Thüringer Anthologie Nr. 014 – Hellmut Seemann über Wulf Kirsten

Ort

Weimar

Thema

Die »Thüringer Anthologie«

Autor

Wulf Kirsten / Hellmut Seemann

Erstdruck: Thüringer Allgemeine, 21.06.2014.

Wulf Kirsten

durchsichtig

 

letzte reise mit freund Brod,
der schon neun bücher vorweisen
konnte, wäh­rend Kafka, wohl‑
vor­be­rei­tet zu Goe­the unterwegs,
die pil­ger­fahrt als lite­ra­ri­scher nobody
antrat, eine woche in spar­ta­ni­scher kammer
genäch­tigt hoch oben für zwei mark,
in einen back­fisch ver­schos­sen jählings,
namens Gret­chen, eben sech­zehn geworden,
das unter­richt nahm im weißnähen,
bei hoch­som­mer­hitze sah Kafka
sie leicht­ge­wan­det ziehn
die Erfur­ter straße hoch, erotisiert
von ihrem durch­sich­ti­gen kleid.

2./3.1.2014 / Erstdruck.

 

Hellmut Seemann

Kafkas Gretchen

 

durch­sich­tig – hat Wulf Kirs­ten über die 14 Zei­len, mit denen er das Jahr 2014 begrüßte, geschrie­ben. Durch­sich­tig­keit ist keine Qua­li­tät von Gedich­ten. Durch­sich­tig nennt man untaug­li­che Ver­su­che: Nach­ti­gall ick hör Dir trap­sen. Durch­sich­tig sind Fehl­leis­tun­gen: unver­ges­sen jener Schul­abend, an dem der Freund der ver­sam­mel­ten Schü­ler- und Eltern­schaft die foto­gra­fi­sche Aus­beute einer Schul­fahrt an die Nord­see zeigte – auf jedem Bild, ob Strand, Leucht­turm oder Son­nen­un­ter­gang, war immer die­selbe Klas­sen­ka­me­ra­din zu sehen… Durch­sich­tig kön­nen Stoffe sein. Gedichte sol­len undurch­sich­tig sein, sol­len eine ver­dich­tete, her­me­ti­sche Qua­li­tät haben. Wulf Kirs­ten pfeift auf gedich­tete Gedichte. Sein Gedicht ist durch­sich­tig bis zur Offen­sicht­lich­keit. Die Namen, ein­zig sie mit gro­ßen Buch­sta­ben geschrie­ben: Brod, Kafka, Goe­the, Gret­chen, Kafka, Erfur­ter, diese Namen las­sen auf den ers­ten Blick durch­schei­nen, worum es hier geht: um eine kul­tur­ge­schicht­li­che Epi­sode in Wei­mar, unge­nannt blei­bend, aber ersicht­lich der Ort des Geschehens.

Tat­säch­lich kam Kafka als Pil­ger, sei­nen Freund Max Brod im Gepäck, 1912 hier­her, mie­tete sich in der Geleit­straße güns­tig ein, besuchte das Haus am Frau­en­plan und ver­liebte sich Hals über Kopf in ein Mäd­chen, die Toch­ter des Haus­meis­ters vom Goe­the­haus, ein Mäd­chen, das, um das unglück­li­che Ende gleich anzu­deu­ten, auf den Namen Gret­chen hörte. Es war heiß in Wei­mar, der junge Mann Kafka fühlte sich wie von lan­ger Hand, wie von Goe­the selbst, in diese unglei­che Bezie­hung mit der eben 16jährigen hin­ein­ge­zo­gen. Ver­ant­wor­tungs­lose, schick­sal­hafte wei­ma­ri­sche Ver­qui­ckung, Ver­stri­ckung, Erlö­sung. Leben und Werk: Wenn schon kein lite­ra­ri­scher Erfolg, dann doch immer­hin Gret­chen von Goe­the. Werk und Leben: Jener Freund Brod, der erfolg­rei­che, er sollte es sein, der das Werk Kaf­kas ret­tete, wenn schon Gret­chen das Leben nicht ret­ten konnte. Durch­sich­tig, die­ser his­to­ri­sche Stoff, dem Kirs­ten ein leich­tes, luf­ti­ges Som­mer­kleid über­ge­streift hat. Das Kind, das Mäd­chen, die Frau, sie zieht die Erfur­ter Straße hoch, es ist heiß, das Nach­mit­tags­licht, in das sie hin­ein­läuft, lässt sie wie eine Erschei­nung durch­sich­tig wer­den. Nur ganz leicht steigt die Straße an. Aber für den sehn­süch­tig ihr nach­schau­en­den Franz ist es wie ein Auf­stei­gen zum Licht, zur Liebe, zum Leben. Auch das Licht der Ver­klä­rung ist durchsichtig.

 

Bio­gra­phi­sche Angaben

  • Wulf Kirs­ten, gebo­ren am 21. Juni 1934 in Klipp­hau­sen bei Mei­ßen, ist einer der bedeu­tends­ten deutsch­spra­chi­gen Dich­ter der Gegen­wart. Seit 1965 lebt er in Weimar.
  • Hell­mut See­mann, gebo­ren 1953, ist seit 2001 Prä­si­dent der Klas­sik Stif­tung Weimar.
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