Anke Engelmann – »Das verlorene Buchenwald-Schiff oder Geschichten aus dem alten Schulhaus«

Person

Anke Engelmann

Ort

Gaberndorf

Thema

Von Heimat zu Heimat

Autor

Anke Engelmann

Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Hei­mat ist Iden­ti­tät. Wir defi­nie­ren uns über eine Land­schaft, einen Dia­lekt, einen Geruch, ein Lied und dem, was wir in der Kind­heit erlebt haben. In der Erin­ne­rung ver­bin­den sich die Ein­drü­cke zu einer Melange, deren Aroma für jeden ein­zig­ar­tig schmeckt. Hei­mat gerinnt zum Kitsch, wenn man diese Suppe nicht von Zeit zu Zeit umrührt und mit neuen Zuta­ten anrei­chert. Wer das schein­bar Tra­dierte hin­ter­fragt, gewinnt auch einen neuen Bezug zur Hei­mat. Dazu aller­dings muss man seine Kom­fort­zo­nen aus­tas­ten und ihre Gren­zen, die Sicher­heit geben, über­schrei­ten. Und manch­mal macht man sich unbe­liebt. »Lass doch die alten Geschich­ten ruhen«, heißt es dann. »Das bringt doch jetzt nichts mehr!«

Gabern­dorf. Der 1.600-Seelen-Ort im Gram­me­tal gilt heute als Orts­teil von Wei­mar. Ursula Krie­ger war­tet vor dem Wind­fang eines roten Back­stein­ge­bäu­des, das sich beschei­den an der Land­straße hin­ter der alten Dorf­linde ver­steckt. Unter einem Tuch leuch­ten unge­stüme rote Locken. Zwei­ter Ein­druck: Som­mer­spros­sen, grüne Augen, Hände wie die einer Bäue­rin und mit kurz­ge­schnit­te­nen Nägeln. Fast ein Jahr­zehnt hat die ehe­ma­lige Leh­re­rin in dem Haus unter­rich­tet, zunächst in ihren Aus­bil­dungs­fä­chern Deutsch und Kunst, spä­ter über­nahm sie auch Bio­lo­gie, Geo­gra­fie und den Sportunterricht.

1978 wurde hier die Schul­klin­gel abge­stellt und das Lär­men der Kin­der ver­stummte. 2020 haben Ehren­amt­li­che das Haus neu belebt, mit einem Bür­ger­café im Erd­ge­schoss und einem Schul- und Hei­mat­mu­seum unterm Dach. »Wir haben jetzt die Anspra­che gefun­den, die 1896 zur Eröff­nung gehal­ten wurde«, Ursula lacht. »Die haben alles über den grü­nen Klee gelobt.« Keine Rede davon, dass bei dem Neu­bau vor fast 170 Jah­ren eini­ges ver­schwand. Zwei Wap­pen­steine aus dem 16. und 18. Jahr­hun­dert zum Bei­spiel, die bis dato zu dem frü­he­ren Lokal gehör­ten. Heute ste­hen sie anderswo im Dorf, pro­mi­nent, als wären diese Grund­stücks­mauer und jener Vor­gar­ten schon immer ihr ange­stamm­ter Platz gewe­sen. Jeder im Ort kennt sie, jeder Durch­rei­sende sieht sie. Aber wo sie einst stan­den – wer will das noch wissen?

 

Arpeln und Schnupptichel

Den Stei­nen ist es egal, woher sie kom­men. Ein Mensch kann seine Her­kunft nicht able­gen wie einen alten Man­tel. Seit 55 Jah­ren lebt Ursula Krie­ger in die­sem Ort, der nicht mehr Dorf und noch nicht Klein­stadt ist. »Was ist Hei­mat für dich?« Die Ant­wort kommt sofort: »Hopf­gar­ten.« Hopf­gar­ten, der Geburts­ort, wo Mut­ter, Groß­va­ter und die rot­haa­rige Oma nach der Umsied­lung aus dem Sude­ten­land eine neue Hei­mat gefun­den hat­ten. »Es gab kei­nen Tag, an dem dar­über nicht gespro­chen wurde.« Hopf­gar­ten, das ist selbst­ge­machte Scho­ko­lade, der Klang der ver­trau­ten Mund­art, umsorgt wer­den und den Geschich­ten lau­schen, die die Groß­mutter erzählte. Spä­ter habe sie eine Liste mit sude­ten­deut­schen Voka­beln ange­legt: Kar­tof­feln hie­ßen Arpeln, Johan­nis­bee­ren Ribis­seln und Taschen­tü­cher Schnupptichel.

