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Anke Engelmann
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Erstdruck (in gekürzter Fassung) in: Thüringische Landeszeitung, 28.12.2023.
Von Kleinigkeiten und dem großen Ganzen
Seit 1992 ist Stefan Jakubek Bürgermeister von Posterstein und hat den Ort geformt und vorangebracht
Von Anke Engelmann
»Wir sind die jüngste Gemeinde im Altenburger Land«, sagt Bürgermeister Stefan Jakubek. »Viele wollen zu uns.« Andere Dörfern veröden und überaltern. In Posterstein wächst von Jahr zu Jahr die Einwohnerzahl: 350 lebten hier zur Wendezeit, 2023 sind es 475. Der Kindergarten, der vor einigen Jahren geschlossen werden sollte, beherbergt inzwischen zeitweise bis zu 26 Kinder. Ihre Eltern arbeiten auswärts, die meisten leben im eigenen Haus, arm ist hier niemand und auch nicht arbeitslos.
Posterstein, ein winziger Ort im Speckgürtel von Altenburg und Gera, eingebettet im Dreiländereck Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die A 4 ist immer zu hören und, vom Burgberg aus, auch zu sehen. Wer von der Bundesstraße auf die holprige Zubringerstraße abbiegt, ist überrascht, was hier alles los ist: ein Hotel, zwei Kneipen, ein Café. Spielplätze und Kindergarten, Fachwerkhäuser und Vierseitenhöfe. Feuerwehr und Festscheune, ein Seifenkisten-Verein, ein Kunst- und Kräuterhof, der auch müden Radwanderern Herberge bietet. Über allem thront die Burg mit ihrem Burgmuseum.
Der Dichter Hans Fallada hat hier zwei Jahre gelebt. Wir sitzen in der Fallada-Stube, im früheren Herrenhaus auf dem Burgberg, das jetzt das Café »Zur Eisernen Bank« beherbergt. 2016 bis 2018 hat die Gemeinde die ehemalige Landwirtschaftsschule ausgebaut, erfahre ich von Jakubek, dabei ein altes Wirtschaftsgebäude abgerissen, das den Blick auf die Burg verstellte.
Der Bau war teuer, trotz EU- und Bundesmitteln und Geld vom Freistaat. Die Gemeinde hat clever gegenfinanziert. Der heute im freundlichen Gelb strahlende Südflügel trägt sich komplett selbst: acht Eigentumswohnungen mit insgesamt 1.600 Quadratmetern Wohnfläche. Dazu eine Ferienwohnung, ein gemeindeeigener Fitnessraum, ein Therapiezimmer sowie Räume der Verwaltungsgemeinschaft »Oberes Sprottetal«.
In der Woche, wenn wenig Touristen kommen, kocht man in der »Eisernen Bank« das Mittagessen für den Kindergarten. Und am Wochenende lädt man zu Kulturveranstaltungen mit Festmenü. Dann ist der Raum knackevoll. Liegt’s am Essen? (Geschmorte Rehkeule. Bäckchen vom irischen Weideochsen. Fasan.) Liegt’s an der Kultur? (Live-Musik und Lesungen.) Oder an der Mischung? Klar ist, wer einen Platz ergattern will, sollte sich rechtzeitig anmelden.
Stefan Jakubek, Jahrgang 1961, hat in mehr als dreißig Jahren Gemeinde und Gemeinwesen geformt und vorangebracht. In den Gemeinderat stieg er zur Wende ein, ehrenamtlich mit ein paar Leuten, die sich einig waren: »Hier muss sich was ändern«. Als 1992 der bis dahin hauptamtliche Bürgermeister zurücktrat, hieß es: »Du bist der Stellvertreter, du musst das jetzt machen«.
