Jan Volker Röhnert – »Mein erster Olymp«

Person

Jan Volker Röhnert

Ort

Gera

Thema

Von Heimat zu Heimat

Autor

Jan Volker Röhnert

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Jan Vol­ker Röhnert

Mein ers­ter Olymp

 

Am reich­hal­tigs­ten an alterthüm­li­chen Plät­zen ist in uns­rer Nähe die Umge­bung von Rüders­dorf und Stüb­nitz. In süd­li­cher und süd­west­li­cher Rich­tung lie­gen die bei­den Thüm­mels­berge, der eine nach Kraft­s­dorf, der andere nach Har­pers­dorf zu. Von bei­den geht die Sage, dass sie vor sehr lan­ger Zeit Bur­gen getra­gen hät­ten. Vor eini­gen Jahr­zehn­ten sol­len noch Mau­er­reste vor­han­den gewe­sen sein; jetzt sind diese Spu­ren sehr undeut­lich geworden.
Fer­di­nand Hahn, Geschichte von Gera und des­sen nächs­ter Umge­bung (1855)

  

Ich bin ein Kind der Sand­stein­brü­che, die sich, öst­lich von Herms­dorf den Lauf des Erl­bachs zur Wei­ßen Els­ter bei Gera beglei­tend, im Rücken der Dör­fer auf­tun. Der Sand­stein hat sich hier nir­gendwo, wie andern­orts an der Elbe, zu hohen Ber­gen auf­ge­türmt, und wenn er es ein­mal getan haben mag, sind diese Berge hier durch die Glet­scher der letz­ten Eis­zeit zu unschein­ba­ren Boden­wel­len abge­schlif­fen, über die heute die Pflüge der Land­wirt­schaft ihre Acker­fur­chen ziehn. Man geht nicht auf diese Hügel, man umgeht sie an den Wald­rän­dern zwi­schen Tau­ten­hain, Obern­dorf, Rüders­dorf gehend oder die Wäl­der durch­que­rend, man über­fährt sie auf der Auto­bahn A4 zwi­schen den Abfahr­ten Herms­dorf Ost und Rüders­dorf oder der Land­straße von Kraft­s­dorf im Erl­bach­tal kom­mend, man über­sieht sie, da es, außer in den Stein­brü­chen, weder Fels­mas­sen noch Steil­klip­pen gibt, wäh­rend man längst auf ihnen steht und ins Weite, süd­öst­lich zu den blauen Ber­gen des Vogt­lan­des hin sieht, wie man frü­her von hier die Abraum­ke­gel der Ron­ne­bur­ger Uran­hal­den wie ägyp­ti­sche Pyra­mi­den in öst­li­cher Rich­tung auf­ra­gen sah.

So ging es mir mit dem Hei­de­berg, der hin­ter dem im Kes­sel eines Stein­bruchs enden­den Hof mei­ner Groß­el­tern Obern­dorf über­blickt, nach Nor­den zur Auto­bahn und dem Klos­ter­laus­nit­zer Forst hin aus­lau­fend, und direkt von den nach Gera füh­ren­den Eisen­bahn­schie­nen zer­schnit­ten wird, über wel­che eine schmale Fuß­gän­ger­brü­cke wie ein Steg in die Wie­sen und Fel­der, die bis an den Wald­rand rei­chen, führt. So ging es mir mit dem Tüm­mels­berg, wel­cher, mit sei­ner ihm Rich­tung Kraft­s­dorf vor­ge­la­ger­ten Wald­zunge, ein paar Kilo­me­ter nord­öst­lich an der Auto­bahn ober­halb Rüders­dorf lie­gend, mir immer als höchste Erhe­bung der Umge­gend geprie­sen wor­den war. Ich hatte es immer für wider­sin­nig gehal­ten, dabei von einem Berg zu spre­chen, wo für mein Emp­fin­den nichts als eine Boden­welle in der Land­schaft zu erbli­cken war, doch inzwi­schen bin ich eines bes­se­ren belehrt.

