Jürgen K. Hultenreich – »Mit einer Sense rudert jemand leise. Gedichte aus 45 Jahren«

Personen

Jürgen K. Hultenreich

Jens Kirsten

Ort

Erfurt

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Jens Kirsten

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstdruck in: Palmbaum, Heft 1/2025.

Jens Kirs­ten

Über­all wächst Antwort

 

Kurz nach­dem der 1948 in Erfurt gebo­rene Jür­gen K. Hul­ten­reich 1984 in den Wes­ten aus­ge­reist war, erschien im West-Ber­li­ner Basis Ver­lag sein Gedicht­band »Lang­sam rück­wärts ist eine kräf­tige Gang­art«. Bereits in die­sem schma­len Band wird sicht­bar, dass Hul­ten­reich ein Dich­ter ist, der früh zu dem fand, was für ernst­zu­neh­mende Dich­ter so schwer zu fin­den ist: eine eigene, unver­wech­sel­bare lyri­sche Stimme.

Im Okto­ber 2024 edierte die Ver­le­ge­rin Cathe­rine J. Nicely in ihrem Ver­lag Palm­Art­Press sei­nen zwei­ten Gedicht­band. »Mit einer Sense rudert jemand leise« ver­eint Gedichte aus 45 Jah­ren und ist im Grunde eine lyri­sche Werk­aus­gabe, die Gedichte aus ver­schie­de­nen Publi­ka­tio­nen mit auf­nimmt und in einer ein­drucks­vol­len Geschlos­sen­heit vor­stellt. Der eigen­wil­lige Titel ver­weist auf Hul­ten­reichs hin­ter­sin­ni­gen Humor und formt nicht nur im Titel eine Brü­cke zum ers­ten Gedichtband.

Den Band durch­zieht leit­mo­ti­visch der nicht immer gerad­li­nig gezo­gene Lebens­fa­den des Dich­ters. Deut­lich wird das im Gedicht »Ich erin­nere mich« über ein Sta­si­v­e­rhör in der Erfur­ter Andre­as­straße: »Und als ich raus­kam dann, mit mei­nem Neu­ge­sicht, / da wars die schönste, dunkle, kalte, weiße Nacht. / Ich ging nach Haus, durch Erfurt, lang­sam, machte Licht / und nahm die Katze in den Arm und hab ver­se­hent­lich gelacht.« oder in »Grenz­über­gang Ber­lin Januar 1990«: »Jetzt steigt aus den Trüm­mern / ihrer Gedächt­nisse / die hoff­nungs­volle Angst der Toten«.

Einige Gedichte des Ban­des stam­men aus Künst­ler­bü­chern, für die er Gedichte schrieb und die trotz allem Erfah­re­nen seine Lebens­zu­ge­wandt­heit offen­ba­ren. Wenn­gleich es mit­un­ter hef­tig zugeht, so geschieht das meist mit einem Augen­zwin­kern. »Der Abend war schön das Fleisch war gut / Wir fra­ßen die letz­ten Kno­chen / Einige Gäste tran­ken Blut / und brach­ten die Haus­frau zum Kochen« (»Geburts­tags­party«).

Wie die Liebe kann auch Dich­tung durch den Magen gehen. Hul­ten­reichs Gau­men behagt die boden­stän­dige Kost. Sei es ein ein­fa­ches But­ter­brot oder eine gute Bock­wurst. In »Das Leben« heißt es: »Selt­sam war, dass ich dabei Appe­tit auf eine gute Bock­wurst bekam schön heiß mit viel Senf« oder in »Es gab eine Kneipe«: »Dort konnte man früh um vier noch Bock­wurst / mit Salat bestel­len ohne sich ent­schul­di­gen zu müssen«.

Hul­ten­reichs Gedichte füh­ren nicht sel­ten in tiefe mensch­li­che Abgründe, die jedoch kei­nes­wegs in Ver­zweif­lung enden. Der Dich­ter bricht sol­che Situa­tio­nen durch fein­do­sier­ten Humor und reißt neue Hori­zonte auf, zumin­dest ermög­licht er – im Sinne Höl­der­lins – dem Suchen­den einen Weg ins Offene.

Wenn man Jür­gen K. Hul­ten­reich gerecht wer­den will, kommt man nicht umhin zu sagen: Er ist ein Mul­ti­ta­lent. Jugend-Meis­ter im Hoch­sprung, begna­de­ter Schach­spie­ler, Bas­sist der Erfur­ter »Modern Blues Band«. Er absol­vierte ein Fach­schul­stu­dium für Biblio­theks­we­sen in Leip­zig, wo der B.-Traven-Forscher Rolf Reck­na­gel als Dozent für Welt­li­te­ra­tur zu sei­nen Leh­rern gehörte. Er ent­deckte sein zeich­ne­ri­sches Talent erst spät in sei­nem Leben wie­der und hatte als Tus­chör – er zeich­net nur auf Blät­tern im Post­kar­ten­for­mat – ad hoc beacht­li­chen Erfolg. Zahl­rei­che Aus­stel­lun­gen bezeu­gen das. Doch Hul­ten­reich ist vor allem ein begna­de­ter Erzäh­ler. In Eck­knei­pen, beim Fla­nie­ren auf der Straße, vor­zugs­weise im Ber­li­ner Wed­ding, wo er seit 1984 lebt, lau­fen ihm Geschich­ten und Bil­der der Groß­stadt zu, die in sei­nen Tex­ten und Gedich­ten zu eige­nem Leben erweckt wer­den. Täg­lich schreibt er Tage­buch, meist auf zwei­fach gefal­te­ten A 4‑Blättern, mit­un­ter auf Rück­sei­ten von Pro­gramm­zet­teln oder was sonst gerade zur Hand ist. Seine Gabe, ande­ren zuhö­ren zu kön­nen und sich selbst nicht in den Vor­der­grund zu spie­len, nährt sein inne­res Archiv täg­lich aufs Neue. Beim Lesen wächst mit jeder Seite die Lust, den Band unter den Arm zu klem­men und in einer »Arche« ein Bier und eine Bock­wurst zu bestel­len. Viel­leicht kommt Hul­ten­reich vorbei.

 

  • Jür­gen K. Hul­ten­reich: Mit einer Sense rudert jemand leise. Gedichte aus 45 Jah­ren, Palm­Art­Press, Ber­lin 2024, 200 S., 25,00 EUR.

 

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