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Christine Hansmann
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Christine Hansmann
An dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt am Seldwyl vorüberzieht, erhebt sich eine weitgedehnte Erdwelle…
Vermutlich haben im elterlichen Bücherschrank der kleinen, lesehungrigen Marthe Renate Fischer auf dem märkischen Rittergut nicht nur Gottfried Kellers und Theodor Storms Novellen gestanden, auch Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg oder Stifters Bunte Steine lassen sich denken.
Jedenfalls eröffnet sie ihren 1920 erschienenen Roman Die aus dem Drachenhaus mit eindrücklichen Landschaftsmotiven, die sich durch das ganze Buch ziehen und am Ende die Tragödie der Hauptperson besiegeln:
Eine flache Erdwelle zieht sich vor ihnen hin. Sie trennt die Bergriesen von der lieblichen Tälerkette, darin die Dörfer der Menschen liegen. Über die kleine Welle läuft das Ackerland…
Geboren 1851 im märkischen Zielenzig, wächst Marthe Fischer, die Zeitgenossin Gerhart Hauptmanns, als kluges und phantasievolles, früh schon zur Feder greifendes Kind heran – sie saß beim alten Kutscher auf der Futterkiste und zog ihr Frageregister auf… Aber der Schulbesuch, mit zwölf Jahren durch Krankheit unterbrochen, bleibt sporadisch, ein Universitätsstudium undenkbar. Sie eignet sich in der Folge ihr gründliches Wissen, ihre Lektürekenntnisse als Autodidaktin an; die Familie zieht bald über Frankfurt/Oder nach Berlin. Hier erscheint 1886 mit dem Novelettenkranz die erste Buchveröffentlichung – für zwanzig Pfennige in Weicherts Wochenbibliothek ‒ Marthe Fischer ist 35 Jahre alt.
Ein Rezensent rühmt die kraftvolle, bilderreiche Sprache, den Spannungsbogen der Handlung, ihr tiefes Einfühlungsvermögen in die handelnden Personen – bleibende Kennzeichen ihres Werkes, das sich mit den folgenden »Jungmädchenbüchern«, zahlreichen Novellen und vor allem den wichtigen Romanen ihrer letzten drei Lebensjahrzehnte stetig vergrößert.
Marie von Ebner-Eschenbach als Brieffreundin begleitet und ermutigt sie, so 1906 zur Novelle Die Kränzchenfrau : Tief bewegt, voll Wehmut und voll Freude, habe ich die köstliche Erzählung aus der Hand gelegt und werde sie nie vergessen. Sie gehört wohl zu den schönsten und besten, die wir überhaupt besitzen.
Manch schrullige Gestalt im Drachenhaus, wie die alten, abergläubischen Dörfler Phillipp und Ernestine mag möglicherweise dem trunksüchtigen Hirten Virgil und seiner Frau, der Kräuterhexe Virgilia in Ebner-Eschenbachs Gemeindekind nachempfunden sein.
Während ihr Leserkreis ansonsten begrenzt bleibt, wird Die aus dem Drachenhaus Marthe Fischers bekanntester Roman. Die Handlung spielt im Hexengrund in Thüringen, gelegen zwischen Kochberg und Orlamünde. Detailreich und humorvoll, mit feinem Sinn für Zwischentöne, beschreibt sie die ländliche Umwelt zu Ende des 19. Jahrhunderts, den Gang der Jahreszeiten, Feste, Sitten und Gebräuche und die Lebensgeschichte der Agnes Andermann. Das junge, schöne Mädchen ‒ die ihre Umgebung zum Leuchten brachte, Heiterkeit und Lauterkeit ausstrahlte ‒ ist dem Burschen Hilmar Zorn versprochen. Doch im Tal geht der Aberglaube um: Agnes‘ Familie hätte Glück und Wohlstand einem Pakt mit dem »Drachen« zu verdanken; ebenso wie andere vorchristliche Bräuche – das »Zaubersträußchen«, der »Erdspiegel« oder das »Reisegeld im Sarge« – ist der Drachenglaube in der Gegend noch immer lebendig. Das zerstört nicht nur ihre junge Liebe, sondern zwingt sie auch, nach zwei Jahren als Dienstmagd in der Stadt und dem qualvollen Tod der Mutter, in die ungeliebte Ehe mit dem jähzornigen Witwer Schaffer. Agnes lässt sich nicht unterkriegen, bringt Haus und Hof in Schwung, gewinnt in Müller Ehrlich und seiner Frau Holda neue Freunde und pflegt den Schwiegergroßvater hingebungsvoll. Als Hilmar Zorn in das Nachbarhaus einheiratet, spüren beide, wie sehr sie einander immer noch verbunden sind. Erst als alles nach einem glück-lichen Ende aussieht, wird Agnes doch noch das Opfer ihrer eigenen, durch den Drachenglauben geprägten Wahnvorstellungen.