Zur Zeit der Jah­res­wende war ich, süd­öst­lich von Sankt Gan­g­loff, Kal­ten­born kom­mend, auf dem Käse­berg gewe­sen, wel­cher dem Tüm­mels­berg wie eine Bru­der- oder Schwes­tern­for­ma­tion, durch die schmale Kerbe des Erl­bach­tals getrennt, pla­teau­ar­tig gegen­über­liegt. Die bei­den tei­len sich das Vor­recht, die höchs­ten Punkte der nähe­ren Umge­gend zu sein, wobei dem Tüm­mels­berg mit 361 m die Ehre der aller­höchs­ten Erhe­bung vor dem Käse­berg mit nur 360,5 m gebührt. Und dort auf dem Käse­berg, mei­nem K2 der Erl­bach­platte, stand mir der Tüm­mels­berg zum ers­ten Mal im Leben als veri­ta­bler Gip­fel vor Augen, in des­sen Schat­ten, tief bei den Sand­stein­brü­chen und den Eisen­bahn­schie­nen, sich die Dör­fer anein­an­der­reih­ten, wo zur ande­ren Seite die Auto­bahn dahin­schoss, ein wei­ter win­ter­mit­tags­blauer Him­mel bis über die Senke des Els­ter­ta­les im Osten bei Lan­gen­berg sich deh­nend, mit der Kup­pel sei­ner sanf­ten Wöl­bung direkt über dem Berg: ein Gip­fel­kö­nig, dem ich, ihm ent­ge­gen­pil­gernd, mei­nen Respekt ent­bie­ten musste.

Es war nicht leicht, den Käse­berg hin­ab­zu­stei­gen: In mei­nem Rücken Fel­der mit gül­le­brau­ner, schau­mig ver­krus­te­ter, stel­len­weise auf­ge­bro­che­ner, fau­lig rie­chen­der ver­eis­ter Ober­flä­che; ein Hoch­fre­quenz­ver­stär­ker, Wind­rad und der weiße Putz des Gast­hau­ses »Zur Käse­schenke«, in dem ich zum Kin­der­tag ein­mal mit der Krem­ser­par­tie kom­mend ein­ge­kehrt war – doch das ist eine andere Geschichte. Unter mir in einem Sei­ten­tal im Halb­rund zulau­fend die Fach­werk­scheu­nen des Dörf­chens Kal­ten­born, das ich links lie­gen ließ, ebenso wie die Armu­tei des ver­fal­le­nen Gehöf­tes vor mir, wo Zwerg­po­nys und Rin­der sich die Hufe in auf­ge­wühl­tem Schlamm erfro­ren und Arbei­ter mit Ket­ten­sä­gen Brenn­holz machten.

