Person
Thema
Hans-Jürgen Dörner
Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Wiedergelesen von Hans-Jürgen Dörner
Wenige Jahre nach der Aufführung seiner Räuber verwendet der 27jährige Schiller 1786 erneut das Milieu der von der bürgerlichen Gesellschaft fern lebenden Räuberbanden, um sich des Themas Schuld und Sühne anzunehmen. Eindrucksvoll stellt er die tragischen Folgen dar, die menschliches Versagen und die Kälte der staatlichen Machtausübung im Leben des Einzelnen verursachen und ihn zu einem »Ungeheuer Borgia« machen können.
Schiller berichtet in der kurzen Erzählung – angelehnt an das Schicksal seines württembergischen Landsmanns Johann Friedrich Schwan, den wegen Mordes hingerichteten sogenannten Sonnenwirt – über das Leben seines Sonnenwirts, hier Christian Wolf genannt. Sein Protagonist wird aus finanzieller Not, aber auch wegen seiner Gefallsucht und wegen seines Stolzes zum mehrfach erkannten und bestraften Wilddieb. Durch die nachfolgenden Erfahrungen im Zuchthaus verhärtet, durch die Ächtung seiner Mitbewohner verletzt und von Hass und Rache getrieben, tötet er hinterrücks seinen früheren Nebenbuhler. Der Kleinkriminelle wird zum Verbrecher und anschließend zum Anführer einer Räuberbande, der sich getrieben von seinen Nöten und der Gnadenlosigkeit des absoluten Herrschers letztlich stellt und mit dem Tod bestraft wird.
Der Aufbau der Erzählung ist ungewöhnlich. Schiller beginnt nicht mit der Schilderung der Ereignisse, sondern mit einer Mahnung an den Leser, die Vielfältigkeit menschlicher Charaktere und deren Empfindungen und Handlungen vor der Abgabe eines Urteils zu bedenken. Dem folgt ein Abschnitt über seine Erzähltechnik, die er seiner Mahnung glaubt zu schulden. Die darin vermittelte These lautet: Eine Geschichte (über ein Verbrechen) muss, soll sie eine Schule der Bildung sein, mehr als nur Neugier erwecken. Dazu gäbe es zwei alternative Wege. »Entweder der Leser muss warm werden wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten.« Er wolle bei der Darstellung einer Verbrechensgeschichte die zweite Methode anwenden und dem kühlen Leser einen bedauernswerten, aber kalten Helden präsentieren, dem wir nicht emphatisch begegnen sollen, um uns unvoreingenommen ein gerechtes Urteil bilden zu können.
Die nachfolgende Durchführung hält sich zunächst an die Vorgabe. In der Schilderung des Lebenswegs seines Helden bis zum Beginn seiner dreijährigen Festungshaft bleibt Schiller bei der Aufzählung von Tatbeständen, die nicht geeignet sind, den Leser – anders als bei Karl Moor – sich ereifern zu lassen und Partei für den Missetäter zu ergreifen. Der Leser bleibt kühl, wenn nicht unbeteiligt. Das liegt neben dem bis hier nüchternen Ton daran, dass die Figuren der Antipoden – die verehrte Johanne und der Nebenbuhler Robert – nur wie Schemen beschrieben werden. Trotz der menschlich wenig ansprechenden Züge rufen sie beim Leser keine Abwehr hervor wie bei der Schilderung des Charakters der Kanaille Franz.
Das ändert sich mit dem ersten Satz, mit dem Schiller den äußeren Erzählungsstil mitten in einem scheinbar dahin plätschernden Absatz wechselt und zur Ich-Erzählung übergeht. Nun spricht er in der Person des schuldig Gewordenen, und der Leser lässt die kühle Distanz zum Protagonisten hinter sich. Er erfährt aus der subjektiven Sicht des Täters von den sprachlich kunstvoll, aber intensiv formulierten Wünschen, Leidenschaften, Demütigungen, Entbehrungen, Misshandlungen, die den Helden steuerten und ihn mit jeder kleinen Missachtung zum nächsten Fehltritt trieben und ihn seine Ehre verlieren ließen. Er beginnt mit dem Entgleisten zu leiden. Höhepunkt der geschilderten Qualen ist die verhängnisvolle Entscheidung für das Tötungsverbrechen an Stelle des Rückzugs aus dem Wald und daran anschließend die alsbald einsetzende Reue über das eigene fehlerhafte Verhalten. Mit wenigen Sätzen vermittelt Schiller unter dem Einfluss seiner Studien in Psychologie dem Leser die fürchterliche Verzweiflung des zum Verbrecher gewordenen Kleinbürgers, die ihn nicht mehr loslassen wird. Die folgende unruhige Zeit in der scheinbar heimeligen Räuberbande, die vergeblichen Versuche, über die gnadenvolle Aufnahme als Soldat etwas wieder gut zumachen, die Flucht nach Preußen und schließlich die selbst herbei geführte Festnahme des gesuchten Sonnenwirts sind nur Ausdruck einer verzweifelten Hetze eines Mörders, die an die fluchbehaftete Schilderung in der Genesis 4, 11–15 erinnert.
Gegenüber dieser Wucht der Schilderung von Schuld und Sühne verblassen die kleinen Spitzen Schillers gegen die Privilegien des Adels, die Darstellung von Herzlosigkeit des Einzelnen wie der Gemeinschaft, die fehlende Solidarität selbst unter Ausgestoßenen und die Erfolglosigkeit der nicht sozialisierenden Festungshaft des Entlassenen nach seiner Haft, die aus dem Mund der Kritiker des heutigen Strafvollzugs kommen könnten und erstaunlich zeitgemäß klingen. Gleiches gilt für das Plädoyer zugunsten der Seelenkunde und ihrer Wirkungen.
Die im gewaltigen Schaffen Schillers wohl nicht bedeutende Erzählung ist keine Kriminalgeschichte im herkömmlichen Sinn, sondern versucht im Sinne der beginnenden Aufklärung die sozialen und psychologischen Hintergründe von Straftätern in den Beurteilungsprozess einzubeziehen. Das allein spricht dafür, sich der Geschichte erneut anzunehmen. Sie erfreut darüber hinaus den Leser heutiger Verbrechensdarstellungen wegen ihrer feinen, dem sensiblen Stoff angepassten Sprache voller liebenswerter Metaphern (z.B. das Herz als Synonym für den Menschen).
›Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio
Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2025 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]
URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/friedrich-schiller-der-verbrecher-aus-verlorener-ehre/]