Wolfgang Hilbig – »Ich«

Personen

Wolfgang Hilbig

Ralf Eggers

Thema

Gelesen & Wiedergelesen

Autor

Ralf Eggers

Thüringer Literaturrat e.V. / Die Reihe »Gelesen & Wiedergelesen« entstand mit freundlicher Unterstützung der Thüringer Staatskanzlei.

Wie­der­ge­le­sen von Ralf Eggers

 

Vor eini­gen Jah­ren zeigte ein west­deut­scher Freund in einem ost­deut­schen Lite­ra­tur­kreis Urlaubs­dias. Die berüch­tigte Form klein­bür­ger­li­cher Gemüt­lich­keit zei­tigte einen heil­sa­men Erin­ne­rungs­schock. Denn jener Freund, ein enga­gier­ter Lin­ker, hatte in den frü­hen Acht­zi­gern die DDR bereist – und dabei foto­gra­fiert, was wir nie­mals foto­gra­fiert hat­ten: Bewohnte Rui­nen, schä­bige Aus­la­gen, absurde Pro­pa­ganda, den gan­zen all­täg­li­chen Ver­fall. Die ost­deut­sche Frau des Vor­tra­gen­den fasste unse­ren Ein­druck zusam­men. »Bitte sagt, dass es nicht so schlimm gewe­sen ist!« Dass die DDR, was immer man poli­tisch über sie sagen muss, so scheiße aus­sah, hat­ten wir vergessen.

In Wolf­gang Hil­bigs Tex­ten sieht die DDR als Kulisse eher noch schlim­mer aus: zer­stört, ver­wüs­tet, ver­gif­tet, stin­kend. Das hat sicher­lich mit Hil­bigs Berufs­bio­gra­phie zu tun. Wer als Hei­zer und in der Braun­kohle arbei­tete, sah das Land anders als ein Aka­de­mie­mit­glied. Woran auch immer wir uns erin­nern, an das Para­dies der eige­nen Jugend, den Schau­platz der ers­ten Liebe, an schlech­ten Rot­wein oder die erste West­platte, an das Land der ver­pass­ten Chan­cen oder mei­net­we­gen an ein Straf­la­ger: In dem Land, das Wolf­gang Hil­big uns zeigt, würde man nicht Urlaub machen, geschweige denn leben wol­len. Die Häß­lich­keit der DDR, die wie wahre Schön­heit von innen kam, ist so ein­präg­sam viel­leicht erst wie­der anhand der Küchen­ab­fälle in Lutz Sei­lers Kruso geschil­dert worden.

Rezen­sen­ten haben zu Hil­bigs Werk wie­der­holt ver­merkt, die­ser Autor ver­wei­gere sei­nem Leser »Erlö­sung«, wor­un­ter man sich offen­bar ein Happy End als schmack­haf­tes Des­sert vor­stellt. Damit konnte er in der Tat nicht die­nen. Wären seine Texte Lebens­mit­tel, müsste man sie sich als das Gegen­teil von kuli­na­risch wert­vol­ler Kost vor­stel­len – zu fett, zu scharf, zu unge­sund. In »Ich«, sei­nem 1993 erschie­nen und bei wei­tem umfang­reichs­ten Text, fin­det sich viel davon, der Dreck, die soziale Ver­wahr­lo­sung im Ost­ber­lin der Acht­zi­ger, die auch eine Stadt der Säu­fer, der Gestran­de­ten, der ver­ges­se­nen Alten und geis­tig Ver­wirr­ten war. Man könnte Hil­bigs Bücher mit den Urlaubs­fo­tos mei­nes Freun­des illustrieren.

»Ich« berührte bei sei­nem Erschei­nen 1993 eine offene Wunde. Es war die Zeit, in der DDR-Bür­ger ver­kraf­ten muss­ten, dass ihr Land nicht nur häss­lich, son­dern auch von sys­te­ma­ti­scher Denun­zia­tion über­zo­gen war. »Stasi« war (neben »Mauer«) Anfang der Neun­zi­ger der Kampf­be­griff zur DDR-Bewäl­ti­gung, auf den sich fast alle eini­gen konn­ten. Zugleich ver­langte der Feuil­le­ton gebie­te­risch (als hätte er etwas zu gebie­ten) den ulti­ma­ti­ven DDR-Roman, eine Unter­gat­tung, von der es ja mitt­ler­weile eher zu viel als zu wenig gibt. Hil­big, ein Autor, der nicht nach dem Markt und schon gar nicht nach Les­bar­keit schielte, hatte mit einem Buch gleich zwei Voll­tref­fer gelan­det – einen DDR- und einen Sta­si­ro­man. Die Geschichte des Sta­si­in­for­man­ten und ver­hin­der­ten Autors Cam­bert und sei­nes Gegen­spie­lers, des non­kon­for­mis­ti­schen Lyri­kers und Ope­ra­ti­ven Vor­gangs »Rea­der« ist ein span­nen­der, wenn auch viel­leicht etwas unter­kom­ple­xer Plot. Beim Wie­der­le­sen konnte ich mich aller­dings nicht des Ein­drucks erweh­ren, dass ein Roman nach klas­si­schen Kom­po­si­ti­ons­re­geln nicht Wolf­gang Hil­bigs Form war. Sein an der Lyrik geschul­ter Stil ist nicht gemacht für Erzäh­lung, Span­nung und Figu­ren­ent­wick­lung. So dicht und expres­siv diese Prosa ist, so schwer­blü­tig wirkt sie über meh­rere hun­dert Sei­ten. Aber das ist nur ein for­ma­ler Ein­wand und zudem Geschmacks­sa­che. Das Haupt­pro­blem scheint mir beim heu­ti­gen Wie­der­le­sen zu sein, dass Wolf­gang Hil­big, der die Stasi zu has­sen allen Grund hatte, ver­sucht hat, sie zu lite­ra­ri­sie­ren. Das beginnt mit alber­nen Kalau­ern (oder wie er schrei­ben würde »voll­bär­ti­gen Wit­zen«) wie dem Sta­si­mann Was­ser­stein, der sich Feu­er­bach nennt. Das setzt sich fort in einer Sprach­kri­tik (die Geni­tiv­ket­ten), die man schon anderswo gele­sen hat. Und das endet in düs­te­rer Sym­bo­lik, mit der die Stasi zugleich dämo­ni­siert und ent­larvt wer­den soll (die end­lo­sen Kel­ler­wan­de­run­gen des Sta­sispit­zels, sein unter­ir­di­scher Stütz­punkt in der Nor­man­nen­strasse). Die Lite­ra­ri­sie­rung der Stasi zeigt zwar ihrer Per­fi­die, nicht aber ihre Bana­li­tät. So viel Sprach­kunst tut einem so schä­bi­gen Gegen­stand zu viel Ehre an. Man könnte viel­leicht sagen, die Stasi sei ein zu schwa­cher Geg­ner für den gro­ßen Dich­ter Wolf­gang Hil­big gewesen.

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