Auf dem Höhen­kamm grüßte ich drei aus Rich­tung Gera oder Saara von Süd­os­ten kom­mende Rei­te­rin­nen, schwarze Helme auf schwar­zen Pfer­den, und war wie­der allein in kal­ter Flur, quer­feld­ein beim Abstieg den eisig weiß und grün ver­krus­te­ten Käs­berg­rü­cken ins Erl­bach­tal hinab. Schwarz­weiß gefleckte Kühe im nied­ri­ger gele­ge­nen Grün der Kal­ten­bor­ner Höfe. Herz­er­wei­ternde Bli­cke schräg nach Wes­ten zur Kirch­turm­zwie­bel von Kraft­s­dorf, zum Ocker­grau­gelb der an der Bahn ver­wit­tern­den Sand­stein­brü­che über dem wol­ken­wei­ten Blau des Win­ter­tags. Im abschüs­si­gen Acker­braun ober­halb von Nie­dern­dorf neun Pech­fa­ckel­stümpfe im Kreis ste­ckend, ein Zei­chen, das nicht zu deu­ten war. Nie­dern­dorf: Ruf des Eichel­hä­hers aus den sanft gegen Nor­den zur Bahn anstei­gen­den Gar­ten­ge­strüp­pen. Nach Har­pers­dorf dem Erl­bach auf­wärts gefolgt: die Erlen­zei­sigschar fin­det ihr Aus­kom­men mit den Knos­pen von Wei­den- und Erlen­wip­feln. Das schöne, vom Bach geteilte Stra­ßen­dorf Har­pers­dorf, ich erin­nere mich an die Obst­an­nah­me­stelle gegen­über der Grund­schule, ich erin­nere mich, wie ich als Kind hier dem Umzug der 750-Jahr­feier gefolgt bin, die Rit­ter­rüs­tun­gen bewun­dernd, nun war nur noch die keme­na­ten­ar­tige wehr­hafte Kapelle vom Mit­tel­al­ter übrig, links hin­ter dem Fried­hof und dem sich anschlie­ßen­den Kirsch­berg­hang ging es nach oben, wei­ter an einer Pfer­de­kop­pel, Apfel­wie­sen vor­bei, die Scheu­nen­gie­bel des Dor­fes nun unter mir im Tal, als ich die Schie­nen über­querte, Schafe über einem Stein­bruch gra­send, klei­nes amphi­thea­tra­li­sches Sand­stein­klip­pen­rund, mit Pla­nen abge­deckte Holz­sta­pel, Maschen­draht und Sicher­heits­schloss davor, wie ebenso vor der Wochen­end­klause, ver­steckte Ansied­lung zwi­schen Streu­obst­hän­gen am Schot­ter­weg, nah den Fel­dern und der Auto­bahn. Die elek­tri­sche Wei­de­zaun­schnur um das Anwe­sen sollte statt Ein­bre­chern wohl Rehe fern­hal­ten, die mich lang aus ihrer schräg anstei­gen­den Fur­che im freien Feld beob­ach­te­ten, bevor sie im Rudel galop­pie­rend zur nächs­ten Scho­nung flüch­te­ten, ins Tüm­mels­berg­mas­siv hin­ein, das nun direkt vor mir lag.

Vor­ge­la­gert auf einem schüt­te­ren, sanft­gel­ben Wie­sen­stück, um das der Acker einen, ich bin ver­sucht zu schrei­ben: ehr­fürch­ti­gen Bogen schlug, ein alter Apfel­hain, der gegen die ein­tö­nige Nutz­flä­che des Ackers von einem wil­de­ren, unge­zähm­ten Raum kün­dete, einem Raum, auf wel­chen ver­schie­dene Räume und Zei­ten ihr Anrecht hat­ten, einem Raum, in dem die Vor­stel­lung sich end­los tum­meln konnte. Seit Urzei­ten hatte ich vom Tüm­mels­berg reden gehört, doch ich fühlte mich, als wäre ich zum ers­ten Mal im Leben wachen Sin­nes da hin­auf­ge­stie­gen. Wei­ter Rund­blick nach Süden, Süd­os­ten und Süd­wes­ten, bis hin­aus ins Vogt­land, die Täler­dör­fer, die wald­rei­che Gegend um Sankt Gan­g­loff, Pöll­nitz, Leder­hose und auf der ande­ren Seite die kar­gen, schnee­be­deck­ten Kup­pen hin­ter Gera, Bieb­lach, Ron­ne­burg. Nach Nor­den, gleich am Hügel, ihn fast an der Flanke schnei­dend, das Brau­sen der Auto­bahn, die sel­ber unsicht­bar blieb. Dahin­ter die Rüders­dor­fer Flur, saat­grüne Fel­der, der Hori­zont des Tau­ten­hai­ner Fors­tes mit den zu Kriegs­ende gespreng­ten Muni­ti­ons­bun­kern, den bei­nah spur­los ver­schwun­de­nen Wüs­tun­gen Schliffstein und Sie­vers­dorf, den seit kur­zem ange­sie­del­ten grau­gel­ben Konik­hengs­ten, die sich im Innern zwi­schen röt­li­chem Hei­de­kraut­di­ckicht verstecken.

