht, sieht mich nicht, geht seiner Wege. Eine schwarzweiß gefleckte Katze springt aus einem Gebüsch heraus um seine Beine.
Die Sphinx, die »singende Hündin« leuchtet wieder auf: zuerst der Nacken, dann die kräftigen Flanken, am Ende der Raubtierschwanz. Sie scheint sich zu winden unter meinem Blick. Ich lasse nicht locker; diesmal will ich des Rätsels Lösung!
Die obskuren Vorgänge in der Nacht vom 13. zum 14. Dezember 1979: Ein Dieb kletterte am Westflügel des Schlosses mittels selbst gefertigter Steigeisen an einer Regenrinne und einem Blitzableiter über 9 Meter empor in den 2. Stock, schlug ein Fenster ein, hing in den damaligen Räumen der Niederländersammlung und der Sammlung Altdeutscher Meister fünf der ungesicherten Gemälde ab, schnürte sie zum Paket zusammen, stieg seine »Himmelsleiter« wieder hinab und entfernte sich mit der Beute im Schutz der Dunkelheit durch den Schlosspark in Richtung Schlachthof in der Uelleber Straße.
Von dort fuhren nächtlich Fleischtransporte Richtung Westdeutschland und in die Niederlande; in Gotha verpackt, gesichert und versiegelt, an keiner Grenze kontrolliert. Soweit die Interpretation der Spuren.
Ich bin kein Historiker, der belegen muss, was die Leute getan oder gesagt haben; ich kann es mir einfach ausdenken! Und ich denke: Wenn der Dieb vor 36 Jahren den kürzesten Weg vom Tatort zum Schlachthof am südöstlichen Ende des Schlossparks gewählt hatte, muss die Sphinx ihn gesehen haben! Und nach den Gesetzen der Traumwelt müsste der Kerl jetzt erscheinen!
Stattdessen sehe ich Männer, die ihn niederschlagen; sehe Bilderrahmen zerbrechen; sehe Gesichter, die ich zu kennen glaube…
Doch plötzlich ist der Spuk vorbei.
Ich starre den Knirps an wie ein Nachtwandler. Er zieht noch immer an meiner Jacke. Spielst du mit mir? Er zeigt auf einen kleinen Ball. Eine junge Frau, die Mutter, ungeduldig, ruft aus einiger Entfernung: Ein anderes Mal.
Ja, sage ich, ein andermal,- und ich sehe auf die Uhr: der Termin!
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