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Wulf Kirsten
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Am 12. April 2022 wurde der Übersetzer und Nachdichter Stéphane Michaud mit dem Prix Nelly Sachs 2022 – für die Nachdichtung des Gedichtbandes »erdanziehung« / »attraction terrestre« des Dichters Wulf Kirsten in der Maison de l’Amérique latine in Paris ausgezeichnet. Wir drucken an dieser Stelle das Grußwort von Wulf Kirsten zur Preisverleihung ab. Der Thüringer Literaturrat gratuliert Prof. Stéphane Michaud zu dieser Ehrung.
Übersetzer haben es in der literarischen Welt doppelt schwer. Sie müssen mit den Vorgaben der Werke, die sie übersetzen, zurande kommen, Sprache und ihre Besonderheiten in die eigene übersetzen wie der Fährmann ein Boot über den Fluss. Sie sind Lotsen, die die Untiefen der fremden Sprache ebenso kennen wie die der eigenen. In den übersetzten Werken finden sie meist nur randläufige Erwähnung, über die Würdigung ihrer Verdienste in der Öffentlichkeit möchte ich gar nicht reden.
Das Wort Übersetzen birgt eine gravierende Unschärfe, wenn es um das Übersetzen von Poesie geht. Präziser – und mir daher viel lieber – ist der Begriff des Nachdichters. Geht es doch bei einer Nachdichtung nicht um die klassische Übersetzungsleistung etwa einer Erzählung oder eines Romans, wo man mit Kompensationstechniken weit besser arbeiten kann, als auf dem Feld der Poesie. Bei einer Nachdichtung ist, nach der eigentlichen Übersetzungsleistung noch die Leistung des Nachdichters zu erbringen, der in seiner Muttersprache selbst zum Dichter wird, der selbst Dichter ist. In diesem Sinne ehren Sie, ehren wir heute nicht nur den Übersetzer Stéphane Michaud, sondern auch den Dichter. Wie schwer er es dabei hat, wenn er Gedichte von Wulf Kirsten nachdichtet, vermögen Außenstehende kaum zu erahnen. Abgetauchte Begriffe, die im Deutschen längst außer Gebrauch geraten sind, auf eine vergleichbare Ebene im Französischen zu heben, ist übersetzerische und poetische Kärrnerarbeit.
Des Französischen nicht mächtig, kann ich die Qualität der Nachdichtungen nicht überprüfen, jedoch versicherten mir zahlreiche Freunde, ich nenne stellvertretend für andere Prof. Dr. Gerhard Kaiser und Prof. Dr. Edoardo Costadura, dass Stéphane Michauds Übertragungen meiner Gedichte wie auch des Prosabandes »Die Prinzessinnen im Krautgarten« / Les Princesses au jardin potager« übersetzerische und dichterische Glanzleistungen sind.
Welch ein Glück, lieber Stéphane, für mich, für uns, dass wir einander begegnet sind. Soweit mich meine Erinnerung nicht trügt, gingst Du den ersten Schritt. Entstanden ist daraus eine europäisch grundierte Freundschaft, die längst weit über das Dichterische hinausgeht. Abgesehen von wenigen, zu wenigen Besuchen in Paris, zahlreichen Begegnungen in Weimar, zuletzt in meinem Geburtsort Klipphausen, Treffen in der Provence, wo ich mit Sofia, meiner Frau, Urlaub in Segurét machte und wir Dich und Deine Frau Henriette in Suze-la-Rousse besuchten. Unsere Frauen, die uns tragen und ertragen (Schriftsteller sind, versunken in ihre Arbeit, keine sehr sozialen Wesen), schließe ich heute in meinen Dank ein, der vor allem Dir gilt, lieber Stéphane.
Ohne Übertreibung kann und muss ich sagen, Du bist »mein« Nachdichter und Übersetzer. Denn in keine andere europäische und außereuropäische Sprache ist so viel meines literarischen Werkes übersetzt und nachgedichtet worden wie ins Französische. Fast möchte ich sagen, dass ich dank Deiner Leistung heute in Frankreich mehr rezipiert werde als in Deutschland. Doch ich möchte nicht kokettieren.
Stéphane Michaud ist einer, der nicht ablässt von meinen Gedichten, auch nicht vor den schwierigsten, kompliziertesten Wortgebilden zurückschreckt, in die mundartliche Relikte, entlegenste Begriffe einfließen. Um die Schwierigkeiten, vor denen der Nachdichter dabei steht, etwas zu erläutern, erlaube ich mir ein Wort zu meinem poetischen Verfahren: Mitunter gibt mir ein Wort den Anstoß, für die Bewegung des Gedichts auf einen starken Schluss zu. Sehr früh erkannte ich die Verben als wichtigste Wortart, die das Gedicht »bewegt«, ihm Tempo gibt und Spannung erzeugt. Ich setzte auf starke Verben, auf Verben der Bewegung. Gelungen gilt mir ein Gedicht, das auf ein Gleichnis hinausläuft. Metaphern, Oxymora und andere Stilmittel sind neben Wortbildungen und Wortneuschöpfungen entscheidend für den Klang, für die »Färbung« der Vokale.
Nie hat Stéphane Michaud als Übersetzer locker gelassen, wenn es galt, Wortbedeutungen zu ergründen. War ihm auch manche sprachliche Besonderheit eine Herausforderung, so verstand und versteht er es als profunder Kenner der deutschen Sprache und als Mittler zwischen zwei Kulturen all diese Fährnisse des Übersetzers und Nachdichters zu meistern und in Poesie aufzuheben. Wie oft haben wir nachts stundenlang versucht, etwas deutlich, deutlicher, verständlicher auszudrücken durch Umschreibungen.
Stéphane Michaud, der heute als Übersetzer und Nachdichter von Ihnen ausgezeichnet wird, ich beziehe diese Auszeichnung nicht nur auf den letzten Band »erdanziehung« / »attraction terrestre, sondern auf alle von ihm nachgedichteten und übersetzten Bände wie die bereits erwähnten Kindheitserinnerungen »Les Princesses au jardin potager«, den Essayband »Graviers« oder den Gedichtband »fliehende ansicht« / »images filantes«, der bei La Dogana in Genéve erschien.
Wenn mich nicht all meine Erinnerungen täuschen, begegneten wir uns zum ersten Mal anlässlich meiner ersten Lesung in Paris. Er war damals noch als Professor für Komparatistik an der Sorbonne Nouvelle tätig. Ein Kapitel für sich wären die Erinnerungen an unsere Begegnungen in Paris, in der Provence und vor allem in Weimar.
Nicht zu vergessen die Journale, in denen er meine Gedichte den französischen Lesern vorstellte: mehrfach in »PO&SIE« unter Michel Deguy (1930–2022), in »l‘Europe«, was auch dessen Redakteur Jean Baptiste Para zu danken ist.
Liebe Jury, liebe Preisstifter, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich danke ihnen, dass ich mich mit einigen Worten des Dankes und der Erinnerung an Sie wenden durfte. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Wahl, Professor Stéphane Michaud als Literaturvermittler von europäischem Rang, als Übersetzer und Nachdichter mit diesem Preis zu ehren und zu würdigen.
Lieber Stéphane, ich gratuliere Dir von ganzem Herzen zu diesem schönen Preis, mit dem Du heute geehrt wirst und der auch mich ehrt. Die Sprache der Poesie ist eine internationale Sprache, in ihr und mit ihr sprechen wir, über alle Grenzen und Kriege hinweg, miteinander immer ein menschliches Wort.
Abb.: Foto privat.
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