Anselm Oelze – »Überall, nicht nirgends«

Person

Anselm Oelze

Ort

Erfurt

Thema

Von Heimat zu Heimat

Autor

Anselm Oelze

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Frucht­bare Thü­rin­ger Löss­bö­den sind es, an die ich denke, wenn ich an Hei­mat denke. Dabei weiß ich nicht ein­mal genau, was das ist, ein Löss­bo­den, wie er aus­sieht, wenn die Sonne auf ihn scheint, wie er sich anfühlt, wenn man ihn in die Hand nimmt, oder wie er riecht, nach­dem der Regen ihn durch­nässt hat. Allen­falls weiß ich noch, wie es klang, wenn meine Grund­schul­leh­re­rin das Wort ›Löss­bo­den‹ aus­sprach, und es mag wohl zur sel­ben Zeit gewe­sen sein, dass ich zum ers­ten Mal in mei­nem Leben von ›Hei­mat‹ hörte. Denn das Fach, in dem von den Thü­rin­ger Böden die Rede war, hieß ›Hei­mat- und Sach­kunde‹. Dabei wurde der Aus­druck ›Hei­mat‹, wenn ich mich nicht irre, ebenso wenig erklärt wie der Aus­druck ›Löss‹ (und wie es scheint, sind die Defi­ni­tio­nen der bei­den ähn­lich umstrit­ten). Doch der Löss ging irgend­wie ein in mein Gedächt­nis, setzte sich fest und bil­dete eine Ver­knüp­fung mit der Hei­mat, die ich dar­über hin­aus vor allem mit Orten zu ver­bin­den lernte – mit den grauen Mau­ern der Drei Glei­chen, den stei­len Muschel­kalk­hän­gen des Riech­hei­mer Bergs, dem Renn­steig mit sei­nen zu Lied­text gewor­de­nen Buchen, Fich­ten, Tannen.

Der Hei­mat­be­griff, der sich in mir auf diese Weise formte, war kein son­der­lich ori­gi­nel­ler. Er bestand aus den Schau­plät­zen der Kind­heit, vor­nehm­lich hin­ter­legt in Bil­dern, hier und da ange­rei­chert durch einen Geruch, einen Klang, einen Geschmack, manch­mal mehr Gefühl als Ein­druck, in kei­ner Weise jedoch son­der­lich ver­schie­den von dem, was auch viele andere Men­schen ange­ben, wenn sie nach ihrer Hei­mat gefragt wer­den. Dass die Ant­wor­ten oft so ähn­lich aus­fal­len, mag kaum ver­wun­dern. Denn in der Hei­mat steckt nun ein­mal das ›Heim‹ und auch wenn es im Laufe eines Lebens reich­lich viele Orte geben kann, an denen ein Mensch sich daheim fühlt, ist der erste von ihnen womög­lich doch der prä­gendste oder jeden­falls der­je­nige, auf den viele nicht ohne einen Anflug von Nost­al­gie zurück­schauen. Warum das so ist, dafür hat der Sozio­loge Niklas Luh­mann schon Ende der sech­zi­ger Jahre in sei­ner klei­nen Schrift Ver­trauen eine Erklä­rung ent­wor­fen: »In ver­trau­ten Wel­ten«, so schreibt er, »domi­niert die Ver­gan­gen­heit über Gegen­wart und Zukunft. […] Man unter­stellt, daß das Ver­traute blei­ben, das Bewährte sich wie­der­ho­len, die bekannte Welt sich in die Zukunft hin­ein fort­set­zen wird.« Wenn diese Erklä­rung zutrifft, erscheint es unver­meid­bar, dass der Hei­mat immer auch etwas Rück­wärts­ge­wand­tes inne­wohnt, etwas, das nach ›den guten alten Zei­ten‹ riecht, nach Gewe­se­nem und Ver­lo­ren­ge­gan­ge­nem, von dem ledig­lich noch die Hoff­nung exis­tiert, es möge wie­der zurückkehren.