Immer hatte sie zu tun, als Leh­re­rin, als Frau, als Mut­ter von zwei Söh­nen. Sie hat Wis­sen an Genera­tio­nen von Mäd­chen und Jun­gen in Gabern­dorf, in Daas­dorf a. B. und in Nie­der­zim­mern wei­ter­ge­ge­ben, ist dafür mit dem Rad oder auf Ski­ern die andert­halb Kilo­me­ter zum Nach­bar­ort gefah­ren, manch­mal hatte sie dafür nur die kleine Pause von zehn Minu­ten. Sie hat den gro­ßen Gar­ten bestellt, den Haus­halt besorgt und bis zu deren Tod vier Jahre lang ihre Schwie­ger­mut­ter gepflegt.

Sie hat um ihre Frei­räume gekämpft, ist drei Mal den Jakobs­weg gelau­fen, obwohl auf ihren Schul­tern immer auch die Ver­ant­wor­tung für die Fami­lie las­tete. »Es ist schwer, sich hier los­zu­ei­sen. Wenn ich weg bin, liegt die Ver­sor­gung brach.« Die Erleb­nisse der Pil­ger­rei­sen hat sie in drei Büchern ver­ar­bei­tet. »Diese Frei­heit! Die­sen Weg allein zu gehen, das war eine über­wäl­ti­gende Erfah­rung. Dass nie­mand mir rein­re­den konnte, dass ich nur für mich ver­ant­wort­lich war!« Und dass sie man­ches bewäl­ti­gen konnte, was sie allein mit sich her­um­tra­gen musste. »Ich konnte eine neue Hal­tung finden.«

Zudem hat sie einen Gedicht­band ver­öf­fent­licht und einen mit Erzäh­lun­gen. Die lyri­sche Ader hat sie wohl, ebenso wie die auf­müp­fige Haar­farbe, von der Groß­mutter geerbt. Die hat auf­ge­schrie­ben, was die Fami­lie im Böh­mi­schen alles zurück­las­sen musste. Auch ein Gedicht für die Buchen­wald-Häft­linge hat Ursula in ihrem Nach­lass gefunden.

 

Klei­nes Museum, große Schätze

Sam­meln und bewah­ren, gra­ben und das, was sich schein­bar alt­be­kannt »ent-deckt«, mit einem neuen Blick betrach­ten: Wer die Ver­gan­gen­heit wirk­lich wach­hal­ten will, muss bei­des beherr­schen. Ursula Krie­ger lei­tet das kleine Museum in der ehe­ma­li­gen Schule, das auf ihre Initia­tive hin ent­stan­den ist. Sie hütet Schätze, die sich unterm Dach wie in einer Zeit­blase ange­sam­melt haben und immer don­ners­tags, wenn im Erd­ge­schoss die Kin­der im Fami­li­en­café lär­men und die Müt­ter bei Käff­chen und Selbst­ge­ba­cke­nem schwat­zen, kann man diese Zau­ber­welt besichtigen.

Ihr Reich kennt sie ganz genau; zu jedem ein­zel­nen Stück weiß sie eine Geschichte. Wo es her­kommt, wozu es diente. Wer es gebracht hat. Im Schul­mu­seum, zwei klei­nen Räu­men gera­dezu hin­ter dem klei­nen Flur, sit­zen oft Kin­der auf den höl­zer­nen Schul­bän­ken. Viel­leicht wun­dern sie sich über die alte Zeit, die so umständ­lich-ana­log gewe­sen sein muss. Sie schrei­ben auf die Schie­fer­ta­feln und bestau­nen die Krei­de­ta­fel mit dem Aba­kus, die Ster­nen­karte, das Vogel­ske­lett, die aus­ge­stopfte Els­ter mit dem schräg geneig­ten Kopf, das alte graue Tele­fon (mit Wähl­scheibe!). Die ehe­ma­lige Leh­re­rin deu­tet auf die Schul­bänke, das Lehr­ma­te­rial: »Hier kön­nen die Kin­der alles in die Hand neh­men und ausprobieren.«