Marthe Fischer hat sich selbst einmal als »Aberglaubenforscherin« und ein nie zustandegekomme-nes »Thüringer Aberglauben-Buch« als ihr wichtigstes Anliegen bezeichnet, was die spannende Lektüre des Drachenhauses eindrucksvoll belegt. Für ihre Studien scheut sie sich nicht, den »Leuten aufs Maul zu schauen«, geht als Bäuerin oder Näherin verkleidet in die Täler, um sich mit dem dörflichen Alltag, Brauchtum und Dialekt vertraut zu machen, beobachtet genau, recherchiert akribisch, über Jahre, für jedes einzelne Buch. Das macht auch die Figuren im Drachenhaus so lebensecht, bereichert die Geschichte mit zahlreichen Details aus dem Thüringer Dorfleben, mit Mundartbegriffen wie »Rettel« (Knüppel) oder »Trombe« (Schwarm), lässt den heimischen Dialekt nie aufgesetzt wirken.
Marthe Fischer hat ihr umfangreiches literarisches Werk einer anfälligen Gesundheit und schwierig-sten Lebensumständen abgerungen. Fünfzehn Jahre pflegt sie ihre Mutter, lebenslang kümmert sie sich um die beiden älteren, in ihrem Haushalt lebenden Schwestern. Einem christlich-sozialen Ethos ist sie unbedingt verpflichtet. Ehe und eigene Kinder bleiben aus; ohne Vermögen oder Pension abgesichert, muss sie den Lebensunterhalt als junge Frau aus Handarbeiten und Krankenpflege, später aus Vorträgen, Lesungen und den wenigen Buch-Tantiemen bestreiten. In den Akten der Deutschen Schillerstiftung spiegeln etliche Bittbriefe die Notlagen der Dichterin; ab 1900 wird ihr aus der Stiftung über ein Vierteljahrhundert (!) finanzielle Unterstützung gewährt.
Vermutlich Ende der 1890er Jahre ist sie von Berlin nach Thüringen übergesiedelt und in Uhlstädt an der Saale (unweit des Hexengrundes), Leutenberg und Saalfeld heimisch geworden. In Saalfeld, wo sie ihre letzten elf Lebensjahre verbringt, findet sich auf dem dortigen Friedhof auch der ungewöhnliche, 1926 gestiftete Gedenkstein.
Trotz des großen Presseechos auf ihren Tod im Jahr 1925 (der spätere Thüringer Landesbischof Moritz Mitzenheim hält ihre Grabrede) wird Marthe Renate Fischers Werk schnell vergessen. Das mag zum einen an den geringen Auflagen ihrer Buchtitel liegen, zum anderen am konservativen Hintergrund und dem mitunter schwärmerischen Naturalismus ihres literarischen Schreibens. In den 1960er und 70er Jahren hat die Evangelische Verlagsanstalt Berlin zwei Novellensammlungen, die beiden wichtigsten Romane, Die aus dem Drachenhaus und Die Blöttnerstochter und unter dem Titel »Mit den Augen der Liebe« einen biographischen Abriss von Hans Friese mehrfach neu aufgelegt, was auf einen breiteren christlichen Leserkreis in der damaligen DDR schließen lässt.
Seit 2001 wird sie im Flößereimuseum im alten Uhlstädter Wehrhaus gewürdigt.
Wer die Mühe des Einlesens in ihren eigenwilligen Stil nicht scheut, dem sei die Lektüre von Die aus dem Drachenhaus, aber auch ihrer Novellen, deren beste den Vergleich mit Gottfried Keller oder Theodor Fontane nicht zu scheuen brauchen, mit Wärme empfohlen.
Die Natur hatte all ihre Seidenfarben ausgehängt von spinnwebfeinem Gewebe und zartem, weichgetönten Reiz der Farben. Eine ganze Skala Grün war ausgebreitet, köstlich in jeder Tönung, am köstlichsten und feinsten aber an den langen, hängenden Birkenzweigen. Wer kann eine feinere Seide herstellen, einen wundervolleren Farbenton hervorbringen, wie der, wenn die Sonne scheint und die jungen Blätter durchleuchtet. Da sieht man die Farbe Grün, wie sie war, als sie geboren wurde.
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