Annette Seemann – »Gabriele Reuter. Leben und Werk einer geborenen Schriftstellerin«

Personen

Gabriele Reuter

Annette Seemann

Wulf Kirsten

Ort

Weimar

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Wulf Kirsten

Abdruck in »Palmbaum - Literarisches Journal aus Thüringen«, Heft 1/2017 / Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Gele­sen von Wulf Kirsten

Ein Buch als Denkmal

 

An Gabriele Reu­ter (1859–1941), eine, wenn nicht gar d‑i-e weib­li­che Repre­sen­tan­tin des Fin-de-Sie­cle, erin­nert in Wei­mar, wo sie ihre Prä­gun­gen erhielt und ihren Alters­sitz nahm, weder eine Straße noch eine Gedenk­ta­fel, von einem Stand­bild ganz zu schwei­gen. Hier über­le­ben hin­ge­gen Her­mann Löns, Johan­nes Schlaf, Arno Holz. Wo sich ihr Grab befand, ist nicht mehr zu ergrün­den. Es wurde ver­mut­lich nach dem Tod der Toch­ter Lilly Ave­na­rius (1897–1977) ein­ge­eb­net. Annette See­mann hat ihr, wenn auch nicht eigens auf Wei­mar beschränkt, ein Denk­mal gesetzt in Gestalt einer umfang­rei­chen Bio­gra­fie, 2016 erschie­nen in der Wei­ma­rer Ver­lags­ge­sell­schaft. Inso­fern ist die Dar­stel­lung von Leben und Werk ein his­to­ri­sches Verdienst.

Ich muss geste­hen, Gabriele Reu­ter als eine »unter­be­lich­tete« Wei­mar-Autorin wahr­ge­nom­men zu haben neben so vie­len ande­ren ebenso wie sie unter­be­lich­te­ten Per­sön­lich­kei­ten unter den rie­si­gen Flü­gel­span­nen der Klas­si­ker. Und doch zeigt schon ein wich­ti­ger Blick auf ihre Bio­gra­fie, dass ihre Haupt­schaf­fens­zeit sich außer­halb Wei­mars abspielte. Zunächst einige Jahre in Mün­chen, ab der Jahr­hun­dert­wende in Ber­lin, wo sie drei Jahr­zehnte ver­brachte. Man kann nur spe­ku­lie­rend ver­mu­ten, wie ihr Leben mit einer beträcht­li­chen Ruhm­kurve ver­lau­fen wäre, hätte sie aus Wei­mar nicht her­aus­ge­fun­den. Zunächst bot Wei­mar nach Alt­hal­dens­le­ben bei Mag­de­burg eine Fülle von kul­tu­rel­len Anre­gun­gen, Kon­tak­ten, Freund­schaf­ten. Nach gele­gent­li­chen Auf­ent­hal­ten wurde Wei­mar 1879 fes­ter Wohnsitz.

1882–1890 zog sie mit ihrer Mut­ter in das Haus von Onkel Her­mann Beh­mer am Kaser­nen­berg (heute Leib­niz-Allee 4). Unter den Per­sön­lich­kei­ten, die ihr begeg­ne­ten, beein­druckte sie vor allem der Maler Fried­rich von Schen­nis (1852–1918), ein Schü­ler Theo­dor Hagens. Enge­rer Kon­takt bestand zu dem Freun­des­kreis um Edu­ard von der Hel­len (1863–1927), Archi­var im Goe­the- und Sdhil­ler-Archiv. Schon früh­zei­tig mit Ver­öf­fent­li­chun­gen her­vor­ge­tre­ten, wurde sie ab Mitte der acht­zi­ger Jahre zuneh­mend als Schrift­stel­le­rin wahr­ge­nom­men. Im Grunde wies ihr bei einem Tref­fen in Eisen­ach 1886 Karl Fren­zel (1827–1914) den Weg zu rea­lis­ti­schen, kri­ti­schen Lebens­ge­stal­tun­gen, wobei ihr dann auch ihre sati­ri­sche Sicht zustat­ten kam. Sti­lis­tisch lässt sie sich jedoch nicht genau ein­gren­zen, obwohl in ihrem sub­jek­ti­ven Rea­lis­mus auch Ein­flüsse des Natu­ra­lis­mus durch­schla­gen. Weit wich­ti­ger war ihr das Enga­ge­ment für die Gleich­stel­lung und Gleich­ran­gig­keit der Frau, um die Aner­ken­nung, Durch­set­zung eman­zi­pa­to­ri­scher Ziele, ohne der Frau­en­be­we­gung anzu­ge­hö­ren. Kurz, ihre viel­fäl­ti­gen geis­tig-kul­tu­rel­len Inter­es­sen, ihre inten­sive Teil­nahme am gesell­schaft­li­chen Leben, wenn auch wohl stets aus einer gewis­sen kri­ti­schen Distanz, die bes­ser sehen und auf­neh­men lässt, ver­schaff­ten ein reich­hal­ti­ges »Arse­nal« an Lebens­stoff, von dem sie als Erzäh­le­rin, Essay­is­tin ein Leben lang zehrte.