Auch den Schnaps in der gro­ßen Glas­fla­sche? Ursula lacht und hebt die Fla­sche mit dem ver­gilb­ten Eti­kett. Die Flüs­sig­keit, die zwei Fin­ger­breit darin schwappt, leuch­tet tief­schwarz, nicht schnaps­klar. »Das ist Tinte. Ori­gi­nal Füll­fe­der-Tinte.« Sie greift nach einer Uhr, die wie eine kleine Torte in einem grauen, kreis­run­den Behäl­ter schlum­mert. »Und das«, sagt sie fei­er­lich und streicht lie­be­voll dar­über, »ist die Ori­gi­nal Schul­uhr aus Nie­der­zim­mern. Der Geschichts­leh­rer Herr Fell hat sie uns 1999 über­las­sen. 1989 wurde sie ange­hal­ten. ›Jetzt bleibt die Zeit ste­hen‹, hat er gesagt.«

Aus­pro­bie­ren, anpro­bie­ren, das lockt auch in dem gro­ßen Raum nebenan, der das Hei­mat­mu­seum beher­bergt. Stau­nend betritt man ihn, geht schnur­stracks zu den Klei­der­stän­dern mit der hand­be­stick­ten Wäsche. Am liebs­ten möchte man ver­klei­den spie­len mit den alten Sachen, ent­zü­ckend, diese volu­mi­nö­sen Unter­ho­sen mit den bestick­ten Rüschen am Knie! Der Blick wan­dert rechts zur Küchen­ecke mit der Küchen­hexe – so nannte man die Küchen­öfen mit Herd. »Der war so schwer, dass sich die Umzugs­firma zunächst gewei­gert hat, ihn unters Dach zu schleppen.«

Relikte aus einer Zeit, in der in Haus und Hof alles per Hand gemacht wurde. Küchen­ge­räte kün­den, wie die Frauen geschuf­tet haben: Ent­saf­ter, ein Rös­ter für Gers­ten­kör­ner, eine Wäsche­man­gel, Bügel­eisen in allen Grö­ßen und Gewichts­klas­sen, Kan­nen, Pfan­nen, Waa­gen, ein Bla­se­balg, ein Feder­wisch und eine Gar­ni­tur mit Mau­se­fal­len. Kleine Dinge erzäh­len vom All­tag wie die Metall­schil­der mit den Namen, dar­un­ter auch der Name »Krie­ger«. Sie wur­den in die Kuchen und die Stol­len gesteckt, die man beim Bäcker backen ließ.

Mit­tig im Raum lang­weilt sich ein eiser­ner Kano­nen­ofen, dane­ben links schlum­mern Pup­pen mit offe­nen Augen in ihrem Pup­pen­wa­gen, ein Schau­kel­pferd träumt, Sam­mel­tas­sen hocken auf bestick­ten Tisch­de­cken und hof­fen auf üppig bestückte Kaf­fee­ta­feln, ein Röh­ren­ra­dio war­tet dar­auf, dass jemand auf den Anschalt-Knopf drückt, und in einer Pup­pen­stube fin­den sich Möbel, Geschirr, Spiel­zeug und eine Zink­ba­de­wanne noch ein­mal en miniature.

Im Flur öff­net Ursula Krie­ger einen Schrank mit archäo­lo­gi­schen Zeug­nis­sen. Scher­ben, Werk­zeug, Schmuck, man­ches aus dem Mit­tel­al­ter oder älter. Stü­cke, die sie im Umfeld des Etters­ber­ges gefun­den hat, auf Flur­be­ge­hun­gen, die sie seit 1974 als ehren­amt­li­che Boden­denk­mal­pfle­ge­rin unter­nimmt. Wie erkennt man, was in einem Stein, in einer Scherbe, in einem Stück Holz steckt? »Man braucht einen Blick dafür«, sagt sie und legt die Arte­fakte behut­sam zurück. Die Liebe zur stein­ge­wor­de­nen Ver­gan­gen­heit hat sie viel­leicht vom Vater. Schon als Kind habe sie mit ihm am Fuße des Etters­ber­ges Fos­si­lien gesam­melt. Sie deu­tet auf eine Schub­lade mit Ver­stei­ne­run­gen und lacht: »Ein Muschelfriedhof«.

