Andreas Koziol – »Menschenkunde« / Lutz Rathenow – »Früher ist morgen« / Thomas Böhme – »Orpheussplitter«

Personen

Jens-Fietje Dwars

Lutz Rathenow

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Jens-F. Dwars

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in: Palmbaum 1/2025

Jens‑F. Dwars

Drei­mal feine Gedichte

 

1957 in Suhl gebo­ren, war Andreas Koziol Mit­her­aus­ge­ber der Unter­grund­zeit­schrit Ari­ad­ne­fa­brik. Einer der lei­sen, doch um so prä­zi­ser sprachmäch­ti­gen Lyri­ker des Prenz­lauer Bergs. In Heft 1/23 brach­ten wir im Palm­baum einen Vor­ab­druck aus dem Gedicht­band, der jetzt, ein Jahr nach sei­nem Tod bei Kook­books erschie­nen ist.

Men­schen­kunde: Mensch ist Kunde / Ein­sam­keit Gesell­schafts­spiel“, heißt es in Eil­mel­dun­gen. Unbe­stech­lich­li­che Lako­nie kenn­zeich­net all diese Gedichte. Kein Zynis­mus, eine Trau­rig­keit, die mit Rei­men und zuwei­len auch der­bem Witz das Grund­ver­kehrte unse­rer Welt ins Bild setzt: „Der Schat­ten wird zum Licht / Die Pole kehrn sich um / Der Arsch wird zum Gesicht / Der Him­mel weiß warum“.

Ein Unzeit­ge­mä­ßer: „Wir waren zu lange die Ant­wort / auf Fra­gen die nie­mand mehr stellt“. Der wusste: „Es gibt keine Lösung – es gibt nur das Los.“ Lutz Sei­ler, einem Zeit­ge­mä­ßen mit ganz ande­rer Ästhe­tik,  ist die­ser Band zu ver­dan­ken. Im Nach­wort bekennt er sich als Bewun­de­rer der Gedichte Koziols.

 

In ein­la­den­dem Hell­blau wie die Men­schen­kunde kommt auch der neue Band von Lutz Rathe­now daher. Eine Art Auto­bio­gra­fie in Ver­sen. Schon das erste Gedicht beginnt mit: „Kind­heit, eine nie endende Höhle / unter dem Tisch“.  Dich­tung ist sein Spiel­platz, der Schutz­raum, in dem Rathe­now die absurde Welt beschreibt, sie in gro­teske Bil­der trans­for­miert. Mit der anar­chi­schen Lust eines ewig jun­gen Ich, das sich der Ord­nung der Erwach­se­nen nicht fügen will, erschafft er eigene Wel­ten gren­zen­lo­ser Fan­ta­sie, zeigt uns als „ewige Kin­der“, die „wie ein Gras­hüp­fer … / Von Pla­net zu Pla­net“ springen.

Das ist keine hohe Poe­sie, aber eine leben­dige, die aus dem Kind­li­chen ihre Kraft zur Welt­be­ja­hung zieht. Darin liegt Stärke und Schwä­che, oder sagen wir: die Gefahr sei­ner Gedichte in eins: Lutz Rathe­now spru­delt nur so vor Ein­fäl­len und er ist dabei ver­sucht, einen jeden schnell auf­zu­schrei­ben, ohne lange daran zu fei­len. Einer die­ser zau­ber­haf­ten Ein­fälle: wir beob­ach­ten die Sterne und „Träu­men, sie träum­ten / von Wesen wie uns / beob­ach­tet zu wer­den“. Und der kür­zeste: „Glück 1989 / Ganz ohne Knall – / der Mauerfall.“

Natür­lich kann man den Zusam­men­bruch und des­sen Fol­gen auch anders sehen, aber Witz hat die­ses comic-haft ver­kürzte Geschichts­bild in Dada-Manier. Zehn Ori­gi­nal­holz­schnitte von Katja Zwirn­mann poten­zie­ren die Lust am Blät­tern und Lesen in dem Buch.

 

Der schönste der drei Bände ist viel­leicht der schmalste: Nur 32 Sei­ten umfas­sen die Orpheus­split­ter von Tho­mas Böhme, von Stef­fen Büch­ner mit drei Lin­ol­schnit­ten illus­triert, dar­un­ter einem expres­si­ven Por­trät des Dichters.

Der wird in die­sem Jahr 70 und zeigt sich in den weni­gen Gedich­ten auf der Höhe sei­nes Kön­nens. Weit­bli­ckend sou­ve­rän schon der Beginn: Roms lan­ges Ster­ben – heim­lich unheim­li­che Vor­schau auf den Unter­gang Euro­pas: „So bringt Schön­heit Ver­der­ben denen, die sie entweihten.“

Fein das Hadrian-Gedicht: „Seit ich ein Gott bin / flieht mich der Schlaf. // Und erst seit ich geliebt habe / weiß ich, was die Chris­ten / mit ewi­ger Ver­damm­nis meinen.“

Am stärks­ten die Orpheus-Split­ter: „Als Orpheus nur mehr ein Name war, den die Zug­vö­gel / in die ferns­ten Regio­nen der Erde  tru­gen, nah­men / Glo­cken ihn auf und pflanz­ten ihn in die Köpfe der / Ket­zer, damit ihre See­len gefes­tigt dem Feuer ent- / stie­gen. (…) Doch der / Wind trug das Stöh­nen unter­schieds­los von den / Schin­dackern in die Welt, daß es anschwoll zum Sturm, / der die Steine zum Sin­gen brachte und die Flüsse aus / ihren Bet­ten zerrte.“

Berüh­rend zuletzt die Abbitte an die Mut­ter: „Wenn sie umwölkt von betö­ren­den Düf­ten / sich über mein Kin­der­bett neigte / war ich geblen­det von ihrer Schön­heit & Güte“ / (…) / Meine Bücher blie­ben ihr fremd / doch las sie jedes von Anfang bis Ende. / (…) /  In der Nacht war sie ein­sam gestor­ben. / Einen nächt­li­chen Anruf hatte ich überhört.“

 

Andreas Koziol, Men­schen­kunde. Gedichte, Hrsg. v. Lutz Sei­ler, kook­books Ber­lin 2024, 89 S., geb., 24 EUR

Lutz Rathe­now, Frü­her ist mor­gen. 111 Gedichte mit 10 Holz­schnit­ten von Katja Zwirn­mann. Ver­lag Ralf Liebe, Wei­ler­swist 2025, 152 S., 25 EUR

Tho­mas Böhme, Orpheus­split­ter. Gedichte, Lyrik-Edi­tion Neun, Bd. 33, Ver­lag der 9 Rei­che, Ber­lin 2024, 32 S., 9 EUR

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