»Ich war genau im richtigen Alter«, erinnert sich Jakubek, »hatte alles erledigt, was anstand: verheiratet, zwei Kinder, Armee, Bulgarien-Urlaub, Hausbau …« Seinen Job bei der Wismut, dem Uranbergbauunternehmen der Region, hatte er verloren und arbeitete in dieser Zeit als Verkäufer. Ein Aufbruch. »Plötzlich waren Dinge normal, von denen man vorher nicht einmal geträumt hat.«
Da hieß es, den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren. Vielleicht kann nur einer, der wie Jakubek im Ort verwurzelt ist, wahrnehmen und wertschätzen, was Posterstein in die Waagschale zu werfen hat. Und dafür sorgen, dass es sich nicht von Fördergeldern abhängig machen oder seine Kronjuwelen verhökern muss. Dazu gehören Entschlossenheit und Weitsicht und der Mut, zum Wohl des Ortes auch ungewöhnliche Wege zu finden und zu beschreiten. Gestützt von einem starken Gemeinderat hatte Jakubek keine Berührungsangst vor der Marktwirtschaft, anders als viele seiner Kollegen im Osten. Ein Phantast? Auf jeden Fall einer, der sieht: Hier kann etwas entstehen. Und dann die Ärmel aufkrempelt und loslegt.
»Mach kein Gewerbegebiet. Mach Wohngebiete. Das bringt stabile Einnahmen«, hatte sich Jakubek vorgenommen. Dazu der Grundsatz: Wo Neues entsteht, wird Altes erhalten. Heute gehören zu Posterstein 60 neue Eigenheime, gediegene Einfamilienhäuser mit großen Gärten, nicht die hässlichen Fertigteil-Schnellbauten, die überall die Stadtränder verschandeln. Das Bauland, betont der Bürgermeister, blieb für »ganz normale Bürger« erschwinglich, für Lehrer und Selbständige.
»Komisch«, sagt Jakubek und blickt sich um, »eigentlich hat hier auf dem Burgberg alles angefangen.« Der Platz vorm Burgmuseum war eines der ersten Projekte, das die Gemeinde in Angriff nahm. Danach baute sie das Gemeindeamt im Dorf aus, einen alten Dreiseitenhof. Dazu war kein Kredit nötig – die Gemeinde verkaufte die Wohnungen in den oberen Etagen. Der alte Stall daneben stand leer und stach dem Bauunternehmer ins Auge. »Können wir uns das mal ansehen?«, fragte er. Und nach der Besichtigung: »Da können wir doch ein Hotel reinmachen!«
Der Bürgermeister war Feuer und Flamme. »Wenn ihr das hinbekommt, spendiere ich zum Einzug ein Feuerwerk«, versprach er. Und als wirklich ’93 oder ’94 die Gaststätte im heutigen Elegant-Hotel »Zur Burg« eröffnete, zog Jakubek alle Register, mit Feuerwehr und Pipapo. »Wir haben ein Ding abgefeuert wie zum Tag der Republik.« Bis Corona kam, war das Hotel oft auf Jahre im Voraus ausgebucht. Jetzt berappelt es sich gerade wieder.
Wie schafft man es, dass sich die neuen Einwohner heimisch und die Einheimischen wohlfühlen? Manchmal helfen Kleinigkeiten. Namen zum Beispiel eröffnen Räume für Geschichte und Geschichten. Lange gab es in Posterstein nur die Dorfstraße, die Hausnummern tanzten wild durcheinander, neben der 200 lag die 13, dann die 200a. Jetzt heißen die Straßen »Am Markt« oder »Am Hofgarten«, weil dort die Pferdekoppel des Gutsherren lag, und die Wohngebiete: »Am Schmiedeberg«, »An den Obstwiesen« und »Gutsacker«.
Auch für das Café im Herrenhaus hat man nach einem besonderen Namen gesucht. Neugierig sollte er machen, den Blick ins Weite lenken, nicht nach innen. Burgblick? Herrenhaus? Schöner Blick? Bei Bier und Brainstorming kam die Idee: Stand nicht früher am Eingang eine eiserne Bank? Auf der die Kinder saßen, schon zu DDR-Zeiten? »So ein Bild geht mit WhatsApp dreimal um die Welt«, sagt Jakubek und grinst: »Den Namen ›Zur Eisernen Bank‹ gibt’s nicht noch mal.« Und natürlich fehlt auch nicht die Geschichte dazu, sie ist auf einer Tafel an der Hauswand nachzulesen. Der Teufel kommt darin vor und eine (eiserne?) Tür mit einer geheimnisvollen Inschrift, die niemand entziffern kann.
