Lesungen
10 : Wolfgang Held – »Die Stunde der Führungsroller«

Person

Wolfgang Held

Ort

Weimar

Thema

Porträts und Podcasts

Autor

Wolfgang Held

Thüringer Literaturrat e.V. / Audiobibliothek / Wolfgang Held.

 

Es pas­sierte Mitte der 1960er Jahre, genauer an einem Frei­tag. Nach der Zusam­men­kunft der Mit­glie­der und Kan­di­da­ten des Polit­bü­ros der SED in Ber­lin und der dar­auf statt­ge­fun­de­nen Bera­tung aller Sekre­täre der SED-Bezirks­lei­tung tagte das gewählte Gre­mium des Büros der SED-Kreis­lei­tung. Jeden Frei­tag. Bei jedem Wet­ter. Teil­nahme eines Jour­na­lis­ten aus der Kreis­re­dak­tion zwin­gend! Unent­schul­dig­tes Feh­len wurde nie gewagt. Schließ­lich ging es hier ganz aktu­ell um die füh­rende Rolle in der Stadt. Das Rol­len währte Stun­den. Ob in Wirt­schaft oder Kul­tur, im sozia­len oder sport­li­chen Bereich, alles musste hin und her, hoch und her­un­ter durch­ge­rollt wer­den, bevor Maß­nah­men beschlos­sen und an Ober­bür­ger­meis­ter, Stadt­räte und Abge­ord­nete zur Aus­füh­rung „durch­ge­stellt« wur­den. Befehls­ähn­lich. Das waren immer­hin erns­teste Ange­le­gen­hei­ten. Jeden­falls kom­mu­nal bewer­tet. Laut­lo­ses Kichern, ver­steckt hin­ter streng-erns­ten Mie­nen, blieb dabei, weil exis­tenz­ge­fähr­dend, per­sön­li­che Geheim­sa­che. So zum Bei­spiel die Ange­le­gen­heit mit dem Klopapier.
Das für Han­del und Ver­sor­gung zustän­dige Büro­mit­glied mel­dete an jenem Frei­tag­vor­mit­tag zum Tages­ord­nungs­punkt Bevöl­ke­rungs­be­darf, dass kilo­me­ter­weit im Stadt- und Land­kreis in allen ein­schlä­gi­gen Ver­kaufs­ob­jek­ten schon seit einer Woche kein Klo­pa­pier mehr ange­bo­ten wer­den könne. Nicht eine ein­zige Rolle! Nicht ein­mal hin­ten herum als Bück­ware für bevor­zugte Kund­schaft. Rol­len weder in der übli­chen, Sand­pa­pier ähn­li­chen Qua­li­tät, noch zwei- oder sogar drei­la­gige Import­ware. Es müsse etwas gesche­hen, alar­mierte Genosse Han­del und Ver­sor­gung. Unbe­dingt! Schon aus Grün­den des inter­na­tio­na­len Anse­hens hin­sicht­lich der Tou­ris­ten! Zumal in einer Kul­tur­stadt. Goe­the, Schil­ler, Her­der, Wie­land, aber kein Papier im WC, Muni­tion für den Klas­sen­feind ist das, Genos­sen! Die Sache ist also sowohl von poli­ti­scher wie kul­tu­rel­ler und nicht zuletzt auch von hygie­ni­scher Bedeu­tung. Ein­stim­mi­ger Beschluss: Sofor­tige Lösung!
Gut und schön, aber wie, Genos­sen? Macht Vor­schläge! Der für Gesund­heits­we­sen zustän­dige Sekre­tär erin­nerte vor­sich­tig an längst ver­gan­gene Zei­ten. Welt­wirt­schafts­krise vor Drei­und­drei­ßig, Nach­kriegs­jahre 1945 und spä­ter, heute noch hier und da üblich nahe von Rast­plät­zen an der Auto­bahn, bei jugend­li­chen Cam­pern und in länd­li­chen Gegen­den oder so. Damals, in der Hun­ger- und Auf­bau­zeit, hin­gen bei­nah im Klo­sett einer jeden bewohn­ba­ren Unter­kunft hand­lich geschnit­tene Zei­tungs­blät­ter in Reich­weite der Bedürf­ti­gen am Strick. Und an Zei­tun­gen fehlt es auch heut­zu­tage nicht im Revier! Für bedürf­tige Nicht­be­zie­her könnte man ja die Jun­gen Pio­niere zu Extra­samm­lun­gen ein­set­zen oder man­ches wisch­ge­eig­nete wie­der bei den Sam­mel­stel­len her­aus holen.
