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Ulrich Kaufmann
Thüringer Literaturrat e.V.
In keiner deutschen Stadt lebte der umtriebige Dramatiker, Lyriker, Erzähler und Essayist Harald Gerlach (1940–2001) länger als in Erfurt: Es waren 25 Jahre. Harald Schnieber (so sein Geburtsname) wurde in dem schlesischen Töpferstädtchen Bunzlau geboren. Auf der Flucht verschlug es die Familie in das südthüringische Grabfeld, nach Römhild. In Meiningen machte Schnieber Abitur und schloss an der Leipziger Universität ein Journalistik-Studium an. Die stark ideologisierte Ausbildung behagte ihm nicht. Und so verließ er im Januar 1961 – bei noch offener Grenze – die DDR, um auf Goethes Spuren Italien kennenzulernen. Im Gegensatz zu dem Großen aus Weimar war er bettelarm und nagte nicht selten am Hungertuche. Im März des gleichen Jahres wurde er bei seiner Rückkehr an der »grünen Grenze« gefasst. Nach einer Untersuchungshaft bekam er Gelegenheit, sich in der Praxis zu »bewähren«. Dies tat er im Steinbruch und anschließend in Erfurt als Totengräber.
Der künftige Dichter war seit Mitte des Jahres 1961 als Hof- und später als Bühnenarbeiter am Städtischen Theater Erfurt tätig. Nach einem Fernstudium schaffte der Bühnenarbeiter 1968 den Sprung zum Theatermeister. In Erfurt verliebte sich Harald Schnieber in die Opernsängerin Marlott Gerlach, deren Familiennamen er seit der Eheschließung 1968 trug. Der Namenswechsel war Teil seiner Künstlerwerdung. Den literaturbesessenen Bühnenmeister interessierten vor allem die künstlerischen Prozesse auf den »Brettern, die die Welt bedeuten«. Aus dem Dramaturgen und literarischen Mitarbeiter des Theaters (seit 1970), der viele Produktionen anderer Autoren betreute, wurde Harald Gerlach nach und nach zum Hausautor. Acht seiner dramatischen Texte erlebten in Erfurt ihre Uraufführung.
Am Beginn stand für ihn 1968 das Libretto für die Kinderoper »Das kalte Herz«, die zunächst in Altenburg zu sehen war. Schon seine nächste größere Arbeit am Erfurter Theater verursachte beträchtliche Unruhe: 1979 kam das Stationendrama »Die Straße« zur Uraufführung. Im Zentrum des Schauspiels steht sein schlesischer Landsmann und »Kollege« Johann Christian Günther (1695–1723), der mit 27 Jahren in Jena elendig zugrunde ging. Auch in Gedichten und in der Prosa (»Vermutungen um einen Landstreicher«, 1978) hat er sich mit dem Schicksal des von Goethe geschätzten Poeten beschäftigt. Nicht zuletzt durch seine Liebes- und Studentenlieder machte sich der Frühaufklärer einen Namen. Günthers verbriefte, jedoch gescheiterte Bewerbung am Hofe August des Starken in Dresden wurde nach der Biermann-Ausbürgerung von geflissentlichen Kulturaufpassern als ein Gleichnis für das äußerst angespannte Verhältnis zwischen Geist und Macht in der DDR verstanden. Andere glaubten, das Stück habe mit dem Weggang des Poeten Reiner Kunze zu tun, der die DDR 1977 verlassen hatte. Intern hat Gerlach dies selbst eingeräumt. Die Staatssicherheit – auch hier der Eckermann des Dichters – hat dies in Schriftform festgehalten.