Vier Jahre arbei­tete sie an dem Roman, der 1895 unter den Titel »Aus guter Fami­lie« bei S. Fischer erschien und rasch zu einen Best- und Long­sel­ler wurde. In Wei­mar, vor­nehm­lich im Kreise ihrer Ver­wand­ten wie Bekann­ten, ein Skan­da­lon, das zwar im deut­schen Sprach­raum ihren Ruhm auf Jahr­zehnte begrün­dete, in Wei­mar hin­ge­gen mas­sive Kri­tik bis hin zu regel­rech­ter Äch­tung bescherte. Höchste Zeit, Wei­mar den Rücken zu keh­ren. Was ihr zunächst an der Klein­stadt so impo­niert hatte, erwies sich im Laufe der Jahre als Still­stand (was so man­chem Zeit­ge­nos­sen immer noch andau­ert), von dem »ein lang­sam läh­men­des Gift« aus­strömte. Spieß­bür­ger­li­ches Bor­ne­ment, das sich für sie in dem Beh­mer-Kreis zu kon­zen­trie­ren schien, domi­nierte. Wäh­rend sie mit ihrem Roman, der 1929 in 28. Auf­lage erschien, zur »Anwäl­tin aller Frau­en­nöte« avan­cierte und für das »stärkste Talent der weib­li­chen Moderne« galt. Zumin­dest bis zum Ers­ten Welt­krieg sahen die zahl­rei­chen Kri­ti­ker in ihr die »Leit­fi­gur und das Sprach­rohr einer Frau­en­gene­ra­tion«. Annette See­mann wid­met die­sem Roman, der den Höhe­punkt, die spä­ter­hin nicht wie­der erreichte Gip­fel­leis­tung in ihrem umfang­rei­chen Schaf­fen bil­det, das zen­trale Kapi­tel in ihrer Bio­gra­fie. Viele der spä­ter ent­stan­de­nen Romane und Erzäh­lun­gen las­sen sich unver­kenn­bar als Abwand­lun­gen, Varia­tio­nen des erfolg­rei­chen Romans lesen.

Allein die Antho­lo­gi­sie­rung des Echos auf die­sen wie auch spä­tere Romane würde einen umfang­rei­chen Band fül­len. Zu den Stim­men der Pro­mi­nen­ten bezie­hungs­weise spä­ter­hin pro­mi­nent gewor­de­nen Kri­ti­kern wie Helene Stö­cker, Vic­tor Klem­pe­rer, Sig­mund Freud zählt vor allen Tho­mas Mann. Ein Zitat aus sei­nem Essay steht pars pro toto für eine kaum mehr über­schau­bare Viel­zahl von Bei­trä­gen, die ihren Rang bestä­tig­ten und fes­tig­ten: »Gabriele Reu­ter ist viel­leicht die sou­ve­ränste Frau, die heute in Deutsch­land lebt: nicht weil sie die ‚eman­zi­pier­teste‘ wäre, son­dern weil sie auch über die ‚Eman­zi­pa­tion‘ schon hin­aus ist – von jeher dar­über hin­aus war, und zwar ver­möge ihrer künst­le­ri­schen Weib­lich­keit. In ihrer Weib­lich­keit liegt ihre Stärke und Tiefe, und mit ihr ist sie, wie mir scheint, sogar ‚moder­ner‘ als alle streit­ba­ren Frau­en­zim­mer der Neu­zeit, die den Gip­fel der Moder­ni­tät erklom­men zu haben mei­nen, wenn sie sich den Dok­tor­hut aufs gescho­rene Haupt stül­pen. Moder­ni­tät ist Bewusst­heit. Man muss wis­sen, was man ist. Man hat das Prin­zip zur Gel­tung zu brin­gen, das man dar­stellt.« Auch wenn sich Tho­mas Mann mit die­sem Urteil spe­zi­ell auf den spä­te­ren Roman »Lise­lotte von Reck­ling« (1903) bezieht, gilt dies ebenso, wenn nicht erst recht für das lite­ra­ri­sche Niveau und die Hal­tung, die sie bereits 1895 mit den Roman »Aus guter Fami­lie« ein­zu­le­gen vermochte.