Denk­pause im Kreis der füh­ren­den Rol­ler. Stille. Minu­ten­lang. End­lich da und dort vor­sich­ti­ges Nicken. Nicht sehr haut­freund­lich, aber eine Lösung, mur­melte end­lich der 1. Kreis­se­kre­tär. Mur­melnde Zustim­mung, lang­sam anschwel­lend, doch dann lau­ter, hef­ti­ger Wider­spruch. Der Kul­tur­ge­nosse erhob sich dafür sogar, was in den Frei­tags­sit­zun­gen ganz und gar unüb­lich war. Unsere Zei­tun­gen hand­lich zer­schnei­den und dann nach dem Stuhl­gang … Ein Blatt viel­leicht mit dem Bild unse­res Gene­ral­se­kre­tärs? Unse­res Staats­rats­vor­sit­zen­den? Der Ver­öf­fent­li­chung von Beschlüs­sen unse­res Zen­tral­ko­mi­tees oder unse­rer Regie­rung …? Genos­sen, das wäre die vul­gäre Kon­ter­re­vo­lu­tion! So nie­mals! Weg mit die­ser ganz im Sinne des Wor­tes Schei­ß­idee! Und der Kul­tur­ge­nosse setzte sich wie­der, holte sein Taschen­tuch her­vor, wischte hek­tisch nasse Stirn und feuchte Lippen.
Nun betre­te­nes Schwei­gen. Unüb­li­ches, inten­si­ves Nach­den­ken. Zwei, drei Minu­ten. End­lich, ganz, ganz leise, der Hin­weis des Genosse Inne­res. Man könne sich bei der Aus­wahl von Zet­teln für den Klostrick doch allein auch auf Unpo­li­ti­sches beschrän­ken, oder? Der Pro­tes­tie­rer Kul­tur schoss erneut in die Höhe, noch ein­mal nur für kurze, scharfe Sätze: In unse­rem Staat gibt es nichts Unpo­li­ti­sches in der Presse! Die Zei­tung, poli­ti­scher Agi­ta­tor, Pro­pa­gan­dist und Orga­ni­sa­tor. Lenin! Ver­ges­sen, Genossen?
Rings um nickende Köpfe. Aus­nahms­los. Lau­ernde Bli­cke in Rich­tung Kreis­vor­sit­zen­der. Der sieht aus, als wolle er pfei­fen. Alle im offe­nen Vier­eck wis­sen, was nun kommt. Der Chef setzt zu sei­nem Lieb­lings­wort an: Das schnur­pst so nicht, Genossen!
Zwei Minu­ten spä­ter liegt zur Klo­pa­pier­frage der ein­stim­mige Beschluss des Büros der Kreis­lei­tung vor: Ent­schei­dun­gen von der­ar­tig wich­ti­ger, poli­ti­scher Trag­weite müs­sen auf einer höhe­ren Ebene der füh­ren­den Rolle getrof­fen werden!
Schwie­rig­kei­ten, wie Man­gel an Klo­pa­pier, gehör­ten in jener Zeit zu den soge­nann­ten Eng­päs­sen, mit denen die Bür­ger wesent­lich häu­fi­ger als mit Rei­se­päs­sen Bekannt­schaft machen konn­ten. Auch der über Stadt und Kreis wie eine der Gemein­hei­ten des Klas­sen­fein­des her­ab­ge­stürzte Eng­pass Saat­kar­tof­feln passt in die­ses Kapi­tel. Dies­mal hatte der Sekre­tär für Land­wirt­schaft­li­ches das Pro­blem auf die Tages­ord­nung gepflanzt. Das pas­sierte eben­falls in einem Früh­jahr der 1960er Jahre und im glei­chen Büro, wie­der beim „his­to­ri­schen Rol­len der Füh­rung«. Dies­mal alar­mierte der junge, gerade erst der Bezirks­par­tei­schule ent­kom­mene Genosse die Büro­mit­glie­der hin­sicht­lich einer den Bür­ge­rin­nen und Bür­gern womög­lich in Per­spek­tive dro­hen­den, ganz und gar unso­zia­lis­ti­schen Ernäh­rungs­krise. Näm­lich, weil: Den Land­wirt­schaft­li­chen Genos­sen­schaf­ten im wei­ten Umkreis fehl­ten Saat­kar­tof­feln. Und selbst agro­no­mi­schen Dünn­boh­rern im Geiste dürfte däm­mern, dass es ohne Aus­saat keine Ernte geben konnte. Und ohne Kar­tof­fel­ernte, nur mal als Bei­spiele, weder Salz‑, noch Pell- noch Brat­kar­tof­feln. Irgend­ei­ner in der Runde mur­melte etwas von rohen Klö­ßen und Sonn­ta­gen ohne Größe, doch der füh­rende Rol­ler Abtei­lung Land­wirt­schaft war mit sei­ner Phil­ip­pika noch nicht beim letz­ten Satz: Also, Genos­sen, höchste Alarm­stufe! Denkt an das Wort eines unse­rer gro­ßen Dich­ter: Zuerst kommt das Fres­sen, und dann die Moral nebst ande­ren wich­ti­gen Sachen! Eine Lösung muss her!