Richtigen Zoff gab es mit dem 1984 uraufgeführten Schauspiel »Die Schicht« – mit Manfred Heine in der Hauptrolle. Gerlach griff auf einen mehrfach gestalteten Stoff zurück: Das Leben des Vorzeigearbeiters Adolf Hennecke. Dieser Bergmann hatte 1948 in einer Schicht 387 Prozent der Norm geschafft. Der Dramatiker demontiert die Heldenlegende und zeigt, wie Heneckes Kollegen dessen Leistung als »Arbeiterverrat« empfinden. Der Held – auch das offenbart Gerlach – verfällt dem Alkohol. Der Verfasser dieser Zeilen hat an Publikumsdebatten zur »Schicht« in Erfurt teilgenommen. Gerlachs Stück – von der Theaterleitung als Beitrag zum 35. Jahrestag der DDR geplant – wurde aus inhaltlichen und ästhetischen Gründen verspätet zur Premiere gebracht. Diese Querelen trugen dazu bei, dass Gerlach seine Theaterarbeit in Erfurt zu beenden trachtete. Im Jahre 1984 hielt er die Belastungen am Erfurter Theater nicht mehr aus und katapultierte sich selbst sich in die Freiberuflichkeit. In dem kleinen Roman »Gehversuche (1985) hat der Autor versucht, seine bitteren und ihn verstörenden Erfahrungen mit dem (Erfurter) Theater aufzuarbeiten: »Das Theater, auf das Georg (das Alter Ego Gerlachs – U.K.) seine Hoffnungen gesetzt hatte, fand er nicht. Der Wind drehte und blies auch hier nicht in den Rücken. Georg kam in ein Unternehmen, das ähnlich geleitet wurde wie die Welt, die er verlassen hatte. Von Finanzplänen, von Anlässen und Gedenktagen. Von den sorgfältig geknüpften Beziehungen der Protagonisten. Von den Erwartungen eines dahindämmernden Provinzpublikums.« (S. 95)
Bezeichnend ist, das sich Gerlach mehr und mehr der Oper zuwandte: »Als in den siebziger Jahren das Sprechtheater in der DDR zunehmend wesensfremde Aufgaben übernehmen zu müssen glaubte (Informationspflicht etwa, die anderswo nicht hinlänglich eingelöst wurde; oder die Druckausgleichsfunktion des Kabaretts), da wuchs in mir die Sehnsucht nach der Oper, die von solchen punktuellen Anfechtungen weitgehend verschont blieb und darum zu komplexerer Wirkung befähigt schien. Ich schrieb ein Libretto und suchte einen Komponisten.« (Theatermann, S. 74) Diesen Partner fand Gerlach in Karl Ottomar Treibmann, der unter anderem sein Libretto »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« vertonte. Gerlachs Text beruht auf dem bühnenwirksamen Lustspiel von Christian Dietrich Grabbe (1801–1836), der neben Georg Büchner als wichtigster Dramatiker des Vormärz gilt. Auch diese Inszenierung erwies sich 1987, als die DDR-Gesellschaft in ihren Strukturen unübersehbar erstarrt war, als ein brisantes kulturpolitisches und künstlerisches Ereignis.
Es gab auch Menschen, die die Arbeit des widerständigen Autors zu schätzen wussten: Der Rat des Bezirkes Erfurt verlieh ihm 1985 den Louis-Fürnberg-Preis. Diese in Weimar verliehene Auszeichnung war der erste Literatur-Preis in seinem Dichterleben.