Sei­nem Essay »Gabriele Reu­ter und ihr Werk« (»Der Tag«, 14.02.1904) ging ein Besuch bei ihr vor­aus. In dem Bericht apo­stro­phiert er sie als »selbst­herr­li­che und schöp­fe­ri­sche Frau«. Neben zahl­rei­chen eman­zi­pa­to­ri­schen Schrif­ten, Schrift­stel­ler-Bio­gra­fien (Marie von Ebner-Eschen­bach, Annette von Droste-Hüls­hoff) bezeu­gen die zahl­rei­chen lite­ra­tur­kri­ti­schen Bei­träge in der Presse ihre Anteil­nahme am lite­ra­ri­schen Leben der Gegen­wart. So revan­chierte sie sich im »Tag« mit einer Rezen­sion zu Tho­mas Manns Roman »König­li­che Hoheit«.

Wäh­rend sie in ihrer Auto­bio­gra­fie »Vom Kinde zum Men­schen. Die Geschichte mei­ner Jugend« (1921; Neu­aus­gabe 2014) aus­führ­lich ihren Lebens­weg nach­zeich­net – bis 1895, ihrem Weg­gang von Wei­mar, gibt es für die in Mün­chen und in Ber­lin ver­brach­ten Jahr­zehnte auf­fäl­lig viele Leer­stel­len. Pri­vata blie­ben tun­lichst verschwiegen.

Ihre Toch­ter Eli­sa­beth (Lilly) brachte sie im Okto­ber 1897 in einem vor­zugs­weise von ledi­gen Müt­tern auf­ge­such­ten Ent­bin­dungs­heim in Erbach an der Donau zur Welt. Die Vater­schaft wurde bis zu ihrem Lebens­ende nicht publik. Wohl aber musste der Vater nach 1933 die Vater­schaft bezeu­gen, als der »Ari­er­nach­weis« für die Toch­ter im Ahnen­pass bei­gebracht wer­den musste. So weiß man nun inzwi­schen, dass der Schrift­stel­ler Benno Rüt­ten­auer (1855–1940), einer der zahl­rei­chen Rezen­sen­ten des Romans »Aus guter Fami­lie«, dafür zumin­dest sei­nen Namen gab. Der Makel, Mut­ter einer unehe­li­chen Toch­ter zu sein, blieb indes an ihr haf­ten. Der Schau­platz ihres Romans »Das Trä­nen­haus« (1908), eines ihrer Bücher, das durch­aus einen Neu­druck ver­diente, wird wohl ziem­lich getreu das  Ent­bin­dungs­heim in Erbach bei Ulm sein.

Über die weni­gen in Mün­chen-Schwa­bing ver­brach­ten Jahre sind immer­hin Freund­schaf­ten über­lie­fert. So ver­kehrte sie im Kreis um Ernst von Wolzo­gen, Max Halbe. Am ein­fluss­reichs­ten dürfte wohl der Max-Stir­ner-Apo­lo­get John Henry Mackay (1864–1933) gewe­sen sein, der ihr Fried­rich Nietz­sche nahe­brachte. Allein die­ser Ein­fluss, wie er sich in der lite­ra­ri­schen Urset­zung bei ihrer Umwer­tung der Werte in einer männ­lich domi­nan­ten Welt­ord­nung nie­der­schlägt, müsste einer spe­zi­el­len Dar­stel­lung vor­be­hal­ten blei­ben. Welch geis­ti­ges Umfeld sie in Ber­lin berei­cherte, aus­füllte, bleibt weit­hin im Dun­kel. Selbst dass sie im Kreis der Fried­richs­ha­ge­ner ver­kehrte, geht über eine lapi­dare Fest­stel­lung nicht hin­aus. Einer Par­tei hat sie sich nie ange­schlos­sen. Jedoch gehörte sie zu den Anhän­gern des christ­lich-sozia­len, libe­ra­len Poli­ti­kers Fried­rich Nau­mann (1860–1919) und sei­ner Demo­kra­ti­schen Par­tei. Ins­ge­samt bezog sie Reser­voir aus der bis 1914 wäh­ren­den wil­he­mi­ni­schen Epo­che. Bis in die zwan­zi­ger Jahre ver­öf­fent­licht sie Buch um Buch. Aber in der Wei­ma­rer Repu­blik beginnt ihr Ruhm doch merk­lich zu verblassen.