Und Hans Fallada? Bestimmt ein Glücksfall, wenn eine Gemeinde einen berühmten Dichter vorzuweisen hat. »Ganz ehrlich: Ich habe lange nicht gewusst, dass der Fallada hier gewesen ist«, antwortet Stefan Jakubek und fügt entschuldigend hinzu: »Der war ja zu DDR-Zeiten umstritten«. Inzwischen denke er manchmal, »der kommt hier gleich um die Ecke.« Vor allem der Film »Fallada – letztes Kapitel«, eine Defa-Produktion von 1988, hat ihm den Dichter nahegebracht. »Das war einer, der hat zehn Leben in einem gelebt.«
Viele Touristen wüssten nur von Falladas Aufenthalt im benachbarten Tannenfeld. Aber dass Rudolf Ditzen, wie der Dichter hieß, in Posterstein war und in der Landwirtschaftsschule auf dem Burgberg zwei vergleichsweise glückliche Jahre verbracht hat, ist nur wenigen bekannt. Hier absolvierte Ditzen eine Ausbildung zum Landwirtschaftseleven. Die schwere Arbeit erleichterte ihm vielleicht den Blick auf die nahegelegene Nervenheilanstalt Tannenfeld und einem damit verbundenen Trauma. 1912 war der Achtzehnjährige dort eingewiesen worden, weil er ein Jahr zuvor bei einem als Duell fingierten erweiterten Selbstmordversuch seinen Freund Hanns Dietrich von Necker getötet hatte.
Tannenfeld gehört zur Nachbargemeinde Löbichau. Die Parkanlage mit ihren alten Bäumen, den Azaleen und Rhododendren, liegt seit fast 25 Jahren im Dornröschenschlaf. Ein Märchenland, besonders im Frühling, wenn ein Teppich aus Buschwindröschen und Narzissen unter den riesigen Bäumen blüht. Doch die Gebäude verfallen zusehends. »Ich versteh das nicht, dass da keiner sagt: Ich mach was draus«, Jakubek schüttelt den Kopf. Für 300.000 Euro hatte ein Investor das 15-Hektar-Gelände gekauft. Ein Pflegeheim sollte entstehen. »Aber hier muss jemand investieren, der nicht nur auf Rendite schielt.« Jakubek hat auch eine Idee: »Eine Hochzeitslocation, das wäre gut.«
Von einem kleinen Ort aus lässt sich’s trefflich aufs große Ganze blicken. Jakubek beobachtet interessiert, wie sich die Welt rasant verändert. Und hat viele Ideen, was man besser machen oder besser vermitteln könnte. Zum Arbeitskräftemangel. Zur Energiekrise und dem Heizungsgesetz. Zum Rentenproblem. Zur Demokratie und zur AfD. Was er sagt, klingt nach gesundem Menschenverstand, nach dem Einfachen, das schwer umzusetzen ist. Vielleicht ist er deshalb in der Lokalpolitik geblieben. Weil die überschaubar ist, bei allen Schwierigkeiten.
Die gab und gibt es immer wieder. Zum Beispiel, dass in der nagelneuen Eventscheune wegen der Klage eines Nachbarn um 22 Uhr Schluss sein muss – ganz blöd bei Hochzeiten! Oder dass während der Corona-Pandemie und ihren Beschränkungen viel Vereinsarbeit kaputtgegangen ist. Jetzt müsste erst wieder eine neue Generation heranwachsen mit Lust, sich zu engagieren.
Oder dass die Arbeit auch anstrengt und aufreibt. »Ich bin garnicht mehr daheeme.« Offiziell arbeitet Jakubek 20-Stunden im Café und ehrenamtlich als Bürgermeister. Auf die Uhr guckt er nicht. »Das Beste im Leben ist, die goldene Mitte zu finden: nicht zu viel Stress, nicht zu wenig.« Eigentlich. Nur dass das im Leben und im Amt oft nicht klappt.
