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Jan Volker Röhnert
Erstdruck in »Palmbaum - literarisches Journal aus Thüringen«, Heft 2/2017 / Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.
Gelesen von Jan Volker Röhnert
Erst jetzt begreif ich die Franzosen!
Die große Anthologie deutscher Paris-Erfahrung
Globalisierung hat einen langen Vorlauf. Jener »allseitige Verkehr«, den Marx beschwor, meint nicht nur Ausweitung von Handel und Kolonisierung bis in entfernteste Winkel, genauso kann sich der Globus wie in einem Brennspiegel an einem Ort verdichten. Für die als das lange 19. Jahrhundert angesehene Moderne war Paris jener Spiegel, in dem sich Politik, Handel, Kultur, Naturwissenschaften, Technik konzentrierten; Walter Benjamins Formel der »Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« resümiert zugleich eine spezifisch deutsche Sicht, die eben in Paris fand und pries, was Deutschland fehlte: die zentrale Metropole, die liberale und libertäre Weltstadt, wo »Glanz und Elend« (Balzac) zwei Ansichten desselben Lebenslaufs waren, ein europäisches Foyer unbegrenzter Möglichkeiten, das mit aller Welt und in aller Welt Hof hält, Moloch, Sirene, Stadt der Städte – kaum einer vermag sich der Superlative zu erwehren. Noch der Abscheu Clemens Brentanos tradiert sie: »Wie kann hier der Mensch…bei dieser Uebermacht der Aeußerlichkeit zu sich selbst kommen«.
Den Anstoß sieht der Herausgeber der hervorragend edierten Anthologie, der Komparatist Gerhard R. Kaiser, im Revolutionsjahr 1789 und dem Eintritt in die unmittelbare Zeitgeschichte. Das Neue reizte Scharen schau- und schreiblustiger Deutscher dabeizusein, um es den Daheimgebliebenen zu zeigen. Goethe, der es 1792 bei Valmy prophezeit haben will, gehört zu jenen, die es nie bis Paris schafften, jedoch am fleißigsten Nachrichten beziehen: Viele Korrespondenten der Revolutionsjahre rekrutieren sich aus seinem Bekanntenkreis, etwa Georg Forster und Johann Friedrich Reichardt; die großen deutschen Paris-Zeugnisse des Goethe-Verächters Börne und des Goethe-Verehrers Heine sind Epistel von dem Außenposten der deutschsprachigen Literatur, an welchem sich jenes »Veloziferische«, das der Weimarer 1825 als Signatur der Zeit ausgegeben hatte, tatsächlich erleben ließ.
Was deutsche Augen in und an Paris sehen und suchen, ist Indiz deutscher Selbst- und Fremderfahrung. An der schillernden Varianz des Begriffs »Öffentlichkeit« wird das klar. Wo Friedrich Schulz 1791 »Die öffentlichen Mädchen von Paris« charakterisiert, greift Georg Forster fast zeitgleich 1793 »Die öffentliche Meinung: Werkzeug und Seele der Revolution« auf – hier sind mit den Stichworten Politik und Prostitution zwei wiederkehrende Aspekte von Paris-Wahrnehmung eingeführt, die erst in ihrer Verschränkung jene Faszination ergeben, aus der sich Heines Poesie ebenso speist wie später die Baudelaires, mit deren Augen die hier zu Wort kommende letzte Generation deutscher Parisreporter vor Hitler die Seine sieht.
Es sind vor allem die wenig bekannten oder im Kontext Paris unerwarteten Namen mit ihren großen und kleinen Beobachtungen, die um die kanonischen Texte herum den Band zur Entdeckung machen: Wo Meyer 1802 »Panoramen und andere Vergnügungen«, Campe 1803 die »Seltenheit der Herrenwagen» hervorheben und Seume »Paris unter dem ersten Konsul Bonaparte« beschreibt, fügt »Der Telegraph« Murhards von 1805 der Zeit ihre technische Dominante hinzu. Die Konstellation wiederholt sich periodisch, wenn etwa Pückler-Muskau 1830 »Dames blanches und Omnibus« skizziert, Gauger 1836 wohl zum ersten Mal »Die Passagen« ins Licht rückt oder Koloff 1839 »Werbestrategien und Dekorationsluxus« beschreibt. Wenn Dingelstedt 1843 seinen »methodischen Unterricht im Flanieren« vorführt, ist das ein Programm, das – kaum eingeschränkt durch den politischen Konfrontationskurs zwischen 1870 und 1918 – letztlich bis ans »Ende des Flanierens« (Handke) vorhält, bis zu Schilderungen Auburtins, Schickeles oder Hessels aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
Eine den düsteren Visionen der Surrealisten in nichts nachstehende Studie Siegfried Kracauers über die Banlieue »La ville de Malakoff« von 1929 zeigt schließlich, wie anstelle des Flaneurs die Monstrosität filmischer Schwarz-weiß-Montagen die Wahrnehmung bestimmt. Heinrich Manns Paris-Porträt »Wir begegnen in Paris uns selbst« von 1932 scheint schon der Zeit nach der anbrechenden Düsternis gewidmet: »Uns bindet zuerst unsere Gemeinschaft als größte Völker des Kontinents…«. Es ist folgerichtig, wenn daraufhin eine weibliche Stimme den Band beschließt. Die dokumentierten Frauen-Blicke von Johanna Schopenhauer und Helmina von Chézy über Fanny Lewald und Ida von Hahn-Hahn bis Käthe Schirmacher und Annette Kolb vergegenwärtigen Paris auch als Zentrum weiblicher Identität. Nicht nur nationale Stereotypen werden in der Stadt der Städte verhandelt, sondern auch Geschlechterrollen. Heine hatte sie mit dem Namen Lutetia als Frau apostrophiert, Arnold Ruges Nekrolog auf Flora Tristan wirkt wie eine Allegorie auf den unversiegten Magnetismus der Stadt: »Welch ein Weib! sie wird die Fahne nehmen und voranziehn! erst jetzt begreif‹ ich die Franzosen!«
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