Die Infla­tion zehrt ihr Ver­mö­gen auf. Der mit der Ver­ar­mung ein­set­zende Ver­öf­fent­li­chungs­zwang lässt sie dabei mit­un­ter ins Tri­vi­al­li­te­ra­ri­sche abglei­ten. Die Rück­kehr nach Wei­mar 1929 dürfte im wesent­li­chen ihrer sozia­len Situa­tion zu dan­ken wie geschul­det sein. Daran ver­moch­ten auch zahl­rei­che Lese­rei­sen wie Unter­stüt­zun­gen sei­tens der Deut­schen Schil­ler­stif­tung unter Gene­ral­se­kre­tär Hein­rich Lili­en­fein wenig zu ändern. Was sie von den ton­an­ge­ben­den Wei­ma­rern unter­schied, war ihre Ableh­nung des Natio­nal­so­zia­lis­mus, im Sinne von Fried­rich Nau­mann trat sie für Völ­ker­ver­stän­di­gung ein, Anti­se­mi­tis­mus lehnte sie von jeher ab. Dabei blieb sie auch nach 1933. So ver­mochte sie sich in die­ser Stadt auch nur in Form einer selbst­ge­wähl­ten, selbst­be­stimm­ten inne­ren Emi­gra­tion zu hal­ten. Nicht zuletzt ist dazu auch zu zäh­len, dass sie bis zum Aus­bruch des Zwei­ten Welt­kriegs Kor­re­spon­den­tin der New York Times blieb.

Zum 75. Geburts­tag zog die pro­mi­nente Frau­en­recht­le­rin, Pazi­fis­tin, Sexu­al­re­for­me­rin Helene Stö­cker (1869–1943), die 1933 emi­grierte, alle Regis­ter in der »Neuen Rund­schau«, als sie in ihrer Wür­di­gung des Romans »Aus guter Fami­lie« resü­mie­rend schrieb: »Dies ohne Sen­ti­men­ta­li­tät ergrei­fend klar geschil­dert und damit das schwere, dumpfe, glück­lose Leben Tau­sen­der von Frauen der gut­bür­ger­li­chen Schich­ten ims Helle gezo­gen, erleich­tert, befreit, hoff­nungs­rei­cher gestal­tet zu haben, das ist Gabriele Reu­ters unver­gäng­li­ches Verdienst.«

Ihr Werk bleibt eine »Selbst­be­frei­ung gro­ßen Stils«. Gleich­zei­tig wurde sie mit ihren auf­rüt­teln­den Ankla­gen und For­de­run­gen nach exis­ten­zi­el­ler Gleich­be­rech­ti­gung zur Bahn­bre­che­rin einer neuen Epo­che. Ihre Wie­der­ent­de­ckung setzte um 1980 ein, wozu vor allem Bei­träge aus den USA sie dann auch im deut­schen Sprach­raum wie­der stär­ker wahr­neh­men lie­ßen. Dies dau­ert an. Bekräf­tigt wird dies von Neu­aus­ga­ben zweier ihrer wich­tigs­ten Bücher. Und eben nicht zuletzt von Annette See­manns exem­pla­ri­scher Bio­gra­fie, die bei allem, was noch zu ent­de­cken sein könnte, fortan als Stan­dard­werk einer zurück­ge­hol­ten bedeu­ten­den Per­sön­lich­keit zur Rate gezo­gen wer­den muss.

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