Der Ver­gan­gen­heits­be­zug hat es der Hei­mat schwer­ge­macht. Er hat sie muf­fig wer­den las­sen, hat den Ein­druck erweckt, es han­dele sich bei ihr um eine Schank­stube, in der nie­mand mehr sitzt außer ein paar ewig Gest­ri­gen. Und selbst die Reha­bi­li­tie­rungs­ver­su­che, die es hin und wie­der gab und gibt, kom­men sel­ten umhin, auf ein Pro­blem zu ver­wei­sen: die Hei­mat ver­stan­den als Ort, ganz gleich ob als Hei­mat­dorf, Hei­mat­stadt oder Hei­mat­land, hat etwas Exklu­si­ves. Sie mag etwas Schö­nes sein für die­je­ni­gen, die mit­be­stim­men dür­fen, wer drin sein darf und wer drau­ßen blei­ben muss, für die­je­ni­gen, die sich daran ver­su­chen kön­nen, »daß das Ver­traute blei­ben, das Bewährte sich wie­der­ho­len, die bekannte Welt sich in die Zukunft hin­ein fort­set­zen wird.« Für alle Übri­gen bleibt die Bot­schaft (die frei­lich nicht mehr ist als eine Annahme), dass die Hei­mat der einen nicht zugleich auch die Hei­mat der ande­ren sein kann. Dabei böte die ‚Hei­mat‹ rein sprach­lich gese­hen ganz andere Möglichkeiten.

Es gibt im Deut­schen (wie auch in ande­ren Spra­chen) eine Reihe von Aus­drü­cken, die ›deik­tisch‹ genannt wer­den. ›Ich‹ ist so ein Aus­druck, ebenso ›heute‹ oder ›hier‹. Sie die­nen dazu, auf Per­so­nen, Zei­ten oder Orte zu ver­wei­sen. Doch das jewei­lige Objekt, auf das gezeigt wird, ändert sich, und zwar je nach­dem wer, wann, wo den Aus­druck gebraucht. Hun­derte Men­schen kön­nen bei­spiels­weise gleich­zei­tig ›ich‹ sagen und nie­mand wird den Vor­wurf erhe­ben, dass andere die­sen Aus­druck nicht gebrau­chen dür­fen, da nur man selbst ›ich‹ sei. Ganz ähn­lich ist es mit dem Wört­chen ›hier‹. Es kann einen Markt­platz in Thü­rin­gen oder einen Strand in der Kari­bik bezeich­nen. Auch mit dem Wort ›Hei­mat‹ scheint es so zu sein. Es fehlt zwar auf den übli­chen Bei­spiel­lis­ten deik­ti­scher Aus­drü­cke, doch im Grunde gehörte es auf diese Lis­ten wie ›heute‹, ›hier‹ und ›ich‹. Es gibt schließ­lich nicht die Hei­mat, son­dern nur viele Hei­ma­ten, so wie es Ichs und Heu­tes und Hiers gibt, und dies wird den Rea­li­tä­ten der Mensch­heits­ge­schichte auch viel eher gerecht als ein Aus­druck, der etwas Aus­schließ­li­ches, Aus­schlie­ßen­des hat.

Die Geschichte der Mensch­heit wird gerne als Geschichte der Sess­haft­wer­dung erzählt. Der Über­gang vom Jagen und Sam­meln zu Acker­bau und Vieh­zucht gilt neben der Nut­zung des Feu­ers als ent­schei­den­der Schritt auf dem Weg zum Men­schen, wie wir ihn heute ken­nen, mit sei­nen Groß­städ­ten, Mast­stäl­len, Flug­hä­fen und Auto­bah­nen. Dabei ließe sich die Mensch­heits­ge­schichte auch ganz anders schil­dern: als Geschichte von Wan­de­run­gen näm­lich. Über zehn­tau­sende von Jah­ren war die Art Homo sapi­ens unter­wegs, brei­tete sich, den gän­gi­gen Theo­rien zufolge, vor rund zwei­hun­dert­tau­send Jah­ren im (süd-)östlichen Afrika aus, gelangte von dort, gut ein­hun­dert­tau­send Jahre spä­ter, in die Levante und bewegte sich in ver­schie­dene Rich­tun­gen wei­ter: zum einen vor rund fünf­zig­tau­send Jah­ren nach Süd­ost­asien bis Aus­tra­lien und zu den Inseln des Pazi­fiks, zum ande­ren und etwas spä­ter in den Mit­tel­meer­raum, nach Mit­tel- und Nord­eu­ropa sowie über eine Land­brü­cke von Zen­tral- und Ost­asien nach Nord- und Süd­ame­rika. Die Peri­ode der Sess­haf­tig­keit, die schät­zungs­weise irgend­wann zwi­schen dem zwölf­ten und dem zehn­ten Jahr­tau­send vor Chris­tus begann, stellt im Ver­gleich dazu den klei­ne­ren Abschnitt der Mensch­heits­ge­schichte dar. So bese­hen mutet es fast ulkig an, zwi­schen Alt­ein­ge­ses­se­nen und Zuge­zo­ge­nen zu unter­schei­den, wie es so oft geschieht, wenn von Hei­mat die Rede ist. His­to­risch betrach­tet sind so gut wie alle Men­schen Zuge­wan­derte. Und in vie­len Fäl­len wan­dern sie noch immer.

