Auf Wolfgang Hilbigs Spuren in Meuselwitz
7 : Der Bahnhof

Person

Wolfgang Hilbig

Ort

Bahnhof Meuselwitz

Themen

Von 1945 bis zum Ende der DDR

Gegenwart

Autor

Volker Hanisch

Thüringer Literaturrat e.V.

Meu­sel­witz war lange Zeit bedeu­ten­der Eisen­bahn­kno­ten­punkt einer auf­stre­ben­den Braun­koh­len­ab­bau- und Indus­trie­re­gion, die zudem über ein umfang­rei­ches Gru­ben­bah­nen­netz ver­fügte. Der Eröff­nung der Stre­cke Altenburg–Zeitz im Jahr 1872 folg­ten Gleise Rich­tung Gasch­witz (1874) und Ron­ne­burg (1887). Mit der Ein­stel­lung des Per­so­nen­ver­kehrs nach Alten­burg im Dezem­ber 2002 schloss sich die­ses Kapi­tel der Meu­sel­wit­zer Eisen­bahn­ge­schichte; ledig­lich eine »Koh­le­bahn­li­nie« Meuselwitz–Regis-Breitingen wird seit 1999 im Aus­flugs- und Muse­ums­be­trieb befah­ren, und im frü­he­ren Lok­schup­pen ist heute der »Kul­tur­bahn­hof Meu­sel­witz« untergebracht.

Als Rei­sen­der war Wolf­gang Hil­big, der zeit­le­bens kein Auto besaß, auf den Zug- und Bus­ver­kehr ange­wie­sen, wie hier, so im übri­gen Land. Kaum ver­wun­der­lich, dass Bahn­höfe in sei­nem Werk ein wie­der­keh­ren­der Schau­platz sind, man lese zum Bei­spiel die Erzäh­lung »Fes­ter Grund« (darin der Satz des Erzäh­lers: »Irgend­wann ist es soweit, und man merkt, daß Bahn­höfe ein Kata­stro­phe sind.«), das letzte Kapi­tel sei­nes Romans »Das Pro­vi­so­rium« oder das fol­gende, recht frühe Gedicht »bahn­hof« von 1968:

 

bahnhof
grau grau graues durcheinander
von wo kein zug abfährt wo ein riesiger rabe
sich schwarz zwischen die schienen setzt
bahnhof das ist aller orte kältester nachts
schläft niemand
seht unsre gesichter vom laster zerfetzt und
wenn der bahnhof abfährt seht uns trinken
gefangenschaft trinken aus schmutzigem glas
trinken bis der teufel kommt sprechen
zu keinem und alternd noch immer uns wundern
über die gedanken des zerrauften haars
sommer winter jahrhunderte kommen vorüber
uns berühren sie nicht seht uns verweilen
im rauch der rasenden wartesäle einmal
weinen ein paar mal lachen und lauschen
wenn vor dem fenster ein betrunkner
wie verrückt einen namen schreit.
Wolfgang Hilbig: Werke, Bd. 1, 2008, S. 23

 

Das eins­tige Emp­fangs­ge­bäude des Meu­sel­wit­zer Bahn­hofs – zuzei­ten auch mit einer Mitropa-Gast­stätte aus­ge­stat­tet und, am stra­ßen­sei­ti­gen Gie­bel, mit einer gro­ßen Uhr, die wirk­lich lang­jäh­rig ste­hen geblie­ben war, jetzt aber ganz fehlt – war über viele Jahre hin­weg der (un)vertraute Ort der Abfahr­ten und Ankünfte Wolf­gang Hil­bigs. Der Anfang sei­ner Erzäh­lung »Der Nach­mit­tag« von 1995 gibt einen atmo­sphä­ri­schen Ein­druck davon:

Nichts Neues in der Bahn­hof­straße! – So lau­tet der erste Satz, der mir zur Ankunft ein­fällt. Mit dem Wort Ankunft habe ich aller­dings schon zuviel gesagt: es ist etwas so Bekann­tes in dem sei­fi­gen Geschmack der Luft, das mich gar nicht auf die Idee kom­men läßt, mei­nen Weg in die Stadt hin­ein als eine Rück­kehr zu bezeich­nen: ich denke nicht an ein Wie­der­kom­men, ich bin nie­mals fort gewe­sen. Nein, ich habe die Stadt nie wirk­lich ver­las­sen, ich bin manch­mal bloß aus ihr geflüch­tet: in Wahr­heit war es die Stadt, die mich nie wirk­lich ver­las­sen hat. Die Stadt hat mich immer besetzt gehal­ten mit ihrer farb­lo­sen Ver­wüs­tung, in der ein andau­ern­der ste­cken­ge­blie­be­ner Umsturz statt­zu­fin­den schien, ein uner­klär­li­cher Umsturz. Auch vor dem Umsturz des gan­zen Lan­des hatte ich stets die­sen Ein­druck, und er blieb mir erhal­ten, nach­dem die Staats­macht des Lan­des auf­ge­ge­ben und sich davon­ge­macht hatte, nach­dem die Regie­rung und ihre nächs­ten Vasal­len aus­ge­wech­selt wor­den waren: in die­ser Stadt schien sich die Ablö­sung des Sys­tems durch nichts zu bestä­ti­gen. In einer Ver­gan­gen­heit, die, wie es schien, nicht mehr aus­zu­lo­ten war, mußte die Stadt in eine Erstar­rung gestürzt sein, und jener Zusam­men­bruch hatte auch nach dem Sys­tem­wan­del standgehalten.

 Auf Wolfgang Hilbigs Spuren in Meuselwitz:

  1. Das Geburtshaus
  2. Die Hochfrequenzwerkstätten
  3. Ecke Rudolf-Breitscheid-Straße/Nordstraße mit Blick zum Auholz
  4. Die Schule
  5. Der Hauptkonsum mit Briefkasten und Großbäckerei
  6. Die Gaststätten
  7. Der Bahnhof
  8. Die Maschinenfabrik – Ecke Bahnhofstraße und Penkwitzer Weg
  9. Wuitz-Mumsdorf – Exkurs zum »Kesselhausfasan«
  10. Das Stadtzentrum
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