Auf Wolfgang Hilbigs Spuren in Meuselwitz
1 : Das Geburtshaus

Person

Wolfgang Hilbig

Ort

Wohnhaus Rudolf-Breitscheid-Straße 19 b

Themen

Von 1945 bis zum Ende der DDR

Gegenwart

Autor

Volker Hanisch

Thüringer Literaturrat e.V.

Wolf­gang Hil­big wurde am 31. August 1941 in der Franz-Sel­dte-Straße 19 b gebo­ren. Bis 1934 hieß die Straße noch Fasa­nen­straße, seit 1945 heißt sie Rudolf-Breit­scheid-Straße. Man darf sich heute von einer Haus­num­mer 19 b in die­ser Straße nicht täu­schen las­sen: Das Fer­tig­teil­haus steht erst seit 2013, und zwar rechts neben dem frü­he­ren »Hil­big-Haus«, das 2005 dem Abriss anheim fiel – trotz ein­zel­ner Appelle von Lite­ra­tur­in­ter­es­sier­ten. Vom Haus geblie­ben ist nur eine Rasen­flä­che: von der Alten­bur­ger Straße kom­mend, nach dem mar­kan­ten Eck­haus des vor­ma­li­gen Restau­rants »Stadt Ber­lin« (heute ein »Gesund­heits­stu­dio«) links, etwa gegen­über von Haus­num­mer 40.

Wolf­gang Hil­big wuchs bei sei­ner Mut­ter Mari­anne Hil­big (1919–2012) und den Groß­el­tern müt­ter­li­cher­seits auf. Der Vater Max Hil­big – gebo­ren 1909, gelern­ter Schnei­der und ab 1942 Sol­dat im Zwei­ten Welt­krieg – galt seit Januar 1943 bei Sta­lin­grad als ver­misst. Groß­va­ter Kazi­mierz Star­tek (1888–1972), aus einem pol­ni­schen Dorf süd­lich von Lub­lin stam­mend, war kurz nach 1900 nach Deutsch­land gekom­men und arbei­tete bald dar­auf als Berg­mann im Meu­sel­wit­zer Braun­koh­len­re­vier. Von sei­nem Vor­na­men lei­tete sich Hil­bigs spä­te­rer Spitz­name »Kaschi« ab.

Im Berg­ar­bei­ter-Mehr­fa­mi­li­en­haus Nr. 19 b lebte die Fami­lie Hil­big-Star­tek im ers­ten Stock in einer klei­nen Woh­nung unter sehr beeng­ten Ver­hält­nis­sen. An die hier ent­stan­de­nen Kind­heits­prä­gun­gen (der vater­los auf­wach­sende Hil­big besaß weder ein eige­nes Zim­mer noch ein eige­nes Bett) knüp­fen auch die Inter­pre­ta­tio­nen von Hil­bigs Werk immer wie­der an – das sei­ner­seits oft genug ein lite­ra­ri­sches Bild der pro­le­ta­ri­schen Ver­hält­nisse zeich­net, die in gespens­tisch-geheim­nis­volle Ereig­nisse hin­ein­lau­fen. So auch in der Erzäh­lung »Der Brief« von 1981, die die Stim­mung im soge­nann­ten Ost­vier­tel am Rande der Stadt, dem Milieu des Groß­va­ters, meis­ter­haft einfängt:

Ich komme aus einem Vier­tel – dort in die­ser Klein­stadt, die mich aus­ge­wor­fen hat –, in wel­chem die unge­lern­ten Arbei­ter wohn­ten. Es war eine Berg­ar­bei­ter­sied­lung, die Häu­ser, mit ihren schlech­ten, aber bil­li­gen Woh­nun­gen, gehör­ten dem Berg­werks­amt … in diese Woh­nun­gen war die Creme des Pro­le­ta­ri­ats ein­ge­pfercht. Es gab ver­hält­nis­mä­ßig viele Undeut­sche … die­sen Aus­druck benutzte man noch sehr lange … in unse­rer Straße, Tsche­chen, Polen, Kroa­ten, Fami­lien, die vor dem Ers­ten Welt­krieg, oder schon um die Jahr­hun­dert­wende, aus Ost­eu­ropa zuge­wan­dert waren. Es gab kaum deut­sche Namen in die­ser Straße, mein Groß­va­ter, der kurz nach Neun­zehn­hun­dert aus Polen nach Deutsch­land gekom­men war, sprach pol­nisch und rus­sisch mit den Leu­ten unse­res Vier­tels. Ich erin­nere mich an die Abende, an denen bei uns in der Küche Kar­ten gespielt wurde, wobei man sich auf rus­sisch anbrüllte und beschimpfte. Die­ses Vier­tel war ver­ru­fen … es war das Vier­tel mit dem übels­ten Leu­mund in der Stadt, und noch heute, wo sich man­ches geän­dert hat, heißt es, man kommt von da hin­ten … aus der Asche. Die Asche, so nennt man das Vier­tel, das an die Müll­kip­pen grenzte, an die Tage­baue und Moore, an die in Trüm­mern lie­gen­den Fabrik­an­la­gen, an das ehe­ma­lige Gefan­ge­nen­la­ger, des­sen Bara­cken nach dem Krieg mit Umsied­lern aus den Ost­ge­bie­ten belegt wur­den, durch die diese Gegend dann gänz­lich zum soge­nann­ten Ver­bre­cher­vier­tel avan­cierte; es war das Vier­tel der Schmie­ri­gen und Aso­zia­len, wo das Stra­ßen­pflas­ter auf­hörte und der Braun­koh­len­schlamm anfing, noch heute ist es die Gegend mit dem wirk­lich unan­ge­nehms­ten Ruf in der Stadt, die üble Gegend, die den Bür­gern unheim­lich ist und in der unser­eins qual­mige Herd­ge­rü­che schnüffelt.

