Zum 75. Geburtstag des Schriftstellers Jürgen K. Hultenreich

Person

Jürgen K. Hultenreich

Ort

Erfurt

Thema

Aktuelles

Autor

Jens Kirsten

Alle Rechte beim Autor. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Im Kof­fer nur Steine 

Von Jens Kirsten

 

Schon bei der Über­schrift wird es schwie­rig. Nennt man Jür­gen K. Hul­ten­reich einen Schrift­stel­ler, unter­schlägt man viel. Wenn man ihm gerecht wer­den will, kommt man nicht umhin zu sagen: Er ist ein Mul­ti­ta­lent. Jugend-DDR-Meis­ter im Hoch­sprung, ein begna­de­ter Schach­spie­ler, Erfur­ter Stadt­meis­ter, 1996 Ber­li­ner A‑Meister. Leicht vor­stell­bar, dass er sei­nes stän­di­gen Erfolgs beim simul­ta­nen Schach­spiel gegen hoff­nungs­volle Kan­di­da­ten über­drüs­sig wurde. Ob ihm sein zeich­ne­ri­sches Talent in die Wiege oder viel­mehr ins Schau­fens­ter gelegt wurde – er absol­vierte eine Lehre als Gebrauchs­wer­ber in Erfurt – sei dahin­ge­stellt. Er war Bas­sist der Erfur­ter »Modern Blues Band«. Spä­ter absol­vierte er ein Fach­schul­stu­dium für Biblio­theks­we­sen in Leip­zig, wo der B.-Traven-Forscher Rolf Reck­na­gel als Dozent für Welt­li­te­ra­tur zu sei­nen Leh­rern gehörte.

Ein »früh übt sich« ist für Hul­ten­reich unzu­tref­fend. Er ent­deckte sein zeich­ne­ri­sches Talent erst spät in sei­nem Leben wie­der und hatte als Tus­chör – er zeich­net nur auf Blät­tern im Post­kar­ten­for­mat – ad hoc beacht­li­chen Erfolg. Zahl­rei­che Aus­stel­lun­gen bezeu­gen das. Neben­bei bemerkt: Es gibt einen klei­nen Film, der Hul­ten­reich in einer Gruppe Maler bei einem Plein­air zeigt. Ein­zig er zeich­net, die ande­ren schauen zu. Auf seine Frage an die Umste­hen­den, ob sie nicht auch zeich­nen wol­len, ant­wor­ten sie »Wir haben Fotos gemacht«. Hul­ten­reich dreht sich ins Bild und sagt: »Schöne Maler!«.

Dass er ein uner­müd­li­cher Arbei­ter am Zei­chen­tisch ist, bele­gen etli­che Tau­send Tusche­zeich­nun­gen. Wer sich ein Bild machen möchte, dem sei das von ihm mit kubinesk anmu­ten­den Zeich­nun­gen illus­trierte Ger­hard-Haupt­mann-Buch »Das Meer­wun­der« emp­foh­len (2012 Edi­tion A. B. Fischer) und vor allem das gemein­sam mit Harald-Alex­an­der Klimek ent­stan­dene Künst­ler-Werk-Buch »Dein Rit­ter Hul­ten­reich«, das im Novem­ber erschei­nen wird.

Vor allem jedoch ist Hul­ten­reich ein begna­de­ter Erzäh­ler. In Eck­knei­pen, beim Fla­nie­ren auf der Straße, vor­zugs­weise im Ber­li­ner Wed­ding, wo er seit 1984 lebt, lau­fen ihm die Geschich­ten und Bil­der der Groß­stadt zu, die in sei­nen Tex­ten zu eige­nem Leben erweckt wer­den, wobei er sich, ins­be­son­dere in sei­nem Band »West­aus­gang« von 2005, mit spie­le­ri­scher Leich­tig­keit zwi­schen Ost- und West­deutsch­land bewegt. Nicht zu ver­ges­sen sind seine Erzäh­lun­gen, die in Erfurt, genauer im Erfur­ter Milieu spie­len. Im Erzäh­lungs­band »West­aus­gang« kün­den Texte wie »Weih­nachts­ge­schenke«, »Rote Turn­ho­sen« oder »Gött­li­ches« bereits von einer unan­ge­pass­ten Kind­heit. Hul­ten­reich nimmt den schier uner­schöpf­li­chen Erzähl­fa­den sei­ner Erfur­ter Nach­kriegs­kind­heit und sei­ner dort ver­leb­ten Jugend immer wie­der auf und webt so ein dich­tes erzäh­le­ri­sches Netz, das Erfurt in einem lite­ra­risch wenig bekann­ten Licht zeigt.