Für die Spielzeit 1986/1987 wechselte Gerlach als dramaturgischer und literarischer Berater an das Theater Rudolstadt – gemeinsam mit dem Schauspieler Manfred Heine –, der dort zum Intendanten berufen wurde. Das aber sind andere Geschichten…
Der Theatermann Gerlach arbeitete – auch während seiner Erfurter Periode – gewissermaßen zweigleisig. Nach und nach entwickelte sich der nicht arrivierte Autor zu einem Lyriker und Erzähler von Rang. Entscheidend wurde er dabei von dem Weimarer Dichter Wulf Kirsten unterstützt, der auch Lektor des Aufbau-Verlages war. Aus dem Mentor wurde der Freund Kirsten. Gerlachs Debüt war 1972 ein »Poesiealbum«, ein Jahr später erschien der erste Gedichtband »Sprung ins Hafermeer«. In seinen lyrischen Texten hat Harald Gerlach der schönen Stadt Erfurt immer wieder literarische Denkmäler gesetzt: In dem Gedicht »Zum alten Schwan« erinnert er an Christoph Martin Wieland, der in diesem Gasthaus als Erfurter Professor lebte. In dem lyrischen Text »Barfüßer Ruine« schreibt der Poet über die berühmte Bettelordenskirche aus dem 14. Jahrhunderts, die 1944 durch Bomben zerstört wurde. Auch von dem Gasthaus »Hohe Lilie« ist die Rede. Hier wohnte während des Dreißigjährigen Krieges mehrfach der Schwedenkönig Gustav Adolf. In diesem Hause erreichte ihn die Nachricht vom Tode seiner Frau. In diese Gedichtgruppe gehört auch der lyrische Text »Engelsburg«, einem Ort, an dem Leute tätig waren, die als Verfasser der »Dunkelmännerbriefe« gelten. Diese Männer waren an einem Werk beteiligt, das zur Weltliteratur gehört. Intime Erfurt-Kenner, zu denen sich der Autor dieser Zeilen leider nicht rechnen kann, werden weitere Gedichte finden, die sich mit der Stadt an der Gera beschäftigen. Grund genug, die fünf Gedichtbände aus Gerlachs Feder, die alle im Berliner Aufbau-Verlag erschienen, in die Hand zu nehmen.
Gerlachs Debüt als Prosaautor war 1976 die Erzählung »Das Graupenhaus«. Es war ein Paukenschlag, obgleich viele dies erst später erkannten. Er schildert dicht und präzise, was er als Kind und Jugendlicher im Römhilder Schloss erlebt hatte. Hier war in der Nachkriegszeit ein Jugendwerkhof untergebracht, den sein Vater geleitet hatte. Das DDR- Fernsehen hat diesen Stoff (unter Mitwirkung Rolf Hoppes) 1982 verfilmt. Weitere Gedichtbände, Novellen und ein Hörspiel folgten in jenen Jahre.
In Rudolstadt hatten die Gerlachs 1992 ihre Wohnung verloren. Ein zweites Mal wurde der Dichter de facto aus seiner Heimat vertrieben. In Folge des gesellschaftlichen Umbruchs 1989, den Gerlach begrüßte, wurden dem Dramatiker viele Theaterprojekte und Verträge, die er unter anderem mit dem Weimarer Nationaltheater und der Semperoper abgeschlossen hatte, gekündigt. Darunter war auch das für 1991/92 geplante Riesenspektakel zum 1250. Erfurter Stadt-Geburtstag und zum Faust-Jubiläum. Die Uraufführung fiel der »Wende« und der neu besetzten Theaterintendanz in Erfurt zum Opfer. Als »Vorstudie« ist folgender »Mosaikstein« aus dem Jahre 1979 überliefert:
FAUST IN ERFURT
Die frühe Neugier
meiden
der Krämerbuden über dem Fluß,
umgehen den Weg, karges Wissen
in dunklem Talar
zu verhüllen.
Nicht der Ruf
war mir voraus von
trefflich ingenium und
memoria, eher
das Kalendermachen.
Und hat noch lang kein
End, daß die Weisheit
Auf Jahrmärkten
Dienst nehmen muß.
Traufenständige Gassen ziehen sich
Dächer über das Ohr
Vor dem Licht. Ich werd auch hier
Ein Schauspiel geben müssen,
vielleicht den Homerum:
Die Welt will das Wirkliche
Nicht benannt, nur
chaldäisch oder als
nicromantiae, coniurationes
dunkel beschworen.
Im Juni 2001 ist Harald Gerlach in Leimen bei Heidelberg an einem Hirntumor gestorben. Begraben wurde der Poet im südthüringischen Grabfeld, in Römhild, seiner Wahlheimat.
Die Thüringer Kulturstiftung verleiht in Erfurt jährlich ein Harald-Gerlach-Stipendium.
Literatur:
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