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Wilhelm Bartsch
Erstdruck in: Palmbaum 1/2023. Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Wilhelm Bartsch
Seltsame Irrfahrten im böhmischen Kreis
Endlich, dachte ich nach dem Lesen der ersten Partien von Grünlaken, erzählt mir auch mal ein ebenfalls echter Leipziger die rätselvolle Welt von Neo Rauch nach, selbst wenn er, wie sich schnell herausstellt, die Strukturen dieser vergehenden Landschaften ebenfalls nicht enträtseln kann – oder gar nicht enträtseln will! Dann wird Neo Rauchs noch allzu farbige Welt überblendet oder besser überdämmert von böhmischen „Staubdämonen“ (so Ernst Jünger) des großen Albtraumzeichners Alfred Kubin. Freilich treten diese hier meist in gegenwartsnäheren und dennoch merkwürdig „zeitlos“ wirkenden Gewändern und Umgebungen auf.
Wohin geht diese nahezu orientierungslose Reise, die zugleich eine Flucht ist? Sie geht immer in die verlorene Richtung einer erträumten oder vielleicht auch nur allzu schön erinnerten, in der Wirklichkeit jedoch allenfalls längst erodierten, dann sogar fälschlich bombardierten Idylle namens Grünlaken.
Und schon bald vernimmt man in diesem Roman einen Slang der zwanziger und dreißiger Jahre wie von Hans Fallada oder Erich Kästner, vor allem aber beginnt es, weil der Held meist in einem Grenzzonenbereich umherirrt, zu „böhmakeln“, also Kucheldeutsch zu reden. Dieser austrobohemische Soziolekt wird in den trügerischen „böhmischen Dörfern“ und in kahlen Vororten zu vielleicht auch einer Kubinschen Traumstadt Perle gesprochen. (Diese unheimliche Stadt Perle ist ja selber der Hauptheld in Kubins Roman Die andere Seite.)
Das alles sind Gegenden oder „Umgegenden“ Wolfgang Hilbig’scher Art, in die die Hauptfigur des Böhmeschen Romans verschlagen wird – oder sollte ich besser sagen: sich auf die Art und Weise „der Laus“ selber verschlägt? „Die Laus“ – so nannte sich der Stalker in Tarkowskis gleichnamigem berühmten Film von 1980. Dieser Stalker war einer, der für Geld, aber vor allem aus noch besseren Gründen Leute in eine sogenannte „Zone“ führte: eine Grenzzone, eine Tabuzone also, ein rätselvolles Gelände voller Toter und versinkender seltsamer Ruinen in verwuchernden Landschaften, die augen- und ohrenscheinlich wieder die Oberhoheit über alle Menschenzwecke gewonnen haben. Und es gibt dort in der Zone auch einen Ort, der alle Wünsche erfüllen können soll. So ein Ort ist für Adrian Gallus alias Andreas Hahn – Grünlaken. Allerdings ist allein er derjenige, Wilhelm Bartsch über einen neuen Roman von Thomas Böhme der zu diesem Ort – vermutlich einer eher ersehnten als wirklich dort verbrachten Kindheit – gelangen will; eine Mission wie Tarkowskis Stalker hat dieser Hahn scheinbar nicht, dafür jedoch sehnlichste Wünsche, wie sie naturgemäß besonders die Desperados jeder Coleur haben. Thomas Böhmes Held mit seinem etwas zenbuddhistischen und zugleich auch Raymond Chandler’schen Humor ist im Ertragen jedlicher Unbill durchaus auch ein tapferer Held. Trost und Bestätigung findet er etwa bei den allanwesenden Bienen, die es als Staat zu mehr Frieden und Erdverbundenheit bringen als die Menschen und ihre so faktenspinnerten Einrichtungen wie jenes „Institut für Erdangelegenheiten“, an dem Adrian Gallus federführend und wohl nicht gerade gesetzestreu mitgewirkt hat und dabei zu folgender Erkenntnis gelangte: Wohl nicht die Enkel, aber die Bienen fechten’s besser aus.
Seine nicht enden könnende Reise nach Grünlaken ist zugleich auch eine Flucht vor den Ermittlungsbehörden und der anscheinend ewig sich aufs Gleiche wiederholenden Menschheitsgeschichte. Moral ist vielleicht noch für solch einen Einzelnen wie Adrian Gallus und für sein Handeln angebracht; jeder auf andere Menschen zielende Moralismus aber erscheint ihm eher nur noch als ein Rechtfertigungsystem des Bösen, als das Reich einer Menschenwelt-Geschichte, die aus ihren katastrophalen Kreisläufen nicht herauszufinden vermag. Thomas Böhmes seltsame Irrfahrten im Kreis mit seinem Helden Hahn alias Gallus sind so etwas wie die Schraubenmutterwürfe mit den daran befestigten Hoffnungs-Fähnchen des Stalkers durch eine stockende und verstockte Zeit in eine vielleicht ja doch Grünlakener Richtung. Oft aber ist es nur eine „Nacht aus Blei“ wie jene bei Hans Henny Jahnn, durch die sich der Held bewegt. Auch aus Jahnns Ugrino-Kreis borgt er sich Denk- und Handlungsmöglichkeiten aus, aber ein jahnnischnordischer Mensch ist er nicht, sondern eben eher ein böhmescher oder gar böhmischer. Aber auch eine solche bohemische Lebensart und selbst die auch hier in diesem Roman wieder gefeierte Hocherotik mit Jungen wie Ruben und Kamel, die den Rand zum Erwachsensein bereits überschritten haben, reichen nicht hin für solch einen Haupthelden wie Adrian Gallus, um ein wenigstens scheinbar gutes Ende zu nehmen.
Wenn Adrians Traum-Ruben seit Kindheitstagen an diesem Ende unter die führenden Machthaber gelangt ist, so mag er zwar eine neue Zeitenwende aufrufen, vermag aber nicht Adrians vergebliche Reise nach dem Grünlaken seiner Seele aufzuhalten. Diesem Roman, auf dessen Plot ich hier gar nicht eingehen muss, kann man jedenfalls von vornherein stereophon zuhören, nämlich auf dem linken Ohr als metapolitischen Abenteuer- und Kriminalroman und auf dem rechten als anthropozäne Dystopie einer globalen Entheimatung, hier vor allem des Erzählers Andreas Hahn alias Adrian Gallus, der das Beste im Leben, zum Beispiel mit Ruben und Kemal, wohl schon hinter sich hat – und es hinter sich haben heißt in diesem Roman ja auch, es in Erinnerung zu behalten, es im Herzen zu bewahren, ja diesen oder jenen (Wunsch)Traum sogar (fast) Wirklichkeit werden zu lassen.
Allerdings ist dieser Erzähler schon selber ziemlich erodiert und in Frage gestellt, denn er wird streckenweise sogar fremderzählt und manipuliert von den jeweils herrschenden Kräften und ihren Ausspähern und Schnüfflern. Selbst wenn er noch ein Homo ludens, ein in Freiheiten Spielender ist, so ist er doch zugleich auch Spielball der „Paten“ (DDRMachthaber), der „Merowinger“ (Nazis und Rechte) oder dann am Ende der siegreichen „Karolinger“ (spätromantische Rot-Grüne und andere, zum Teil militante und nicht gerade „linke“ Ökologisten).
Thomas Böhmes Roman ist auch ein Abdruck im Niemandswo, wie sein großartiger Gedichtband von 2016 heißt. Wer den zur Hand nimmt, kann den Roman Grünlaken mit seiner Überfülle von „Nicht-Orten“ (Marc Augé) damit anreichern, auch umgekehrt läßt sich das da und dort machen.
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