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Martin Straub
Erstdruck: Thüringer Allgemeine, 11.08.2018.
Gelesen von Martin Straub
Verletzlichkeit der Poesie
Reiner Kunze blickt in seinem neuen Lyrik-Band wehmütig zurück und mahnend voraus.
Zehn Jahre nach dem letzten Lyrikband »lindennacht« und wenige Wochen vor seinem 85. Geburtstag legt Reiner Kunze einen neuen Band vor, »die stunde mit dir selbst«. Es sind Gedichte, die mit ihrer sprachliche Intensität und Schlichtheit beeindrucken und den Kosmos dieses Dichterlebens erleben lassen. In den fünf Abschnitten des Bandes gibt es einfühlsame Landschaftsbilder in Pastell, solche, in denen die »gnadenlosigkeit der sonne« und die »vorjahrsflut« wie ein warnendes »Menetekel« aufscheinen. Es gibt kritische Rückblicke auf eigenes Tun und Lassen wie in »Nachtprotokoll« oder »Porträtfoto von sich selbst«. Und natürlich prägen Alter und Abschiednehmen mit einer leisen Wehmut den Band. Aber ohne Larmoyanz, weil damit zugleich eine Auseinandersetzung mit diesem 20. Jahrhundert der Extreme einhergeht, dessen scharfe Konflikte in das neue Jahrhundert hineinreichen.
Man lese im zweiten Abschnitt des Bandes Reiner Kunzes sieben Gedichte über die Ukraine und Czernowitz. Mit einer beeindruckenden Sprachmächtigkeit verbindet er hier in einer bemerkenswerten Knappheit Poetologisches, Politisches und Geschichtliches, zugleich auf seine Gewährsleute verweisend: Paul Celan, Selma Meerbaum-Eisinger und Rose Ausländer, der Übersetzer und Kunze-Preis-Träger Petro Rychlo. »Nur im fernblick vom jüdischen friedhof aus / ähnelt die stadt / der erinnerung noch ihrer dichter // Heerscharen der menschenhybris / töteten in ihr / und schlugen lücken ins Gedächtnis // Die friedhofshalle rottet vor sich hin / Die grabsteine stehen geneigt, / versteinert ist ihr fallen«, so das Gedicht »Cernivci«.
Reiner Kunze bedenkt nicht nur hier in einem schmerzlichen Nebeneinander die Verletzlichkeit und Unverletzlichkeit von Poesie. »Dem tod war es gegeben, / sie zu holen aus dem leben, / doch nicht / aus dem gedieht« lesen wir auf dem »Epitaph für die junge Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger // 15.8.1924 Czernowitz / 16.12.1942 Arbeitslager Michajlovka«. In dem diesen Zyklus abschließenden satirischen »Diebeslied« wird die Okkupation der Krim gegeißelt. Bedenkt man die Diskussionen in unserem Land, lassen sich manche Gedichte als Warn- oder Mahngedicht lesen. Den Band beschließt ein Plädoyer für die Wahrung der Muttersprachen in Europa.
Abb.: S. Fischer Verlag.
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