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Dietmar Ebert
Thüringer Literaturrat e.V.
Auf der Suche nach den »Isochronen«
Gelesen von Dietmar Ebert
Will man der Messung der Zeit trauen, so sind vier Jahre vergangen, seit Peter Neumann im Dresdner Verlag edition Azur seinen schönen, viel versprechenden Gedichtband geheuer vorgelegt hat. Erinnerungssplitter an seine mecklenburgische Heimat hat er in knappen, dichten lyrischen Gebilden festgehalten. Es sind die starken, von Natur und Landschaft inspirierten Bilder, die seinen ersten und seinen zweiten Gedichtband Areale & Tage, der im März 2018 ebenfalls bei edition Azur erschienen ist, miteinander verbinden.
In seinem neuen Gedichtband experimentiert der in Weimar lebende Dichter mit verschiedenen lyrischen Formen und stellt sich der schwierigen Frage, wie wohl eine Topographie der Zeit ausschauen könnte. Er ist, um mit Hans Magnus Enzensberger zu sprechen, auf der Suche nach jenen Linien, die sich ablesen lassen, wenn Zeitzonen durchwandert und geschichtliche Risse und Verwerfungen »gelesen werden können«. Enzensberger nennt solche Linien »Isochronen«.
Peter Neumann kennt als promovierter Philosoph die Theorien und Methoden, um nach den Isochronen zu suchen, und er verfügt als Lyriker über das glückliche Naturell, seine Gedichte in einer klaren, bildhaften Sprache zu formen.
Isochronen lassen sich finden, wenn sich das lyrische Ich auf Reisen begibt. Zugreisen sind dafür besonders geeignet. Mit der Regionalbahn unterwegs, lassen sich Ortschaften entdecken, die wie aus der Zeit gefallen wirken. Im ICE von Berlin gen Süden reisend, entdeckt das lyrische Ich im Speisewagen die großen Fenster als Rahmen einer vorbei gleitenden, plötzlich größer erscheinenden Landschaft. Vielleicht sind das noch nicht die ganz starken Eindrücke, die sich zum Gedicht runden, aber es sind Versuche, ungewöhnliche Blicke auf Landschaft und Zeit zu werfen, sie in Reflexionen zu bündeln, Nah-und Fernsicht mit einander zu koppeln.
Das jedoch, was Peter Neumann am meisten interessiert, das sind die Isochronen, die durch Tektonik in Natur-und Geschichte entstanden sind. In dem hintergründigen Gedicht Spüle wird der Bogen von der letzten Eiszeit bis zum Gespräch mit dem Vater beim Korn geschlagen: Zeitreise, Landschaftsdichtung und Erinnerungen an ihm nahe und ferner stehende Menschen fallen in eins. In den Gedichten wo wir uns finden, aufzug und birkengrün scheinen im ganz Alltäglichen Bilder auf, als erblickte sie das lyrische Ich zum ersten Mal. Es ist eine an Walter Benjamin geschulte Methode, bisher nie Erblicktes im Landschaftsraum zu erinnern und zu entdecken. Doch Peter Neumann braucht nicht den surrealistischen »Chock«, vielleicht auch nicht die »profane Erleuchtung«, um in ganz alltäglichen Situationen zu sehen, was kein Historiker, kein Maler, kein Fotograf und kein Dichter bisher festgehalten hat. Dafür genügt die Kittelschürze der Großmutter, der stillgelegte Friedhof in Wittenborn, eine märkische oder mecklenburgische Allee, ein Nachmittag an der Seebrücke, eine Wespeninvasion, Eimer voller Heringe an der Stralsunder Mole oder eine Lichtung im Weimarer Webicht. Diese Kleinigkeiten des Alltags sind es, die Peter Neumann »unter die Lupe« nimmt, die er vergrößert und mit der Wärme des Lyrikers umschließt. Irgendwann »schlagen sie die Augen auf« und geben preis, wie ihre Koordinaten im Landschaftsraum der Gegenwart sind und wie sie mit den Tiefenschichten der Vergangenheit verbunden sind. Werden beide Koordinaten mit einander ins Verhältnis gesetzt, so lassen sich die Isochronen, von denen Enzensberger spricht, bestimmen. Sie sind in die Gedichte von Peter Neumann eingesenkt. Ganz natürlich wechselt sein lyrisches Ich den Blick, ohne den Tonfall des Gedichts zu ändern.
Peter Neumanns Areale & Tage gliedert sich in vier Abteilungen: I. – tief wurzeln in der timeline die Bäume, II. – abends leuchten die strümpfe vom grund, III.- diese seebrücke führt nicht übers Meer und IV. – alle Uhren gehen sehr.
Im Unterschied zu seinen in geheuer versammelten Gedichten, in dem stark verdichtete und reduzierte lyrische Gebilde dominierten, experimentiert er in Areale und Tage mit der lyrischen Form. In der zweiten Abteilung präsentiert uns Peter Neumann ein lyrisches Ich, das in sieben Gedichten Fragmente aneinander reiht.
Ein Stabsstrich ist jedem dieser Fragmente vorangestellt. Das sollen Gedichte sein? Es sind Gedichte, nur führt uns das lyrische Ich nicht mit großem Atem, nicht im Legato von Vers zu Vers, sondern besteht auf einem Staccato. So wird Fragment an Fragment gereiht, und gerade in diesem Staccato-Rhythmus besteht der ganz eigene Reiz dieser Gedichte. Ihr Aufbau garantiert dem lyrischen Ich eine größere Freiheit, können doch so sehr disparat erscheinende Wirklichkeitspartikel zu einander in Beziehung gesetzt werden.
In den übrigen drei Teilen des Bandes begegnen wir einem lyrischen Ich, das Wirklichkeit betrachtend oder reflektierend, zu einer weit ausschwingenden Sprache neigt, ein lyrisches Ich, das ein begleitendes Du oder direkt den Leser anspricht. Indem Peter Neumann Landschaftsräume in ihrer Isochronie auszuloten versucht, findet er zu einer lyrischen Form, in der die Beschleunigung unserer Gegenwart außer Kraft gesetzt ist und die Gedichte von einem ruhigen Rhythmus durchpulst werden. Peter Neumann lässt seinen Gedichten die Zeit, die sie brauchen und erzeugt damit, was Hartmut Rosa »Resonanz« genannt hat.
Zugleich sind in Areale und Tage mit tief wurzeln die Bäume in der timeline, ein haus, wer immer hier und vor allem mit die bestimmung der Bäume einige der schönsten Landschaftsgedichte unserer Zeit gelungen.
In Areale & Tage hat Peter Neumann heimatliche Landschaftsräume vermessen und zu einer lyrischen Sprache gefunden, die einen ganz eigenen Ton in die deutschsprachige Lyrik der Gegenwart einbringt.
Nun dürfen die Leser gespannt sein, wie es dem Harald-Gerlach-Stipendiaten des Jahres 2018 gelingen wird, die Isochronie des Thüringer Landes in Prosa zu beschreiben.
Abb.: Bucheinband zu Peter Neumann, »areale & tage«, Edition Azur, 2018.
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