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Detlef Ignasiak
Das literarische Thüringen, Bucha 2014
Wenn man die von Saalfeld nach Neuhaus führende Bundesstraße hinter dem idyllisch gelegenen Gasthof von Hoheneiche rechterhand verlässt, kommt man in das auf waldiger Höhe liegende W., das fast das ganze 20. Jh. hindurch als Schulort weit über Thüringen hinaus einen Namen hatte.
Die »Freie Schulgemeinde Wickersdorf«, 1906 von Gustav Wyneken und Paul Geheeb gegründet, existierte bis 1945 in den Gebäuden des Domänengutes Wickersdorf. Nach dem Willen ihrer Gründer sollte das traditionelle Lehrer-Schüler-Verhältnis völlig aufgebrochen und die Schule demokratisch regiert werden. Doch schon 1909 verließ Paul Geheeb im Streit das Schulprojekt, während sich Gustav Wyneken mit der Meininger Schulverwaltung anlegte und seine Lehrertätigkeit einschränken musste. Doch behielt Wyneken über die von ihm geleitete Jugendzeitung »Der Anfang« großen Einfluss, bis ihm 1920 sexueller Missbrauch von Schülern vorgeworfen wurde und er seinen Dienst endgültig quittieren musste.
Der Dichter Stefan George schrieb: »Wer aus Wickersdorf kommt, ist hoffnungslos verdorben.« Die kritisierte Wickersdorfer Welt findet ihre Darstellung in Erich Ebermayers (1900–70) mehrfach übersetzten Roman »Kampf um den Odilienberg« (1929), der Gustav Wyneken gewidmet ist, den die FAZ (13. 5. 2012) vor dem Hintergrund der Skandale um die Odenwaldschule (auf die sich der Roman bezieht) als »eine Art Handbuch für Päderasmus« bezeichnet hat. Tatsächlich geht es darin nicht nur um den »Kampf zweier Führer und Vertreter verschiedener Generationen und Weltanschauungen«, sondern auch um »Liebeshändel« zwischen Lehrern und Schülern.
Auch der Naturlyriker Wilhelm Lehmann (1882–1968), dem die Großstadtzivilisation früh fragwürdig geworden war, hat die Wickersdorfer Schule in dieser Zeit (1912–20) als Lehrer erlebt. Empfohlen wurde er von Moritz Heimann, dem legendären Lektor des Berliner S. Fischer Verlages. Seine zwiespältigen Erfahrungen hat er in dem Roman »Der Bilderstürmer« (1916) niedergelegt. In der literarischen Gestalt des Ernst Magerhold porträtiert er den anfangs bewunderten, später als Dämon empfundenen Wyneken. In seinem Kündigungsschreiben lässt Lehmann diesen wissen: »Falls in Wickersdorf nicht so gearbeitet wird, dass die Jugend nicht auf den Punkt gebannt bleibt, wo sie mit bloßen Ideen leichter zu verkehren weiß als mit vollkommenen, irdisch vollkommenen Produkten, führt Ihre Revolutionierung ins Leere.«
Trotz der Skandale erlebt die Schule in den 20er Jahren eine Blütezeit, in der Martin Luserke, der zusammen mit dem Musikpädagogen und Komponisten August Halm (1869–1929), 1906 bis 1910 und 1920 bis 1929 als Lehrer in Wickersdorf ein hohes musisches Niveau durchsetzen konnte, zu einer Identifikationsfigur wurde, wie auch Peter Suhrkamp, der schon vor dem Ersten Weltkrieg und von Herbst 1920 bis August 1921 Lehrer in Wickersdorf war und die Verhältnisse gut kannte.
Während die Schule in der Nazizeit wenigstens teilweise ihre Unabhängigkeit bewahren konnte, gelang dies nach 1945 nicht mehr. Sie blieb zwar Internatsschule, wurde aber völlig gleichgeschaltet, woran auch der aus Bad Frankenhausen stammende Rainer Kerndl Anteil hatte, als er 1952–1954 hier als hauptamtlicher FDJ-Sekretär arbeitete und sein erstes Buch verfasste (»… und keiner bleibt zurück«, 1954). In Kerndls Agitationsroman für den Aufbau der FDJ spielt Wickersdorf und seine Geschichte keine Rolle. Als Kerndls Mitgliedschaft in der Waffen-SS bekannt wurde, trennte man sich von ihm, rehabilitierte ihn aber schon 1955. 1964 erfolgte die Umwandlung in eine Spezialoberschule zur Vorbereitung auf ein Russischlehrer-Studium. Diese Zeit beschreibt Ines Geipel, die bis 1977 Schülerin in Wickersdorf war, in ihrem im Jahr 2000 erschienen Roman »Das Heft«.
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