Kur­zes Über­le­gen reichte der Runde. Der Sekre­tär für Maxi­mus­Le­nimus oder kor­rekt: Agi­ta­tion und Pro­pa­ganda, schlug vor, an den über­ge­ord­ne­ten Ers­ten Sekre­tär der Bezirks­lei­tung einen Brief zu schi­cken. Inhalt: Bitte um sozia­lis­ti­sche Hilfe aus Regio­nen, in denen noch genü­gend Saat­kar­tof­feln vor­han­den sind. Viel­leicht bei dem Fisch­köp­pen in und um Ros­tock herum. Alle Hände hoch: Bei­fall ein­stim­mig! Der Land­wirt­schaft­ler sollte for­mu­lie­ren. Also hob er zum Mit­schrei­ben für die Pro­to­koll­ge­nos­sin an: Lie­ber Genosse Ers­ter Sekre­tär, wir bit­ten Dich in schwie­ri­ger Lage um Hilfe bei der Beschaf­fung drin­gend benö­tig­ter Saat­kar… Wei­ter kam er nicht! Der Kreis­oberste schnitt ihm scharf und ärger­lich das Wort ab. In der­ar­tig kläg­li­chem­Jam­mer­ton könne man doch kein Schrei­ben an den Bezirks­ers­ten begin­nen. An den Beginn gehörte zuerst ein­mal Geleis­te­tes! Die kreis­li­chen Errun­gen­schaf­ten, Genos­sen! Erfolge, klar?! Also, Sekre­tär Wirt­schaft, wie sieht es aus mit Erfol­gen. Der Auf­ge­for­derte kramte in sei­nen Zet­teln, nickte dabei fort­wäh­rend und zählte dann Zah­len auf. Pro­zente, sämt­lich mehr als Hun­dert. Der Genosse Woh­nungs­bau folgte mit über­erfüll­ten Plan­sum­men, der Kul­tur­be­reich mel­dete aus dem letz­ten Quar­tal wach­sende Besu­cher­zah­len im Thea­ter und sogar im Kino trotz der Woche der sowje­ti­schen Revo­lu­ti­ons­filme und aus HO sowie Kon­sum konnte von stei­gen­den Umsät­zen berich­tet wer­den. Der Text für den beab­sich­tig­ten Brief füllte schnell fünf Sei­ten. Nach­dem er dabei eine Weile auf sei­nem Stuhl hin und her gerutscht war, hob der Land­wirt­schafts­se­kre­tär einen Zei­ge­fin­ger und wagte den Hin­weis auf die feh­len­den Saat­kar­tof­feln und die ursäch­li­che, mit dem Brief ver­bun­dene Absicht. In das ein­tre­tende Schwei­gen hin­ein erhob sich der Kreis­se­kre­tär. Er tat das lang­sam. Stumm. Gespannt wie zum Sprung. Sein Blick strafte den Ein­wer­fer. Die Stimme blieb leise, sehr leise, doch gerade das machte jedes Wort zum Sta­chel. So doch nicht, Genos­sen! Nach einer Liste stol­zes­ter kom­mu­na­ler Siege am Ende die Mel­dung eines ganz erbärm­li­chen Ver­sa­gens in einer bana­len Kar­tof­fel­sa­che? Das ist nicht nur pein­lich, Genos­sen, das ist jäm­mer­lich geflenn­tes Ein­ge­ständ­nis eige­ner Unfä­hig­keit! Also, wir beschlie­ßen: Der Brief wird, wie er jetzt ist, als Erfolgs­bi­lanz außer der Reihe abge­schickt! Jemand dage­gen? Damit ins Pro­to­koll, Berta: Einstimmig!
Nun raffte der im Kreis füh­rende Land­wirt­schafts­rol­ler sei­nen Mut zusam­men und wagte eine Bemer­kung: Und was ist mit den feh­len­den Saat­kar­tof­feln? Hier und da Stirn­run­zeln. Schließ­lich ärger­li­che Frage des Ers­ten: Herr­gott­noch­mal – tat­säch­lich: Herr­gott! – irgend­wer im Kreis wird doch noch Kar­tof­feln im Kel­ler haben, oder? Wie ein Jubel­ruf Ant­wort vom Wirt­schafts­se­kre­tär: Im VEB Maschi­nen­bau! Spei­se­kar­tof­feln der Werk­kü­che! Ton­nen! Vor­rat für Monate bis zur neuen Ernte! Der Erste streckte, freu­dig wie der Papst zum urbi et orbi auf dem Bal­kon, beide Hände in Kopf­höhe: Die Lösung, Genos­sen! Raus mit den Kar­tof­feln in die Land­wirt­schaft! Ab sofort Saat­gut! Ange­ord­net und beschlos­sen! Und die Betriebs­kü­che im Maschi­nen­bau kocht nun aus­nahms­weise mal ein, zwei, drei Monate als Wer­kes­sen Mak­ka­roni, Grau­pen, Reis, Gries, Hafer­flo­cken, klar?! Reich­lich Bra­ten dazu, Gulasch, Hühn­chen – kei­ner soll Grund zum Meckern haben!
Und so geschah es. Nie­mand im Maschi­nen­bau maulte wegen des Kar­tof­fel­man­gels und der beacht­li­chen Fleisch­bei­la­gen. Und es soll sogar bei eini­gen Werks­an­ge­hö­ri­gen Gewichts­zu­nah­men gege­ben haben.

