Wulf Kirsten – »Kleewunsch. Ein Kleinstadtbild«

Personen

Wulf Kirsten

Michael Knoche

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Michael Knoche

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Wie­der­ge­le­sen von Michael Knoche

 

Auf einer Web­site, die Wan­der­wege rund um Dres­den beschreibt, heißt es: »Klein­wolms­dorf wird auch Klee­wumpe genannt. Des­halb gab der Lyri­ker Wulf Kirs­ten sei­nem Gedicht­band den Namen ›Klee­wunsch‹.« Wie bitte? »Klee­wunsch« ist doch kein Gedicht­band, son­dern ein Pro­sa­text, jeden­falls auf den ers­ten Blick. Rät­sel­haft auch: Wieso kann aus »Wumpe« »Wunsch« wer­den? Neben Klein­wolms­dorf wird auch Wils­d­ruff an der Wil­den Sau im Land­kreis Säch­si­sche Schweiz-Osterz­ge­birge als Vor­bild für Kirs­tens lite­ra­ri­sche Ort­schaft betrach­tet. Klee­wunsch besitzt also Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­tial für die ver­schie­dens­ten Gemein­we­sen. Sicher ist, dass es in der Nach­bar­schaft von Abdera, Sel­dwyla und Schilda ganz in der Nähe von Dres­den lie­gen muss.

Der Pro­sa­text erschien im Jahr 1984 im Auf­bau-Ver­lag zusam­men mit »Die Schlacht bei Kes­sels­dorf. Ein Bericht«. Die furcht­bar verlust­reiche Schlacht des Jah­res 1745 ist his­to­risch, und den Ort gibt es wirk­lich im Wils­d­ruf­fer Land. Das »Klein­stadt­bild« mit sei­nen 150 Sei­ten steht dazu in einem Span­nungs­ver­hält­nis, denn hier ist alles nur schein­bar his­to­risch und real, aber vor allem gibt es hier viel zu lachen. Dem beklem­mends­ten Text von Wulf Kirs­ten folgt gleich der witzigste.

Der Chro­nist – nen­nen wir ihn der Ein­fach­heit ein­mal so, er ist das phi­lis­ter­hafte Sprach­rohr der orts­an­säs­si­gen Bür­ger – eröff­net seine Aus­füh­run­gen mit pedan­ti­schen Spe­ku­la­tio­nen über die Her­kunft des Namens Klee­wunsch, wie sie in jedem gedie­ge­nen Reise­führer ste­hen könn­ten. Schon bald ruft er den Hei­mat­for­scher Paul Zei­sig als Kronzeu­gen auf. Denn nie­mand kann die Vor­züge der Lage, der Boden­be­schaf­fen­heit, des Kli­mas usw. so »breit­platschig« rüh­men wie die­ser Zei­sig, der von sei­nen Mit­be­woh­nern Zitzsche­bäbrich genannt wird. Chro­nist und Hei­mat­for­scher sind sich einig, dass es sich hier um einen der »won­nigs­ten und son­nigs­ten Orte aus Erden« handele.

Doch lei­der, lei­der macht der Fort­schritt stets einen Bogen um das Landstädt­chen von zwei­ein­halb­tau­send Ein­woh­nern. Wir befin­den uns in der Mitte des 19. Jahrhun­derts. Es tre­ten u.a. fol­gende Per­so­nen auf:

  • Wil­helm Knap­ser, einer der gro­ßen Vater­fi­gu­ren der Holznadelproduktion
  • Max Schwenke, Kleinst­fuhr­wer­ker, genannt Fell-Maxe, weil er auch Kanin­chen- und Kat­zen­felle verkauft
  • Lina Mül­ler-Dach­sel, Dich­te­rin des anmu­ti­gen Sonett­kran­zes »Mein Zscherretal«
  • Oskar Hafer­malz, Dro­gist und Ver­eh­rer der Dich­te­rin (»Fräu­lein Mül­ler-Dach­sel, ich werd Ihnen was sagen, nur drei Worte – wie von Hölderlin!«)
  • Karl August Schwedt­ler, Grün­der der Lie­der­ta­fel »Des Sän­gers Früh­lings­feier«, der Sil­cher von Kleewunsch
  • A. Zschum­pelt, Apo­the­ker, Her­aus­ge­ber des »Klee­wunscher Rat­ge­bers für Gesunde und Kranke«, Erfin­der eines unschlag­ba­ren Rattenvertilgungsmittels
  • Kauf­mann Hop­pe­kan­zel, Kan­tor Zschu­schel, genannt Läuse-Zschu­schel, u.v.a.m.