Die heu­ti­gen Wan­de­run­gen aber sind anders als die dama­li­gen und die Hei­mat – im engen Sinne des Her­kunfts­or­tes – spielt dabei eine ent­schei­dende Rolle. Der Pass näm­lich, den ein Mensch besitzt, ent­schei­det über die Reich­weite der Wan­de­run­gen, die er unter­neh­men kann. Mit einem deut­schen Pass lässt sich aktu­ell in ein­hun­dert­zwan­zig Län­der die­ser Erde vis­um­frei ein­rei­sen; mit einem afgha­ni­schen in vier. Und somit gibt es heute zwei­er­lei Wan­dernde: die­je­ni­gen, deren Wan­de­run­gen als legal gel­ten, nicht sel­ten sogar als aus­drück­lich gewollt. Dies sind die viel­be­schwo­re­nen Fach­kräfte, die Hoch­qua­li­fi­zier­ten, deren Anwe­sen­heit erwünscht ist, denen die Tore offen ste­hen, für die die Glo­ba­li­sie­rung ein Segen ist, denen die Erde zur Hei­mat gewor­den zu sein scheint. Und dann gibt es die­je­ni­gen (und sie sind nicht wenige), deren Wan­de­run­gen als ille­gal bezeich­net wer­den, denen die Wege, vor allem wenn sie Nicht-Weiße sind, durch Mau­ern und Zäune ver­sperrt wer­den, ja, die nicht sel­ten schon unter­wegs zurück­ge­drängt wer­den, bevor sie über­haupt um Ein­lass bit­ten konn­ten. Dies sind die Geflüch­te­ten, die ihre Hei­mat­län­der ver­las­sen haben, weil in ihnen Krieg, Ter­ror, Armut oder andere Not herrschen.

Unter den­je­ni­gen, die auf diese zweite Weise wan­dern (und in Bezug auf die der Aus­druck ›wan­dern‹ etwas Euphe­mis­ti­sches erhält), sind viele Kin­der. Sie waren oft noch sehr klein, als ihre Eltern sich mit ihnen auf den Weg mach­ten; etli­che von ihnen wur­den erst auf der Flucht oder in den Camps, in denen sie aus­har­ren müs­sen, gebo­ren. Sie mögen in ihren Mut­ter­spra­chen Wör­ter haben, die dem deut­schen ›Zuhause‹, womög­lich sogar der ›Hei­mat‹, ent­spre­chen. Doch sie haben ent­we­der kei­nen oder einen ganz ande­ren Begriff davon. Sie den­ken, anders als ich, nicht an frucht­bare Böden, an Bur­gen, Wäl­der, Berge, Flüsse; wenn über­haupt, so den­ken sie eher an zer­störte Stra­ßen und Häu­ser. Für viele von ihnen ist Hei­mat nichts, woran sie sich erin­nern, son­dern allen­falls etwas, wovon sie träu­men. Ein Ort, an dem sie sicher sind, an dem sie Leben kön­nen ohne Angst haben zu müs­sen, ganz gleich ob vor Armut oder Gewalt.

His­to­risch gese­hen ist die Hei­mat genau ein sol­cher Ort. Im 16. Jahr­hun­dert ent­wi­ckel­ten sich in Deutsch­land soge­nannte Hei­mat­rechte. Sie wur­den erwor­ben durch Geburt, Hei­rat oder Auf­nahme in eine Gemeinde. Den Gemein­de­an­ge­hö­ri­gen garan­tier­ten sie Unter­stüt­zung im Falle von Krank­heit und Alter oder in sons­ti­gen Not­la­gen. Diese Idee von Hei­mat als Ort, an dem man auf Hilfe zäh­len darf, ist im Grunde genom­men eine wun­der­bare Idee. Doch das gilt nur für die­je­ni­gen, die auch tat­säch­lich Mit­glie­der der Gemeinde sind und somit Hei­mat­recht genie­ßen. Alle ande­ren bekom­men zu hören, dass nicht belie­big viele Men­schen an einem Ort ver­sorgt wer­den könn­ten, dass jede Hei­mat Gren­zen habe, die es zu respek­tie­ren gelte und die gege­be­nen­falls mit Gewalt ver­tei­digt wür­den. Das Hei­mat­recht war eben ein Recht der Hei­mat und nicht jenes mensch­li­che Grund­recht auf Hei­mat, von dem Han­nah Arendt, die vier­zehn Jahre ihre Lebens, von ihrer Aus­bür­ge­rung durch die Nazis 1937 bis zur Ein­bür­ge­rung in den USA 1951, staa­ten­los (und somit auch ohne recht­li­che Hei­mat) war, einst sprach, und das allen Men­schen garan­tie­ren soll, eine Hei­mat zu haben oder eine zu finden.

