Walter Scott – »Chrystal Croftangrys Geschichte«

Personen

Hansjörg Rothe

Johann Wolfgang von Goethe

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Hansjörg Rothe

Erstdruck in: Palmbaum 2/2021. Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Hans­jörg Rothe

Goe­the liest Scott

 

Fried­rich Schle­gels Pro­gnose aus dem Jahre 1796, die »… Fran­zö­si­sche Revo­lu­tion, Fich­tes Wis­sen­schafts­lehre und Goe­thes Meis­ter« seien »die größ­ten Ten­den­zen des Zeit­al­ters«, bestä­tigt der Auf­stieg von Wal­ter Scott nach dem Ende der napo­leo­ni­schen Ära: sein ers­ter Roman »Waver­ley« ist 1814 ganz in der Nach­folge von »Wil­helm Meis­ters Lehr­jahre« geschrie­ben. Goe­the war des Lobes voll und tat­säch­lich wurde der schot­ti­sche Autor, des­sen Geburts­tag sich in die­sem Jahr zum 250. Mal jährt, zur füh­ren­den geis­tig-intel­lek­tu­el­len Auto­ri­tät nicht nur im Ver­ei­nig­ten König­reich son­dern euro­pa­weit. Grund genug, einen Roman aus Scotts Spät­werk erst­mals nach 175 Jah­ren wie­der in deut­scher Über­set­zung herauszubringen.

Zunächst stellt Chrys­tal Croftan­gry sich vor. Er ist ein Landad­li­ger aus alter schot­ti­scher Fami­lie, um die 60 Jahre alt, der eine rei­che Lebens­ge­schichte aber nur noch wenig Geld hat und des­halb beschließt, Schrift­stel­ler zu wer­den: »Ich hatte mich aus dem Gestrüpp und den Dickich­ten des Rechts her­aus­ge­wun­den – prä­zi­ser: meine Freunde befrei­ten mich aus ihnen -, aber wie das Schaf in der Fabel hatte ich doch einen gro­ßen Teil mei­ner Wolle ver­lo­ren.« Die Frage des künf­ti­gen Wohn­sit­zes wird bereits Pro­gramm für das Schrei­ben: Canon­gate, ein »ver­nach­läs­sig­tes, her­un­ter­ge­kom­me­nes Vier­tel« der schot­ti­schen Haupt­stadt Edin­burgh, das aber in der Alt­stadt liegt, die »einst die Ehre [besaß], vom Hoch­adel und der sons­ti­gen bes­ten Gesell­schaft bewohnt zu wer­den.« Die Geschichte Schott­lands soll also durch seine Bücher zum Leben erweckt und dem »bis­lang völ­lig unbe­kann­ten Namen Chrys­tal Croftan­gry eini­ges Anse­hen« ver­lie­hen wer­den. Was es braucht, sind 1. eine Haus­häl­te­rin und 2. Zeit­zeu­gen! Bei­des fin­det sich in Gestalt von Janet, einer ein­fa­chen Frau aus den High­lands, sowie Mrs. Bet­hune Baliol, einer alten Dame, die sich noch an die stür­mi­schen Zei­ten von 1745 und den Thron­prä­ten­den­ten Bon­nie Prinz Char­lie erin­nert. Mit ihrer Vor­stel­lung endet das erste Buch von »Chrys­tal Croftan­grys Geschichte«.

Das zweite Buch, »Die Hoch­land­witwe«, lie­fert einen unsen­ti­men­ta­len Blick auf das Leben in den High­lands um die Mitte des 18. Jahr­hun­derts, anhand der Lebens­ge­schichte von Elspat, einst­mals »die schöne, freud­volle Gat­tin von Hamish Mac­Ta­vish, […] der sich durch seine Stärke und sei­nen Mut den Titel Mac­Ta­vish Mhor erwarb.« Mrs. Baliol hatte sie selbst getrof­fen. Für Scotts zeit­ge­nös­si­sche Leser wohl über­ra­schend wird hier mit der Ossian-Roman­tik, zu der auch der junge Goe­the in sei­nem »Wert­her« bei­getra­gen hatte, auf­ge­räumt und ein Bild gezeich­net, das eher zu Schil­lers »Räu­bern« passt. Elspat hält die »Moral des Hoch­lands« hoch: »Sie waren ihren Freun­den treu erge­ben und ihren Fein­den gegen­über rück­sichts­los. Die Her­den und Fel­der des Unter­lands betrach­te­ten sie als ihr Eigen­tum und raub­ten vom einen wie vom ande­ren […]. Hamish Mhor sah die Dinge wie der Krie­ger Kre­tas aus dem Alter­tum: ‚Wer sich die Lanz zu wer­fen scheut, der muss sich beu­gen mei­nem Schild. Land und Wein­berg sind nicht mehr sein, was einem Fei­gen gehört, ist des­halb mein.’« Die Zukunft liegt für Elspats Sohn nach dem nie­der­ge­schla­ge­nen Auf­stand in Ame­rika: hef­tig von sei­ner Mut­ter dafür geschol­ten, dass er sich von den Eng­län­dern anwer­ben ließ, macht er sich den­noch auf den Weg und tritt damit zwar nicht in die Fuß­stap­fen sei­nes Vaters, kann aber schon bald die Mut­ter mit Geld­sen­dun­gen unterstützen.

Im Drit­ten Buch schil­dert der Autor zum einen, wie sich seine Mühen aus­zah­len – die Hom­mage an das »schön gebun­dene Buch«, das er ent­zückt in Hän­den hält, ist heute aktu­el­ler denn je. Zum ande­ren lässt er uns teil­ha­ben an sei­nen Über­le­gun­gen bezüg­lich der nächs­ten Geschichte. Für reine High­land-Sto­ries ist »der Markt gesät­tigt«. Des­halb die Geschichte zweier Rin­der­trei­ber: nur der eine ist Hoch­län­der, deren Domäne die­ser Beruf seit jeher war. Der zweite ist Eng­län­der und die bei­den müs­sen mit ihren Her­den zwi­schen Schott­land und Eng­land man­ches Aben­teuer bestehen. Mit einem Wort: Die bei­den Hel­den sind die ers­ten »Cow­boys«, die hier noch im alten Europa erst­mals die Bühne der Welt­li­te­ra­tur betre­ten – Vor­bo­ten einer neuen Kul­tur, die in Ame­rika zur Blüte gelan­gen sollte und noch heute bei uns auf Faschings­fei­ern und zu Kin­der­ge­burts­ta­gen fortlebt.

Die Publi­ka­tion kommt zur rech­ten Zeit. Unse­rer eige­nen Situa­tion nicht unähn­lich, herrschte nach Napo­le­ons Ent­zau­be­rung eine große Rat­lo­sig­keit in Europa. Sicher kannte Scott, als er »Chrys­tal Croftan­grys Geschichte« schrieb, Goe­thes »Aus mei­nem Leben. Dich­tung und Wahr­heit« – auch Goe­the war um die 60 beim Beginn des Werks. Doch regte Goe­the die Erneue­rung der deut­schen Kul­tur im preu­ßi­schen Gewande durch die »berühmte Stelle (Franz Mehring)« an, mit der er die »Les­sing-Legende« begrün­dete, so weist Sir Wal­ter Scott in eine andere Rich­tung: die Zukunft Schott­lands liegt in Amerika.

 

  • Wal­ter Scott: Chrys­tal Croftan­grys Geschichte, Roman. Hrsg, über­setzt und mit einem Nach­wort von Michael Klein, Morio Ver­lag Hei­del­berg 2021, 320 S., geb., EUR 25.
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