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Annette Seemann
Erstdruck: Thüringer Allgemeine, 17.02.2017.
Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Hinab ins Tal, mit Rasen sanft begleitet,
Vom Weg durchzogen, der hinüberleitet,
Das weiße Haus inmitten aufgestellt,
Was ist’s, worin sich hier der Sinn gefällt?
Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Erstieg ich auch der Länder steilste Höhen,
Von wo ich könnt die Schiffe fahren sehen
Und Städte fern und nah von Bergen stolz umstellt,
Nichts ist’s, was mir den Blick gefesselt hält.
Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
Und könnt ich Paradiese überschauen,
Ich sehnte mich zurück nach jenen Auen,
Wo Deines Daches Zinne meinem Blick sich stellt,
Denn der allein umgrenzet meine Welt.
aus: Bettine von Arnim, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, Berlin 1835.
Die Dichterin (1785–1859) war Tochter der »Maxe« la Roche, der Goethe in seiner Jugend schöne Augen machte. Bettine Brentano hatte ab 1807 in Frankfurt Kontakt zu Goethes Mutter, erfuhr alles über ihn, seine Kindheit und Jugend und näherte sich so legitimiert dem Dichter.
1807 besuchte sie ihn dreimal in Weimar, wurde mit 22 Jahren sein »liebes Kind«, koboldartig, ungestüm, phantasie- und gefühlvoll. Sie duzten einander. Alsbald begann beider Briefwechsel. Sie schrieb 41 lange, Goethe 17 kurze Briefe. Für sie war er Dichter-Prophet, sie fühlte sich »vergöttlicht« durch den Kontakt mit ihm.
Entsprechend ist das 3‑strophige Gedicht vom einfachen Reimtypus A‑B-B-AA programmatisch, das im Tagebuch Bettines, 1835 gemeinsam mit dem ersten eigenen Werk, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde veröffentlicht am Ende auftaucht.
Eine Feldherrin des Geistes übersieht das Goethesche Gartengrundstück und deklariert ihren Eigentumsanspruch daran. Gemeint ist kein materieller Wert am Haus, sondern die Teilhabe am Goethe-Kosmos insgesamt, der für Bettine die Welt ausmachte, seitdem sie sich Zugang zu ihm verschafft hatte, denn keine Stadt der Welt noch das Paradies konnten für sie mit Goethes Gartenhaus mithalten.
Das Haus war ein Symbol, ein Sehnsuchts- oder Referenzort für sie, die Jahre nach Goethes Tod nach Weimar zurückgekommen war, um sich ihm dichterisch erneut zu nähern und Kraft für ihr Schaffen zu schöpfen. Hatten doch viele Jahre, und nicht unverschuldet von Bettines Seite, ihre und Goethes Herzensbündnis behindert, insbesondere das massive Zerwürfnis 1811 zwischen Christiane Vulpius, Goethes Lebensgefährtin, und Bettine in Weimar, provoziert von Bettine.
Erst mit 50 Jahren, nach dem Tod ihres Manns Achim von Arnim und dem Tod Goethes, ihres geistigen Vaters, hat sie ihr erstes Buch veröffentlicht, woraus wir das Gedicht lasen.
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