Hei­mat so ver­stan­den ist dann aber nicht mehr nur ein Ort, von dem aus man in die Welt hin­aus­schaut oder hin­aus­geht, an dem man für immer blei­ben oder zu dem man irgend­wann zurück­keh­ren kann. Statt­des­sen ist sie auch ein Ort, an den Men­schen kom­men, die ihre Hei­mat­rechte (im Sinne des Rechts der Hei­mat) ver­lo­ren haben oder sie nie besa­ßen und die von ihrem Recht auf Hei­mat Gebrauch machen. Diese Hei­mat kann folg­lich keine Hei­mat sein, die aus­schließt. Sie ist eine Hei­mat, die ein­schließt bezie­hungs­weise offen ist. Sie ist, wie es sich für die Refe­renz­ob­jekte deik­ti­scher Aus­drü­cke gehört, etwas, auf das ver­schie­denste Men­schen zei­gen kön­nen und sich nicht wei­ter erklä­ren müs­sen, wenn sie, an unter­schied­li­chen Orten, zu unter­schied­li­chen Zei­ten und aus unter­schied­li­chen Blick­win­keln, die­ses Etwas ihre ›Hei­mat‹ nennen.

Ein Hei­mat­be­griff die­ser Art ist nicht völ­lig neu. Schon die 68er plä­dier­ten für einen ›eman­zi­pa­to­ri­schen‹ Hei­mat­be­griff, der migran­ti­sche Per­spek­ti­ven mit ein­be­zie­hen sollte und jüngst haben der Sozio­loge Erol Yil­diz und der Eth­no­loge Wolf­gang Meix­ner das Kon­zept der ›Mehr­hei­misch­keit‹ ent­wi­ckelt. Gele­gent­lich wird an der­lei Begrif­fen kri­ti­siert, sie wür­den die Hei­mat aus­höh­len, sie zu etwas Belie­bi­gem, etwas Lee­rem machen. Es wird unter­stellt, der Kos­mo­po­li­tis­mus solle zum Zwang, die glo­bale Hei­mat­lo­sig­keit zum neuen Ideal erho­ben wer­den. Aber diese Kri­tik ver­kennt, dass Hei­mat auf gewisse Weise immer schon glo­bal gewe­sen ist. Wer etwa mit der Hei­mat Thü­rin­gen die bekann­ten Kar­tof­fel­klöße ver­bin­det, muss ein­ge­ste­hen, dass auch sie einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund haben. Denn ohne die Erobe­rung Süd­ame­ri­kas wären die Kar­tof­feln womög­lich nie­mals nach Thü­rin­gen gelangt, wo es heute so scheint, als seien sie schon immer da gewesen.

Als ich Anfang der neun­zi­ger Jahre im Unter­richt etwas über Hei­mat lernte, über Klöße und Löss­bö­den, geschah dies auf Grund­lage eines frisch ver­ab­schie­de­ten Schul­ge­set­zes. Die Schule solle, so hieß es darin, »die Ver­bun­den­heit mit der Hei­mat in Thü­rin­gen und in Deutsch­land« pfle­gen. Aber nicht nur das. Sie solle auch, so hieß es wei­ter, »das Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl für alle Men­schen in der Welt« wecken. Die­ser Wort­laut mag etwas zu pater­na­lis­tisch und pathe­tisch sein. Doch es steckt etwas darin, das wich­tig ist für einen mög­li­chen Hei­mat­be­griff der Zukunft: das Bewusst­sein dafür näm­lich, dass Hei­mat hier sein kann und dort, ges­tern, heute und mor­gen, dass sie damit aber nicht nir­gends ist, son­dern über­all. Ganz egal, ob es dort, wo sie ist, frucht­bare Löss­bö­den gibt oder nicht.

 

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»Von Hei­mat zu Hei­mat – eine lite­ra­ri­sche Spu­ren­su­che« ist eine Reihe des Thü­rin­ger Lite­ra­tur­ra­tes e.V. mit freund­li­cher Unter­stüt­zung der Kul­tur­stif­tung des Frei­staats Thüringen.

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