Wir stei­gen die steile Holz­treppe wie­der hinab, vor­bei an alten Flur­kar­ten und der Fos­si­li­en­samm­lung auf dem Fens­ter­brett. Noch ein­mal ein Blick auf die Kar­ten, die man selbst aus dem Geo­gra­fie­un­ter­richt kennt. Kurz in die Räume schnup­pern, da die Hei­zungs­an­lage, dort das Leh­rer­zim­mer und hier, das war der Kar­ten­raum. Dazu Epi­so­den und Anek­do­ten. Von dem Leh­rer Trau­ter­mann. In der ers­ten Etage habe er gewohnt, gleich neben dem Klas­sen­raum, bis er 1947 gestor­ben sei.

In der ers­ten Etage die Bil­der des Mal­kur­ses, die Lio­nel Fei­nin­ger ergrün­den wol­len, den ame­ri­ka­ni­schen Maler, der in der Bau­haus-Zeit die Dör­fer um Wei­mar mit Pin­sel und Zei­chen­stift fest­ge­hal­ten hat, dar­un­ter auch Motive aus Gabern­dorf. »Meine Mal­gruppe«, sagt Ursula Krie­ger stolz. »Die Kleins­ten gehen gerade in die zweite Klasse«.

 

Eine Kogge, kunst­voll geschnitzt 

Die Ver­gan­gen­heit besteht nicht nur aus Schwel­gen in nost­al­gi­schem Heim­weh. Manch­mal muss man im Dreck wüh­len, um ein Gold­stück zu fin­den – und es dann wie­der zu ver­lie­ren. Lass doch die alten Geschich­ten, damit kann sich Ursula Krie­ger nicht zufrie­den­ge­ben. Zu den alten Geschich­ten gehört das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger, das die Nazis seit 1937 nur drei Kilo­me­ter ent­fernt auf dem Etters­berg ein­ge­rich­tet hat­ten und das den Ort bis heute überschattet.

Mit Mit­strei­tern vom Ver­ein der Natur- und Hei­mat­freunde Nie­der­zim­mern hat die ehe­ma­lige Leh­re­rin Geschich­ten und Erin­ne­run­gen für das Buch »Nach­hall des Krie­ges« gesam­melt und bear­bei­tet. Es erscheint im Wei­ma­rer Eck­haus Ver­lag und kann schon jetzt bestellt wer­den. Vie­les hat sie gehört und recher­chiert, was man einem Frem­den viel­leicht nicht erzählt hätte. Von dem fran­zö­si­schen Häft­ling, den eine Fami­lie vor den Nazis ver­steckt hatte. Als er sich 2021 bedan­ken wollte, hät­ten die Nach­fah­ren den Kon­takt ver­wei­gert. Von der Frau jüdi­scher Her­kunft im Nach­bar­ort, die noch nach dem Krieg aus­ge­grenzt wurde. Und von dem Segel­schiff aus dem Besitz der Fami­lie H.

Sie hat­ten es aus dem KZ mit­ge­bracht, nach Kriegs­ende, wohin Rolf H., der damals noch ein Junge war, mit sei­ner Mut­ter zum Plün­dern gegan­gen war – wer in die­ser Zeit Kin­der durch­zu­brin­gen hatte, konnte nicht zim­per­lich sein. Allein irrte er durch die Häft­lings­ba­ra­cken, stapfte durch Blut und Fäka­lien, sah die Lei­chen, auf­ge­schich­tet wie Holz­scheite und im Arzt­zim­mer Spritze, Skal­pell, einen Arzt­kit­tel und die Mess­latte mit dem Loch für den Genick­schuss. »Du Hit­ler!«, habe ihn einer der Häft­linge beschimpft. Ein­drü­cke, die ihn nie los­ge­las­sen hät­ten, erzählt Ursula Krie­ger, seine Chronistin.

Spä­ter sei er an der Hand der Mut­ter zur Villa von Karl Otto und Ilse Koch, dem Lager­kom­man­dan­ten und sei­ner Frau. Seine Mut­ter kramte in den Schub­la­den, ihn lockte ein Geräusch in den Kel­ler. Ein Mann in Sträf­lings­klei­dung habe ihm bedeu­tet, er solle war­ten. Als er wie­der auf­tauchte, trug er mit bei­den Hän­den das Schiff. Eine Kogge, so groß wie ein neu­ge­bo­re­nes Kind, kunst­voll aus dunk­lem Holz gefer­tigt mit drei Mas­ten voll beflaggt. Das habe er ihm in die Hand gedrückt und sei wort­los wie­der verschwunden.