Ein Greif­vo­gel, weiß auf­ge­plus­tert, flieht mit lang­sam glei­ten­den, ihn weit tra­gen­den Schwün­gen aus den Kie­fern, als ich mich dem klei­nen Forst am Gip­fel nähere. Er krächzt, um die gestörte Ruhe anzu­zei­gen – bei wem? Oder gilt es dem Moped, das durchs Unter­holz knat­ternd die Wege kreuzt, dann wie­der ver­schwun­den ist und Ruhe ein­zieht bis auf das Tösen der Autobahn?

Ein janus­köp­fi­ger Berg: nach der einen Seite, nach Süden zu, Blei­ben, Schauen, ins Weite sich Ver­lie­ren, die Ferne mit der Kraft der Medi­ta­tion an sich zie­hen Wol­lens, auf der ande­ren Seite, den Nor­den von Ost nach West que­rend, rast­lose Bewe­gung, Davon­ei­len, sich Ent­fer­nen im Thü­rin­ger Tran­sit – bei­des am Tüm­mels­berg auf­ein­an­der tref­fend. Mein ers­ter Olymp, diese von Eichen und Kie­fern bestan­dene Kuppe, Frei­luft­kup­pel, nach Hesiod und Pli­nius waren Bäume auf Anhö­hen die ers­ten Wohn­sitze der Göt­ter, und die Göt­ter, die in den Win­den um den Berg sich tum­mel­ten, spra­chen an die­sem pas­to­sen blauen Jah­res­wen­de­nach­mit­tag zu mir vom Blei­ben, Auf­bre­chen, von der Ferne, die näher­rückt, von der ein­ma­li­gen Nähe, die sich auf Nim­mer­wie­der­se­hen ent­fernt. Die Wol­ken­berge im Wes­ten schluck­ten die letzte Sonne und es wurde still. Der Wald­saum an meh­re­ren Stel­len wie plan­voll auf­ge­gra­ben, knie­tiefe ellen­breite Boden­lö­cher, mit Brom­beer­ran­ken über­wach­sen, laub­über­streut, aber noch sicht­bar moos­grüne Bruch­steine wie abge­tra­ge­nes Geröll darin, als sei jemand die Gegend nach ver­gra­be­nen Schät­zen abge­gan­gen und habe sich kaum die Mühe gemacht, die Stich­stel­len wie­der zuzu­schüt­ten, jetzt viel­leicht für Hasen­kuh­len oder Fuchs­lö­cher gut, ein offe­nes Geheimnis.

Anwe­sen­heit: Die zwi­schen zwei Kie­fern­stämme hin­durch gespannte Gir­lande von Eichen­blät­tern, ein tro­cken-leder­nes Klap­pern, Rascheln, auf dem sonst lee­ren höchs­ten Hügel der Land­schaft, neben dem Rau­schen der Autobahn.

Moritz August von Thüm­mel schrieb 1790 die Reise in die mit­täg­li­chen Pro­vin­zen von Frank­reich. Sein Bru­der Hans Wil­helm von Thüm­mel liegt in der Thüm­me­lei­che von Nöb­de­nitz bei Alten­burg begra­ben. Mein Tüm­mels­berg wäre der Ort, den Süden im Auge her­an­zu­zie­hen, um spä­ter über die Schie­nen, über die Auto­bahn oder am bes­ten immer wie­der ins Blaue auf den Luft­schif­fen der Ima­gi­na­tion auf­zu­bre­chen, ins Getüm­mel der Räume und Zei­ten, die von hier aus im Augen­blick des Gip­fel­sturms zu sehen gewe­sen sind, hinein.

 

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»Von Hei­mat zu Hei­mat – eine lite­ra­ri­sche Spu­ren­su­che« ist eine Reihe des Thü­rin­ger Lite­ra­tur­ra­tes e.V. mit freund­li­cher Unter­stüt­zung der Kul­tur­stif­tung des Frei­staats Thüringen.

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