 

 Lesungen:

  1. Verena Zeltner – »299 Tage«
  2. Wulf Kirsten – »Nachtfahrt«
  3. Ralf Eggers – »Geständnis«
  4. Kathrin Groß-Striffler - »Mein Haus«
  5. Ulrike Gramann – »Die Sumpfschwimmerin«
  6. Anke Engelmann – »Der Zaun«
  7. Jens-Fietje Dwars – »Audienz am Dienstag«
  8. Harald Gerlach – »Windstimmen«
  9. Rainer Hohberg – »Schloss. Träume. Hummelshain«
  10. Wolfgang Held – »Die Stunde der Führungsroller«
  11. Antje Babendererde – Lesung aus »Isegrimm«
  12. Roland Bärwinkel –»Mein See«
  13. Stefan Petermann – »Heute lernen wir Tschüss zu sagen«
  14. Kai Mertig – »Windmann geht die Stürme küssen«
  15. Bernd Ritter – »The Game«
Diesen Artikel teilen:

Literaturland Thüringen‹ ist eine gemeinsame Initiative von
Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen · Thüringer Literaturrat e. V. · MDR-Figaro · MDR Thüringen – Das Radio

Gestaltung und Umsetzung XPDT : Marken & Kommunikation © 2011-2024 [XPDT.DE]
© Thüringer Literaturrat e.V. [http://www.thueringer-literaturrat.de]

URL dieser Seite: [https://www.literaturland-thueringen.de/artikel/portraets-podcasts/12-folge-12-wolfgang-held-die-stunde-der-fuehrungsroller/]