Seit­dem gehörte das Schiff zum Fami­li­en­be­sitz. Auf einem Foto sieht man deut­lich die Auf­schrift: W. Werth 1943. Willi Werth, seit 1937 Buchen­wald-Häft­ling, ein begab­ter Tischer, der 1942 im KZ auf Ver­an­las­sung der Stadt Wei­mar und des Goe­the-Natio­nal­mu­se­ums auch Kopien der Möbel von Fried­rich Schil­ler ange­fer­tigt hat.

Nach dem Tod von Rolf H. strit­ten sich seine Söhne um das Ver­mächt­nis der Kogge, erzählt Ursula Krie­ger. Einer wollte das Schiff an die Gedenk­stätte Buchen­wald geben, der andere es zu Geld machen. Schließ­lich ver­schwand es.

 

»Ach, wenn wir doch ein Bild hätten!«

Ursula Krie­ger ist es auch zu ver­dan­ken, dass der Name Jutta Kör­ner heute mehr als ein Schrift­zug auf einer Gedenk­ta­fel ist. Die 17-jäh­rige Kin­der­gärt­ne­rin aus Gabern­dorf wurde kurz vor Kriegs­ende in Wei­mar ver­schüt­tet. 30 Kin­der und vier Erzie­he­rin­nen kamen ums Leben, als ein Voll­tref­fer den Kin­der­gar­ten in der Richard-Strauss-Straße in Schutt und Asche legte.

Das Schick­sal der jun­gen Frau ließ Ursula Krie­ger nicht los. Sollte Jutta Kör­ner nur ein Name und eine Bemer­kung in der Orts­chro­nik blei­ben? Nach hart­nä­cki­ger und detek­ti­vi­scher Suche ent­deckte sie auf dem Gabern­dor­fer Fried­hof das Grab der Kör­ners mit dem Grab­stein, auf dem auch Jut­tas Name steht. Auf Fotos sieht man, wie das Grab vor die­ser Ent­de­ckung aus­sah. Abseits liegt es, ver­wil­dert und ver­nach­läs­sigt, der Stein mit der Schrift­seite nach unten flach auf dem Boden, von Efeu über­wu­chert und nahezu unsichtbar.

Ohne Geneh­mi­gung habe sie mit ihren Söh­nen den Stein ange­ho­ben und gefun­den, was sie suchte. Sie machte Fotos, sprach mit dem Fried­hofs­amt, das ihr ver­si­cherte, noch in die­sem Jahr werde alles wie­der gerich­tet. Doch das reichte nicht. »Ich wollte unbe­dingt wis­sen, wie sie aus­ge­se­hen hat«, sagt Ursula. Ver­wandte seien nicht mehr aus­zu­ma­chen und es gebe auch kein Foto von der jun­gen Frau, hieß es. »Ich habe immer gesagt: Ach, wenn wir doch ein Bild von ihr hätten!«

Eines Tages ent­deckte eine Gabern­dor­fe­rin im Poe­sie­al­bum ihrer ver­stor­be­nen Mut­ter einen Vers, dar­un­ter der Name: Jutta Kör­ner. End­lich eine Spur! Ihre Mut­ter hatte auch ein altes Foto von ihrem Schul­ab­schluss auf­be­wahrt. Ein Bild in Sepia-Braun zeigt Teen­ager auf Schul­bän­ken, die viel zu klein für sie sind. »Das ist sie«, Ursula Krie­ger deu­tet auf die junge Frau, die in der ers­ten Reihe in der Mitte sitzt. Die Arme hat sie vor der Brust ver­schränkt, ihr run­des Gesicht umrahmt ein Zopf­kranz. Sie lächelt in die Kamera.

 

***

»Von Hei­mat zu Hei­mat – eine lite­ra­ri­sche Spu­ren­su­che« ist eine Reihe des Thü­rin­ger Lite­ra­tur­ra­tes e.V. mit freund­li­cher Unter­stüt­zung der Kul­tur­stif­tung des Frei­staats Thüringen.

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