Groß­va­ter Kazi­mierz hatte keine Schule besucht, konnte kaum lesen und schrei­ben und bearg­wöhnte daher alles Geschrie­bene – auch die Bücher, die der junge Wolf­gang von sei­ner Mut­ter bekam und bei deren Lek­tü­ren er sich daheim in der häus­li­chen Enge unge­ahnte Wel­ten erschloss. Dass die Mut­ter, die selbst gern las, ihrem Sohn damit sei­nen eigent­li­chen Weg in die Dich­tung öff­nete, ist ver­brieft, und so lebte der fan­ta­sie­be­gabte Junge fortan in zwei Hei­ma­ten: der begrenz­ten Welt der Indus­trie- und Berg­ar­bei­ter­stadt und der gren­zen­lo­sen des poe­ti­schen Wor­tes. Davon zeugt das Gedicht »prosa mei­ner hei­mat­straße«: ein Titel, der die »pro­sai­schen« Ver­hält­nisse andeu­tet – ein Text, der die poe­ti­sche Hei­mat verkörpert.

Bis 1979 lebte Wolf­gang Hil­big in Meu­sel­witz, teilte sich die Woh­nung in der Rudolf-Breit­scheid-Straße mit der Mut­ter und schrieb, wenn er daheim war, am Küchen­tisch. Auch danach, ob aus Ber­lin, Leip­zig oder Edenkoben, kehrte Hil­big regel­mä­ßig ins Haus sei­ner Kind­heit zurück, um die Mut­ter (sie wohnte hier bis 1999) zu besu­chen und – zu schrei­ben. »Hei­mat­straße« und »Klein­stadt« blie­ben ihm zeit­le­bens ein gro­ßes Thema, das der Erzäh­ler im Roman »Das Pro­vi­so­rium« (2000) so zusammenfasst:

[…] er war fast bis zu sei­nem vier­zigs­ten Lebens­jahr in dem wider­li­chen Schlan­gen­nest einer Klein­stadt sit­zen­ge­blie­ben, in einer Küchen­ecke bei sei­ner Mut­ter, immer auf den Augen­blick war­tend, in dem er sich sagen konnte, nun sei er Schrift­stel­ler; der Augen­blick war nie gekommen.

In sei­nem Spät­werk hält Wolf­gang Hil­big inten­siv Rück­schau auf die Orte sei­ner Kind­heit – der Erzäh­lungs­band »Der Schlaf der Gerech­ten« (2003) ver­setzt uns wie­derum in die Rudolf-Breit­scheid-Straße, führt uns in die Gegen­den rund­herum und ver­sam­melt die Figu­ren der Mut­ter, der Groß­mutter und des Groß­va­ters. Obwohl die Frauen zetern, der Groß­va­ter schweigt und »Die Fla­schen im Kel­ler« des Berg­ar­bei­ter­hau­ses zur wahn­sin­ni­gen Bedro­hung wer­den, so schla­gen diese Erzäh­lun­gen zugleich neue, warme Töne an. »Der Nach­mit­tag« ver­wan­delt sich in wei­che Melan­cho­lie und gibt ein fried­li­ches Bild der Stadt, und auch der »Ort der Gewit­ter« ist schil­lernd und schön. Am Ende sei­nes Lebens, so scheint es, hat Wolf­gang Hil­big sich mit den Wider­sprü­chen sei­ner Geburt ausgesöhnt.

 Auf Wolfgang Hilbigs Spuren in Meuselwitz:

  1. Das Geburtshaus
  2. Die Hochfrequenzwerkstätten
  3. Ecke Rudolf-Breitscheid-Straße/Nordstraße mit Blick zum Auholz
  4. Die Schule
  5. Der Hauptkonsum mit Briefkasten und Großbäckerei
  6. Die Gaststätten
  7. Der Bahnhof
  8. Die Maschinenfabrik – Ecke Bahnhofstraße und Penkwitzer Weg
  9. Wuitz-Mumsdorf – Exkurs zum »Kesselhausfasan«
  10. Das Stadtzentrum
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