Gerade jetzt betritt so ein »Eigentlich« den Raum. Denn eigentlich ist heute Ruhetag und das Café geschlossen. Doch die zwei Touristen sehen sich neugierig um, betrachten die Fotos und die Bücherregale. »Idyllisch haben Sie’s hier!« Jakubek macht ihnen schnell einen Kaffee und scherzt mit den Gästen. Kinder zahlen im Café pro Kugel Eis einen Euro, Erwachsene 1,50 Euro, erzählt er, als er zurückkommt. Eine Kleinigkeit nur. Aber Kleinigkeiten sind wichtig.
Denn sie schaffen Gemeinschaft und Identität. Auch in einem Dorf ist man sich nicht automatisch nahe oder kommt ins Gespräch. Gefährlich, wenn dafür die Möglichkeiten fehlen. In einer Welt, die immer beängstigender und unüberschaubarer wird, in der viele nur noch in Internet-Blasen nach Bestätigung für ihre eigene Meinung suchen. Wo begegnet man anderen Einstellungen, kann miteinander reden und streiten – und feiern?
Dafür braucht es Räume. Einen Verein vielleicht. Den Stammtisch in einer Kneipe – oder eine Eventscheune mit einem Festsaal. Die in Posterstein bietet auf 180 Quadratmetern Platz für 300 Leute. »Wir veranstalten Einwohnerversammlungen und Ü30-Partys, Dorffeste und im Winter hatten wir einen Winterzauber. Karussell, Schneemann, alles da.«
Wir haben uns schon verabschiedet, doch »Haben Sie noch Zeit?«, fragt Jakubek. »Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen!« Wir schlendern über den Parkplatz, vorbei an einem alten Wirtschaftsgebäude, das leer steht (»Wir suchen gerade nach einem Investor«, erläutert der Bürgermeister im Vorbeigehen), biegen links ab. Die Wege sind kurz in Posterstein.
Auf dem kleinen Platz links das Feuerwehrhaus – früher die Werkstatt der LPG. Gegenüber die Festscheune, stolz prangt überm Eingang die Inschrift: »Neue Scheune Posterstein«. Jakubek winkt grüßend einem Lkw-Fahrer, der Getränke liefert, wechselt ein paar Worte mit einer Frau, die sauber macht. Ein Fest steht an: auf langen Tafeln warten die Stühle, dass sie jemand auf den Boden stellt, ein Caterer hat Essensbehälter gebracht. Große Fenster erhellen den Saal, wie in einer alten Tanzkneipe läuft oben eine Empore, auf der die alten Leute sitzen und den Jungen beim Schwof zusehen können.
Jakubek deutet auf eine Urkunde, die neben der Eingangstür hängt: »2006: Europäischer Dorferneuerungspreis für eine ganzheitliche, nachhaltige, mottogerechte Dorfentwicklung von herausragender Qualität«. Dass der Bürgermeister viel richtig macht, muss ihm keine Urkunde bestätigen. In Posterstein kann die AfD wenig Protestwähler aktivieren. Bei der letzten Bürgermeisterwahl 2022 konnte sich der parteilose Jakubek bei einer Wahlbeteiligung von 86 Prozent mit 155 von 309 gültigen Stimmen gegen zwei Gegenkandidaten durchsetzen.
Und hat so das Mandat, weitere Pläne anzugehen. Nahe der Autobahn soll auf 50 Hektar ein Solarfeld entstehen, mit Strom für 17.000 Haushalte. Und auch kulturell wird erweitert. Ein Wanderweg zu Hans Fallada ist in Arbeit, an dem der Thüringer Literaturrat beteiligt ist.
Ein letzter Weg durch den Ort, am Hotel von unten ein Blick hoch zum Burgberg, zu dem hier nicht alle, aber viele Wege führen. Vor der Gemeindeverwaltung putzt sich eine Katze. Gegenüber ein Spielplatz. An der Bushaltestelle wirbt im Gemeindekasten ein Aushang für den Fitness-Raum im Herrenhaus. Daneben sucht eine junge Familie ein neues Zuhause in und um Posterstein. Hinterm Ortsausgang, am Weg, der laut Schild nirgendwohin führt, versteckt sich im Wald eine geschnitzte Eule. Eine Amsel singt gegen den Autolärm an.
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