Mit sol­chem Per­so­nal kann man Kleist­sche Komö­dien auf die Büh­nen­bret­ter stel­len oder Kel­ler­sche Novel­len schrei­ben. Aber Kirs­ten arbei­tet eher wie ein Maler. Die Per­so­nen wer­den nicht in eine fort­lau­fende Hand­lung ver­wi­ckelt, viel­mehr sieht man sie in klei­nen Anek­do­ten und Epi­so­den cha­rak­te­ri­siert wie auf einem Bild Pie­ter Brue­gels. Nur auf den letz­ten vier­zig Sei­ten im zwei­ten Teil wird die Geschichte der kläg­li­chen Teil­nahme Klee­wunschs an der 1848er Revo­lu­tion zusam­men­hän­gend erzählt.

Cha­rak­te­ri­siert wer­den die Figu­ren durch ihre Spra­che. Das führt den Autor zu lust­vol­len Aus­flü­gen in die jewei­lige Fach­spra­che des Acker­bür­ger­städt­chens mit Handwerkerüber­schuss, etwa der Geflü­gel­züch­ter (»Sat­tel­be­hang, Lege­bauch, Gei­er­fer­sen, Kis­sen­bil­dung, Erb­sen­kamm«), Tur­ner (»Unter­schwung in den Seitstand rück­lings!«), Obst­züch­ter (»o Schnei­ders späte Knor­pel­kir­sche, o Mai­herz­kir­sche!«) oder Mol­lus­ken­kund­ler (»Keller­glanzschnecke, Schat­ten­laub­schne­cke, stach­lige Schnir­kel­schne­cke, Fel­sen­pi­cker, gefleckte Ama­lie, gefäl­telte Schließ­mund­schne­cke«). Dane­ben ist es die Umgangs­spra­che, die sei­nem Gemälde Farbe gibt, wenn die Rede ist von einem nichts­wür­di­gen Pie­se­pam­pel oder Kanunz­rich, einem Tisch­ler­meis­ter, der tüf­telt und mur­kelt, von Alf­an­ze­r­ei­nen oder einem Geklap­per und Geschlurre, einem Sing­sang, der mickerte und vor sich hin buzte – kurzum, zu erle­ben ist »ein knar­zen­des, kla­bas­tern­des, quiet­schen­des, gau­dern­des, schnar­ren­des, krei­schen­des, knack­stie­fe­li­ges Klein­stadt­i­dyll.« Kirs­tens Worternst, seine nim­mer­müde Fahn­dung nach dem rich­ti­gen Wort lässt die Ver­wandt­schaft die­ser Prosa mit sei­ner Lyrik erkennen.

Ein­mal schil­dert der Chro­nist den Züch­tungs­ver­such eines urdeut­schen Super­huhns mit dem Namen »Reichs­huhn«. Es sollte ein Lege- und Fleisch­huhn glei­cher­ma­ßen wer­den mit Legepünkt­lich­keit und Nest­treue, aber auch von exzel­len­tem Aus­se­hen: weiß, aber die Hals- und Schwanz­par­tien schwarz­ge­spren­kelt. Die schrei­ende Komik ergibt sich aus dem bier­erns­ten Ton des Chro­nisten. Indem er so das Deutsch-Natio­nale per­si­fliert, wird der Text hier und an ande­rer Stelle hand­fest poli­tisch-sati­risch. Wenn etwa der Chro­nist betont, dass Klee­wunsch dem Bür­ger alles böte, was er zu sei­nem Wohl­be­fin­den brau­che: Nah­rung, Gesund­heit, Sicher­heit des Lebens, und dass Rei­sen in die Ferne »nicht nötig« seien, erin­nert das an die quie­tis­ti­schen Losun­gen eines unter­ge­gan­ge­nen Staates.

Doch wegen sol­cher Bezüge muss man den Text heute nicht lesen. Es ist viel­mehr die prä­zis beschrie­bene Erfah­rung von Welt aus nächs­ter Nähe, die die Lek­türe loh­nend macht. Immer wie­der scheint die Liebe des Autors zu sei­nen Hel­den durch, den sächsi­schen Cha­rak­ter- und Quer­köp­fen aus einer Zeit vor der Kol­lek­ti­vie­rung der Land­wirt­schaft und Ein­füh­rung von Pro­duk­ti­ons­ge­nos­sen­schaf­ten. Auch seine ele­gi­sche Trauer um die Fülle des untergegange­nen Lebens ist zu spü­ren, deren letzte Spu­ren er viel­leicht noch per­sön­lich auf­ge­fun­den hat.

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