Mitte der sech­zi­ger Jahre wird er nach einem ille­ga­len Grenz­über­tritt in der ČSSR ver­haf­tet und ver­bringt ein hal­bes Jahr in Unter­su­chungs­haft der Staats­si­cher­heit, mit zeit­wei­li­ger Inter­nie­rung in der Psych­ia­tri­schen Kli­nik Pfaf­ferode bei Mühl­hau­sen. Er über­steht die Dik­ta­tur, Ver­fol­gung, Gefäng­nis, Psych­ia­trie, Medi­ka­men­ten­fol­ter, Elek­tro­schocks, Flucht. Er wird nicht ver­rückt, viel­leicht, weil er schon ver­rückt ist. Sein Schil­ler-Spleen ret­tet seine Seele.

Davon erzählt er im Roman »Die Schil­ler­gruft«, in dem er ein ein­dring­li­ches Psy­cho­gramm der Gesell­schaft im Klei­nen und Gro­ßen zeich­net, das sprach­lich und bild­lich seine unver­wech­sel­bare Hand­schrift trägt. Des­sen Stärke liegt in der Viel­schich­tig­keit sei­ner Figu­ren. Ärzte, Ver­neh­mer, Mit­ge­fan­gene, Mit­in­sas­sen. Der Autor begeg­net ihnen mit Gerech­tig­keit und dem genauen Blick für das Detail. Nicht zuletzt aus dem Umstand, dass er seine Figu­ren nicht ohne Liebe ent­wer­fen und gestal­ten kann – das ist jeder der Figu­ren anzu­mer­ken –, erklärt sich der lange zeit­li­che Abstand zwi­schen selbst Erleb­tem und dem Erschei­nen des Romans. Die­ser wird so zu einer ein­drucks­vol­len Para­bel auf eine kranke Gesell­schaft, wie man sie sel­ten in der deut­schen Lite­ra­tur fin­det. Die DDR ist in die­sem Roman auch Meta­pher für etwas, das immer wie­der pas­sie­ren kann: Das Ent­glei­sen einer Gesell­schafts­uto­pie in die kri­mi­nelle und patho­lo­gi­sche Per­ver­sion. Erst Ende der neun­zi­ger Jahre ver­mochte er mit dem Abstand von drei­ßig Jah­ren seine Erfah­run­gen mit dem Rechts­staat DDR zu ver­ar­bei­ten. 2001 im Weid­ler Ver­lag erschie­nen, fris­tete der Roman ein Schat­ten­da­sein, bis Ange­lika und Bernd Fischer ihn 2013 in erwei­ter­ter Fas­sung in ihrer Edi­tion A. B. Fischer neu edierten.

Vor und nach die­sem Aus­nahme-Roman legte Jür­gen Hul­ten­reich meh­rere Bände mit Erzäh­lun­gen und Apho­ris­men vor. Dane­ben schrieb er drei sehr lesens­werte Bücher über (das lite­ra­ri­sche) »Vene­dig«, »Das Bam­berg des E.T.A. Hoff­mann« und mit »Das halbe Leben« eine ein­drucks­volle Hölderlin-Biographie.

Täg­lich schreibt Jür­gen Hul­ten­reich Tage­buch, meist auf zwei­fach gefal­te­ten A‑4-Blät­tern, mit­un­ter auf Rück­sei­ten von Pro­gramm­zet­teln oder was sonst gerade zur Hand ist. Mit Blick auf die große Zahl sei­ner Tusche­zeich­nun­gen lässt sich erah­nen, dass die­ses Tage­buch eine beacht­li­che Zahl von Ord­nern füllt. Als er sich 1984 aus der DDR ver­ab­schie­dete, nahm er ein ein­zi­ges Gepäck­stück mit: einen Über­see­kof­fer vol­ler Steine. Unmit­tel­bar nach sei­ner Aus­reise in den Wes­ten erschien im Basis Ver­lag der Gedicht­band »Lang­sam rück­wärts ist eine kräf­tige Gang­art«. Dass Hul­ten­reich auch wei­ter­hin Gedichte schrieb, sagte er mir ein­mal, als wir zu einer gemein­sa­men Lesung unter­wegs in Thü­rin­gen waren. Oder war’s bei einem der Biere danach? Jür­gen Hul­ten­reich wün­sche ich von Her­zen alles Gute zu sei­nem 75. Geburts­tag und sei­nen Lesern einen wei­te­ren Gedicht­band aus sei­ner Hand. Ich werde am 24. Okto­ber in Wei­mar ein Bier im vis-a-vis von Goe­the gele­ge­nen »Schma­len Hand­tuch« auf seine Gesund­heit trinken.

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