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Lisanne Dörner
Alle Rechte bei der Autorin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Lisanne Dörner
Kleine Welt, große Welt
Auf den ersten Blick scheint Anselm Oelzes Roman »Die da oben« eine ruhige Geschichte über Nachbarschaften, Beziehungen und den Alltag in einem Leipziger Wohnhaus zu sein. Doch schon bald wird klar, dass sich hinter dieser unscheinbaren Kulisse ein komplexes Bild verbirgt, in dem Generationen, soziale Schichten und politische Systeme aufeinanderprallen. Oelze nimmt die kleine Welt des Hauses in der Thomasgasse und verwandelt sie in ein Vergrößerungsglas, durch das sich Brüche, Konflikte und Sehnsüchte unserer Zeit beobachten lassen. Damit gelingt es ihm, das Private und das Politische auf eine Weise zu verweben, die den Leser unweigerlich zum Nachdenken über die eigene Lebensrealität anregt.
Der Titel ist bewusst doppeldeutig. »Die da oben« kann wörtlich die Nachbarn über der eigenen Wohnung meinen, die einem manchmal das Leben schwer machen. Gleichzeitig impliziert er jedoch auch Kritik an »denen da oben« – der Bürokratie, politischen Institutionen. Schon hier deutet sich das zentrale Spannungsfeld des Romans an: das Nebeneinander von Alltagskonflikten und größeren gesellschaftlichen Strukturen, die sie prägen.
Das Haus wird zu einem symbolischen Raum. Hier prallen nicht nur Generationen aufeinander, sondern auch unterschiedliche soziale Hintergründe, wirtschaftliche Verhältnisse und politische Überzeugungen. Das Gebäude in der Thomasgasse wird so zu einer Metapher für Gesellschaft, die sich in immer kleinere Untergruppen spaltet. Oelze belässt es jedoch nicht bei diesen äußerlichen Gegensätzen. Viel wichtiger ist die innere Suche der Figuren nach einem Platz im Leben. Es geht um die Loslösung von der Familie und die Frage, wie man ein selbstbestimmtes Leben führen kann, wenn man gleichzeitig in alten Abhängigkeiten verstrickt ist. Es geht um den Kinderwunsch der Hauptfiguren Tess und Moyra, die eigene Herkunft, das Erbe der deutschen Wiedervereinigung, das für die älteren Figuren noch präsent ist. Und es geht darum, wie sehr sich Menschen durch ihre Ängste und Zweifel selbst blockieren.
Im Mittelpunkt des Romans stehen drei Frauen – Tess, Moyra und Heike –, die alle mit denselben Fragen beschäftigt sind: Wo gehöre ich hin? Was ist mein Platz in dieser Welt? Und bin ich überhaupt genug? Diese existenziellen Zweifel ziehen sich wie ein roter Faden durch die Handlung. Rückblenden in ihre Vergangenheit verstärken diesen Eindruck, indem sie zeigen, wie sehr ihre früheren Erfahrungen die Gegenwart prägen. Jede der drei Frauen trägt ein Bündel von Erwartungen, Ängsten und Sehnsüchten mit sich. Doch anstatt diese offen zu äußern, tragen sie diese oft still mit sich herum, was die Spannung zwischen ihnen weiter verstärkt. Dieses Schweigen ist nicht nur Ausdruck von Unsicherheit, sondern auch ein Schutzmechanismus, der verhindern soll, verletzlich zu wirken. Gleichzeitig führt er dazu, dass Missverständnisse und unausgesprochene Konflikte sich verfestigen.
Oelzes Sprache ist präzise, manchmal fast karg, dabei immer poetisch. Er schildert keine großen Gefühlsausbrüche, sondern arbeitet mit kleinen Gesten, mit Andeutungen, mit dem, was zwischen den Zeilen steht. Einige Passagen wirken langsam, doch diese Langsamkeit spiegelt die Realität wider: Entscheidungen werden aufgeschoben, Fortschritte vollziehen sich langsam und mühsam. Die Figuren sind keine Helden, sondern unvollkommene Menschen, die sich in Widersprüchen verstricken. Ihre Handlungen sind nicht immer logisch oder konsequent, aber sie sind menschlich. Trotz der Schwere des Stoffs und manch langer Passage ermöglicht der Roman den Lesern eine starke Identifikation mit den Figuren. Er vermittelt, dass Solidarität, Selbstbestimmung und soziale Integration komplexe Prozesse sind, für die es keine einfachen Lösungen gibt. Empfohlen sei der Roman allen, die bereit sind, sich auf Zwischentöne und komplexe Figuren einzulassen.
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